15
Die Damentoiletten befanden sich im rückwärtigen Teil der Bar. Die Tür knallte hinter mir mit einem metallischen Geräusch zu; gleichzeitig hörte ich, wie sie abgeschlossen wurde. Mir stockte der Atem und ich wirbelte herum. Ein Mann lehnte an der Tür, die Hand auf dem Griff.
Mein erster und einziger Gedanke war, dass Jack und Alex sich getäuscht hatten. Die Geiselnehmer waren nicht nach Mexiko geflohen. Und jetzt hatten sie mich gefunden. Das war der Anfang des Vergeltungsangriffs, vor dem mich Alex gewarnt hatte.
Doch dann drehte sich der Mann um und ich erkannte ihn: Es war der seltsame Typ vom kleinen Supermarkt. Der durchgeknallte Nudelmann. Ich wich bis zum Waschtisch zurück, während mein Blick hektisch durch den Raum wanderte, auf der Suche nach etwas, was ich ihm ins Gesicht schleudern konnte. Aber da war nichts als ein Stapel Papiertücher, und die hätten nicht viel Schaden angerichtet.
»Ich brauche deine Hilfe«, sagte der Mann und kam auf mich zu.
»W-wer sind Sie?«, stotterte ich.
»Ich …« Er trat einen Schritt näher. Ich presste mich gegen den Waschtisch, blickte zur Tür und konzentrierte mich darauf, das Schloss zu öffnen. Er bemerkte es nicht, sondern kam noch etwas näher, die Hände beschwichtigend erhoben. Der Bolzen im Türschloss bewegte sich schon.
»Ich bin Key. Ich brauche deine Hilfe, Lila.«
Der Bolzen blieb stehen, als ich meinen Namen hörte. Er schaute mich unentwegt an.
»Woher kennen Sie meinen Namen?«, flüsterte ich fassungslos.
»Ich weiß, wer du bist. Ich weiß, wozu du fähig bist. Ich weiß alles über dich und deinen Bruder.« Er sprach langsam, wahrscheinlich damit mich jedes einzelne Wort wie ein Schlag traf.
»Was? Wer sind Sie?« Meine Gedanken überstürzten sich. »Ich verstehe nicht … Was wissen Sie über mich? Über Jack?«
»Keine Panik. Ich tue dir nichts. Ich gehöre nicht zu denen.« Er legte den Zeigefinger auf die Lippen, um mir zu bedeuten, leiser zu sprechen.
»Von wem sprechen Sie?«, fragte ich vorsichtig.
»Von den Leuten, vor denen dich dein Bruder beschützen will.«
Mein Magen verkrampfte sich. »Woher wissen Sie das alles? Sie gehören doch nicht zur Einheit?« Jetzt flüsterte ich nur noch.
»Nein, nein, ich gehöre ganz bestimmt nicht zur Einheit.« Grimmig schüttelte er den Kopf.
»Was wollen Sie?« Ich stützte mich schwer auf das Waschbecken, konnte mich kaum noch aufrecht halten.
»Ich suche nach denselben Leuten wie dein Bruder.«
»Nach denselben …? Aber warum?«
In seine dunklen Augen trat ein schmerzlicher Ausdruck. »Weil sie meinen Sohn Nate gekidnappt haben.«
Ein Geräusch an der Tür. Jemand klopfte. Wir zuckten beide zusammen. Der Mann blickte zur Tür, dann wieder zu mir zurück. Stumm schien er mich anzuflehen, ihn nicht zu verraten.
»Einen Moment noch«, rief ich mit zittriger Stimme.
»Was ist los da drin?«, rief eine Frauenstimme zurück.
»Hier … äh, hier läuft was aus, wir versuchen gerade, es zu reparieren.«
Schritte entfernten sich. Ich drehte mich wieder zu dem Fremden um. Seine Anspannung schien verschwunden; er war in sich zusammengesunken und lehnte erschöpft an einer der Kabinentüren. Ich versuchte meine Gedanken zu ordnen.
»Warum wurde Ihr Sohn entführt?«
Sein Blick war schwer und trübe. Er sah eigentlich nicht sehr furchterregend aus.
»Wer sind Sie? Sind Sie so wichtig, dass diese Leute Ihren Sohn kidnappen?«
Er schüttelte den Kopf. »Sie sind nicht hinter mir her. Sie wissen überhaupt nichts von mir. Es geht um meinen Sohn – darum, wozu er fähig ist.«
Allmählich begann ich zu begreifen. »Was kann er tun?«, flüsterte ich.
»Wir sind wie du.« Ich fing unwillkürlich zu zittern an. Er löste den Blick nicht von meinem Gesicht. »Wir können … bestimmte Dinge tun …«
Ich schluckte, versuchte so ruhig wie möglich zu bleiben. »Was für Dinge?«
»Wir sind … von der gleichen Art«, antwortete er zögernd. »Oder einander zumindest sehr ähnlich. Wir alle haben bestimmte … Talente, Fähigkeiten, Kräfte … Ich kann dir jetzt nicht alle Einzelheiten erklären, aber ich brauche deine Hilfe.«
Das war eine Falle. Es konnte gar nicht anders sein. Was war, wenn er zu den bösen Buben gehörte? Zu den Leuten, die hinter mir her waren? Auf gar keinen Fall würde ich ihm von meiner geheimen Kraft erzählen. »Ich verstehe das nicht. Was Sie sagen, ergibt einfach keinen Sinn.«
Er hob die Augenbrauen wie eine Aufforderung, jetzt nicht mehr die Ahnungslose zu spielen. Ratlos blickte ich zur Tür, dann wieder zu ihm hinüber. Er sagte nichts, sondern sah mich nur flehend an.
»Warum erzählen Sie mir das alles? Wir müssen mit meinem Bruder sprechen. Er kann Ihnen vielleicht helfen. Ich weiß nichts über die Leute, die Ihren Sohn entführt haben.«
Er schrie auf. »Nein! Weder Alex noch Jack noch sonst jemand von der Einheit darf das wissen!«
»Warum?«
»Hör mir zu!« Er hatte seine Stimme wieder unter Kontrolle, aber sein Gesichtsausdruck war wild und wütend. »Du darfst ihnen nichts von mir erzählen!«
Plötzlich wurde ich von einer entsetzlichen Furcht ergriffen. Meine Stimme bebte. »Warum nicht?«
Er stand jetzt nur noch ein paar Zentimeter von mir entfernt. Meine Hände klammerten sich am Waschbecken fest, das meine einzige Stütze war.
»Weil die Einheit Leute wie uns beide seit fünf Jahren jagt.«
Wieder klopfte es an der Tür. Ich erschrak so sehr, dass meine Beine nachgaben und ich zu Boden sank.
»Lila?«
Mein Blick wanderte zur Tür. Jack.
Er rief noch einmal meinen Namen. »Lila?«
Ich rührte mich nicht. Key starrte auf mich herab, die Augen vor Angst weit aufgerissen. Wer war dieser Mann? Warum sollte ich ihm vertrauen? Dort draußen stand mein Bruder! Ich zögerte, nur eine Sekunde davon entfernt, um Hilfe zu rufen. Aber ich tat es nicht. Was war, wenn Key die Wahrheit sprach?
»Ich komme gleich!«, rief ich zurück.
»Warum brauchst du denn so lange?«, schrie Jack und versuchte, die Tür zu öffnen. »Und warum ist die Tür abgeschlossen?«
»Ich habe nur …« Hektisch blickte ich mich um, spürte Schweißperlen wie kleine Nadelstiche überall am Körper. »Ich hab ein kleines weibliches Problem …«
Ich schloss die Augen und betete, dass ihn diese Antwort so sehr in Verlegenheit setzen würde, dass er sich wieder verkrümelte. Sekundenlang blieb es auf der anderen Seite der Tür still. Dann ging der Türgriff wieder hoch. »Ach so«, hörten wir ihn murmeln. »Okay … äh … dann bis gleich.« Seine Schritte entfernten sich.
Ich wartete, bis sich Key wieder ein wenig zurückgezogen hatte, dann stand ich auf. »Was meinen Sie damit, dass die Einheit Leute wie uns jagt?«
Das Weiße in seinen Augen war von roten Äderchen durchzogen. Er wirkte erschöpft. »Damit meine ich genau das, was ich sage. Sie verfolgen Leute wie uns, Leute wie dich, Lila, wie Nate, wie mich. Menschen, die über besondere Kräfte verfügen. Von mir weiß die Einheit noch nichts, aber ich fürchte, dass sie über Nate Bescheid weiß.«
Ich schüttelte den Kopf. »Was wollen Sie damit sagen?«
Er seufzte. »Lila, ich habe dich beobachtet. Ich weiß, was du kannst. Ich bin dir gefolgt, seit ich dich im Militärcamp mit deinem Bruder und diesem Alex zum ersten Mal gesehen habe. Gerade vorhin – was war mit dem Kellner los?« Er tippte sich an die Schläfe. »Das warst du. Und du hast es nur mit deiner Gedankenkraft gemacht.«
Mir stockte der Atem. Woher wusste er das? »Das konnten Sie gar nicht gesehen haben! Sie lügen!«
»Ich muss nicht in meinem Körper stecken, um mich irgendwo umzusehen. Um woanders anwesend zu sein.«
»Hu-hu«, machte ich spöttisch, »wie gruselig.« Hatte ich denn total den Verstand verloren? Ich musste Jack zu Hilfe rufen, solange ich noch eine Chance hatte.
»Ich kann mich teleportieren – das bedeutet, ich kann mich unsichtbar irgendwohin begeben.«
Dieses Mal musste ich laut lachen. »Sie beamen sich durch die Gegend? Wollen Sie mir wirklich weismachen, dass Sie fliegen können? Und Sie glauben allen Ernstes, dass ich Ihnen das abnehme?« Der Mann war total gaga. Ein Spinner.
Er schaute mich ruhig an. »Kannst du Gegenstände nur durch deine Gedankenkraft bewegen?«
Das Lachen blieb mir in der Kehle stecken. Wenn er es so klar benennen konnte … Ich kniff die Augen zusammen und betrachtete ihn scharf. Er sah nicht so aus, als könnte er fliegen. Aber anderen Leuten kam auch ich wahrscheinlich ganz normal vor.
»Sie behaupten also, dass es noch andere gibt?«, fragte ich leise.
Er nickte und starrte mich unverwandt an – als hätte er Angst, dass ich irgendetwas Verrücktes tun könnte. »Manche sind wie du, andere sind wie ich – es gibt unterschiedliche Fähigkeiten.«
Ich lachte wieder, aber es klang bitter. Warum war mir nie der Gedanke gekommen, dass es noch andere geben könnte? »Und die …«
Bevor ich weitersprechen konnte, schnitt er mir mit einer Handbewegung das Wort ab. Seine Stimme klang drängend. »Das ist jetzt nicht so wichtig. Ich brauche deine Hilfe.«
Ich überhörte ihn einfach. »Und die Einheit? Sie haben gesagt, sie jagt Menschen wie uns. Was meinen Sie damit?«
Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Ich gierte förmlich nach jedem Wort. »Das ist ihr Job, Lila.« Er dachte kurz nach. »Es ist ihre Aufgabe, Menschen wie uns aufzuspüren, die über übernatürliche Fähigkeiten verfügen, und sie dann …«
Ich schluckte heftig. »Und sie dann – was?«
Key wandte sich von mir ab. »Ich weiß nicht genau. Aber wen sie gefangen nehmen und in das Camp in Pendleton bringen – das wird Sicherheitsverwahrung genannt –, der kommt da nicht mehr heraus. Deshalb habe ich den Alarm im Camp ausgelöst. Damit er dich nicht in das Gebäude bringt. Ich war nicht sicher, ob ich dich sonst jemals wiedergesehen hätte.«
Er. Key meinte Alex.
»Aber …« Ich fand keine Worte. Alex und Jack waren die ganzen Jahre hinter etwas her gewesen – und dieses Etwas war ich. Oder Menschen wie ich.
»Ich verstehe das immer noch nicht. Warum?«
Key wich meinem Blick nicht aus und zuckte mit den Schultern. »Furcht vor dem Unbekannten? Die Angst, dass du etwas Ungeheuerliches tun könntest?«
»Aber warum sollte jemand vor mir Angst haben?« Doch dann fiel mir der Junge ein, dem ich fast das Auge ausgestochen hätte. Der hatte wirklich Angst vor mir gehabt.
»Lila, nicht alle sind wie du oder ich. Wir versuchen, möglichst unauffällig zu bleiben. Aber die Leute, die meinen Sohn entführt haben, sind anders – hinter ihnen ist auch dein Bruder her. Ihr Anführer ist ein Mann namens Demos und vor ihm muss man tatsächlich Angst haben.«
»Demos? Noch nie gehört. Wer ist das? Warum muss man sich vor ihm fürchten?«
»Weil Demos die Macht an sich reißen will – er will alles kontrollieren.«
Key tat, als sei alles vollkommen klar und logisch, was er mir erzählt hatte, aber ich begriff einfach nicht. Macht? Kontrolle? Über was denn? Ich konnte nur eines denken: Ich musste hier raus und Alex suchen.
Dann machte es Klick und das kam als echter Schock: Wenn Key die Wahrheit sagte, dann durfte ich nicht einfach losmarschieren und Alex oder Jack zur Rede stellen. Ich durfte ihnen nicht einmal mehr nahe kommen! Sie waren hinter Leuten wie mir her.
Tränen traten mir in die Augen.
Key packte mich an den Schultern und schüttelte mich heftig. »Ich brauche deine Hilfe!«, schrie er. Ich zuckte unwillkürlich zurück.
»Das sagen Sie die ganze Zeit!«, schluchzte ich. »Aber was kann ich schon tun? Sie kommen einfach daher, erzählen mir, dass es noch andere Menschen wie mich gibt, die Schlimmes im Schilde führen, und dass mein eigener Bruder mich einsperren würde, wenn er die Wahrheit über mich wüsste.« Ich lachte bitter auf. »Das ist doch lächerlich, Jack ist mein Bruder! Er würde nie zulassen, dass mir jemand etwas antut.«
Key schaute mich skeptisch an.
»Und überhaupt«, fuhr ich fort, »was geht Sie das an?«
»Es geht mich etwas an, weil du im Moment die Einzige bist, die mir helfen kann.«
Ich schüttelte benommen den Kopf.
»Demos hat meinen Sohn entführt. Ich weiß nicht, wohin er ihn gebracht hat. Ich muss ihn finden. Und ich muss ihn wieder nach Hause holen, bevor die Einheit Demos und seine Leute aufspürt und einsperrt. Ich will meinen Sohn nicht verlieren!« Sein Gesicht spiegelte seine innere Qual wider. »Ich war Demos und seinen Leuten auf der Spur, aber dann hat die Einheit Alicia gefangen genommen und ich habe Demos wieder aus den Augen verloren.«
»Wer ist Alicia?«
»Die Person, die das Team deines Bruders vor Kurzem aufgespürt und gefangen genommen hat. Am selben Abend, an dem du ankamst.«
Ich brauchte eine Weile, bis ich das verarbeitet hatte.
»Lila? Weißt du denn gar nichts darüber?«
»Was denn zum Beispiel?«
»Hast du nicht zufällig etwas mit angehört? Hat dein Bruder nicht irgendetwas über seine Einsätze erzählt?«
Plötzlich fiel mir etwas ein. »Er sagte, sie seien über die Grenze. Nach Mexiko. Aber wo, weiß ich nicht.«
»Bist du sicher?« Er beugte sich noch näher zu mir. »Warum sollte Demos nach Süden gehen?«, sagte er wie zu sich selbst und rieb sich mit den Fäusten die Schläfen.
»Ich weiß es nicht.«
»Denk genau nach – hat er wirklich nichts anderes gesagt?«
»Nein. Er erzählt mir nie was.«
Plötzlich stand Key so dicht vor mir, dass sein Atem in meinen Augen brannte. »Wie nah sind sie dran? Steht die Einheit kurz davor, Demos gefangen zu nehmen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich weiß nur, dass sie jemanden verfolgen. Keine Ahnung, was die Einheit davon abhält, ihn zu verhaften.«
»Verhaften? Das glaubst du allen Ernstes?« Ein bitteres Lachen. »Lila, du kannst sicher sein, dass sie niemanden verhaften. Sie werden in Verwahrung genommen und das ist was anderes. Deshalb muss ich Demos und seine Leute finden, bevor die Einheit zuschlägt. Ich muss meinen Sohn herausholen, bevor dein Bruder und seine Freunde sie umzingeln.«
Wieder rollten Tränen aus meinen Augen.
»Du musst herausfinden, was die Einheit plant.«
»Wie denn? Erwarten Sie etwa von mir, dass ich Jack direkt frage? Einfach so?«
»Nein.«
Ich wischte mir die Tränen von den Wangen. »Wenn Sie schon so viel über mich wissen – und über Jack und die Spezialeinheit –, und wenn Sie wirklich tun können, was Sie behaupten, nämlich einfach irgendwohin fliegen …« Er zuckte zusammen, aber ich fuhr fort: »Warum können Sie sich dann die Informationen nicht selbst beschaffen? Wozu brauchen Sie meine Hilfe?«
»Wegen der Alarmanlage. Ich kann nicht in Jacks Haus.«
Entsetzt schnappte ich nach Luft. »Ist die Alarmanlage dafür da?«, flüsterte ich. »Um Leute wie Sie fernzuhalten?«
»Leute wie uns, Lila.«
»Na klar – warum kann ich dann ohne Weiteres hinein?«, gab ich scharf zurück.
»Sie geht nur los, wenn wir unsere Kraft einsetzen. Es gibt einen elektromagnetischen Sensor, an dem kein Teleporter vorbeikommt. Und auch kein Telepath.«
Mir fiel ein, dass Suki durch den Briefschlitz gespäht hatte. Wenn ich an jenem Morgen die Alarmanlage angeschaltet hätte, wäre sie dann losgegangen? Dann fiel mir ein, dass ich eine Haarbürste durch mein Fenster hatte fliegen lassen und das Licht an- und ausgeschaltet hatte, ohne den Schalter zu berühren.
»Wie kommt es, dass ich den Alarm nicht ausgelöst habe?«, wollte ich wissen. Meine Stimme zitterte. »Er hätte ein Dutzend Mal losgehen müssen!«
»Das weiß ich nicht«, sagte Key, offenbar verwirrt. »War er denn aktiviert?«
Ich wollte gerade bejahen, als mir Zweifel kamen. Bei dem Vorfall mit der Haarbürste war die Anlage nicht an gewesen – ich war einfach ins Haus gestürmt und hatte sie ausgeschaltet. Als ich die Tasche durch die Luft bewegt hatte, hatte Jack den Alarm ausgeschaltet. Aber es gab noch andere Vorkommnisse – zum Beispiel hatte ich den Lichtschalter nur durch Gedankenkraft ein- und ausgeschaltet. Ich runzelte die Stirn. Dass der Alarm jedes Mal ausgeschaltet gewesen war, war eine merkwürdige Häufung glücklicher Zufälle. Glück war ja etwas, was mir nicht gerade im Überfluss zuteilwurde.
»Hör mal«, sagte Key drängend, »könntest du dich bitte in Jacks Haus umsehen? Ich kann nicht riskieren, auch nur in die Nähe zu gehen. Nicht mit den Überwachungsautos auf der Straße. Ich will nicht, dass die Einheit von mir erfährt … das wäre zu gefährlich.«
»Glauben Sie denn, dass sich etwas im Haus befindet?«, fragte ich. »Was denn?«
»Weiß ich nicht. Vielleicht hat Jack Informationen über Demos und seine Leute. Vielleicht weiß er, wo sie sich aufhalten oder wann sie ihre nächste Aktivität planen. Ich möchte wissen, ob die Einheit überhaupt etwas über Nate weiß. Ich würde dich nicht bitten, wenn ich eine andere Wahl hätte. Aber ich kann nicht in ihr Hauptquartier eindringen und auch nicht in die Wohnungen der anderen. Außerdem ist dein Bruder Teamleiter, ganz bestimmt ist er besser informiert als die normalen Teammitglieder.«
Inzwischen drehte sich alles in meinem Kopf. Wenn Key Recht hatte und Jack weitere Informationen im Haus aufbewahrte, dann musste ich sie finden. Ich musste endlich wissen, was hier abging.
»Okay«, flüsterte ich, »ich helfe Ihnen.«
Die Erleichterung war ihm ins Gesicht geschrieben. »Danke«, sagte er heiser und drückte mir die Hand.
»Ich muss gehen«, erwiderte ich. »Jack wird sich wundern, wo ich so lange bleibe.« Mir versagte fast die Stimme.
Key nickte. »Okay. Ich verschwinde.« Bevor ich begriffen hatte, was er sagte, war er auch schon zur Tür hinaus.
Ich stand wie angewurzelt da und starrte auf die Stelle, wo er gerade noch gestanden hatte. Plötzlich sah ich kleine schwarze Punkte. Ich taumelte rückwärts in eine der Toilettenkabinen, ließ mich auf den WC-Sitz fallen und vergrub den Kopf zwischen den Knien. Ein verzweifeltes Schluchzen drang aus meiner Brust und ich presste mir die Faust vor den Mund, um es zu unterdrücken.
Ohne es zu wissen, waren Jack und Alex hinter mir her. Mein eigener Bruder und der einzige Mensch, in den ich seit Ewigkeiten verliebt war, jagten mich und würden mich töten, wenn sie herausfanden, wer und was ich war. Oder sie würden mich in »Sicherheitsverwahrung« nehmen, was immer das heißen mochte. Nichts, was ich mir über die Aufgabe der Einheit vorgestellt hatte, war auch nur annähernd so grauenhaft.
Ich richtete mich auf und atmete tief durch. Vielleicht hatte Key sich das alles nur ausgedacht. Es konnte gar nicht anders sein. Es war einfach zu absurd. Die ganze Sache war ein einziger, grandioser Schwindel.
Aber in meinem Kopf war eine Stimme, die mir das Gegenteil sagte. Weitere Teile des Puzzles fügten sich plötzlich ineinander: die Geheimnistuerei, die Alarmanlage, die Tatsache, dass die Einheit diese Leute nicht hatte fangen können, obwohl sie sie schon seit Jahren verfolgte. Weil die Gejagten bestimmte Fähigkeiten besaßen, besondere Kräfte … genau wie ich.
Und das hieß: Ich musste sofort verschwinden. Durfte keine Sekunde verlieren. Musste ins nächste Flugzeug steigen und abhauen, bevor Jack und Alex die Wahrheit über mich herausfanden.
Aber wie? Ich zögerte. Sollte ich nicht doch bleiben? Vielleicht würden sie es nie herausfinden?
Nein, nein, ich musste gehen! Ich beherrschte meine telekinetische Kraft nicht genug und überall gab es Alarmsysteme, die mich enttarnen konnten. Es war ein reines Wunder, dass Jack und Alex noch nichts ahnten.
Und wenn sie es erfahren hätten – hätten sie mich dann eingesperrt? Vermutlich hätten sie mich wirklich für einen Freak gehalten und mich für irgendwelche Tests in eine Sicherheitszelle sperren lassen. Ich lachte hysterisch.
Ich hörte, dass die Tür geöffnet wurde; Lärm und Stimmengewirr aus der Bar drangen herein, gefolgt von den aufgeregt kreischenden Stimmen mehrerer Frauen. Der Lärm brachte mich schlagartig in die Wirklichkeit zurück. Ich musste mich endlich zusammenreißen und wieder in die Bar zurückkehren.
Ich stand auf, strich mein Kleid glatt und schloss die Kabinentür auf. Vor einem Waschbecken blieb ich stehen und spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht. Ich wischte mir das restliche Make-up weg. Mein Spiegelbild erschreckte mich: Ich sah aus, als wäre ich soeben nach einem Unfall aus einem brennenden Autowrack gekrochen.
Los geht’s, Lila.
Ich stieß langsam die Tür auf, blieb zunächst am Rand des großen Clubraums stehen und blickte mich um. Die Soldaten saßen an der Bar, lachten und tranken Bier. Ein Schauder lief mir über den Rücken – ein unheilvolles Omen? Ich hätte nicht die geringste Chance gegen sie. Nicht mal mit meiner Superkraft. Obwohl sie inzwischen bestimmt eine Menge Alkohol intus hatten, beeinträchtigte das weder ihre Wachsamkeit noch ihre Zielsicherheit.
Trotz des dichten Gedränges entdeckte ich Alex sofort. Schon wie er dastand! Als wäre er ständig auf der Hut. Vor Leuten wie mir. Dann drehte er sich leicht und ich sah ihn im Profil. Er unterhielt sich mit jemandem und lachte.
Der bloße Gedanke, dass ich Alex aus meinem Leben verbannen müsste, schien mir unvorstellbar. Ich konnte ihn nicht verlassen. Jetzt sofort würde ich zu ihm hingehen und ihm alles erzählen. Er hatte versprochen, mich zu beschützen. Vielleicht konnte er auch die Spezialeinheit überzeugen, dass ich nicht eingesperrt werden musste. Alex würde mir zuhören, er würde dafür sorgen, dass alles in Ordnung kam. Entschlossen setzte ich mich in Bewegung.
Ich hatte noch keine zwei Schritte getan, als ich die Person erkannte, mit der er sich unterhielt, mit der er lachte. Rachel.
Sie sah absolut umwerfend aus: blond, schlank, elegant, als hätte man sie in Goldglitter getaucht. Ich dagegen fühlte mich wie zerschlagen, so, als wäre Rachel mit ihren Zwölf-Zentimeter-Absätzen und ihrem eng anliegenden Minikleid über mich stolziert und hätte mir, die tiefroten Lippen zu einem triumphierenden Lächeln verzogen, einen ihrer Metallstiftstilettos in den Bauch gerammt.
Die beiden boten ein tolles Bild. Alex beugte gerade den Kopf zu ihr, seine Hand schwebte nahe ihrer Taille. Rachel blickte ihn mit großen Augen an, ihre Wangen glühten. Sie sahen aus wie ein Pärchen in einem Werbespot für ein Aftershave oder ein teures Parfüm. Was immer sie ihm gerade erzählte, fesselte ihn offensichtlich, denn er beugte sich immer näher zu ihr. Gleich würde sie ihm ihre prächtigen, weißen Zähne in den Hals schlagen, um ihn mit Haut und Haar zu verschlingen.
Am liebsten hätte ich ihm quer durch den ganzen Club zugeschrien, sie wegzustoßen, solange er sich noch wehren konnte. War Abwehrkampf nicht genau das, worin Soldaten wie er ausgebildet wurden? Stattdessen drehte ich mich auf der Stelle um und stolperte durch die Menge zu einem der Notausgänge. Ich war noch ein paar Meter entfernt, als die Tür schon aufflog und so heftig gegen die Außenmauer krachte, dass sie fast aus den Angeln fiel. Mühsam brachte ich meine Gefühle wieder unter Kontrolle, bevor meine Kraft noch Schlimmeres anrichten konnte. Ich wollte ja nicht, dass alle anwesenden Soldaten ihre Waffen zogen und sie auf meinen Kopf richteten.
Ich taumelte ins Freie. Die Tür fiel mit einem metallischen Klicken ins Schloss. Ich stand an einer Betontreppe. Drei Stufen führten zum Parkplatz hinter dem Club.
Ich sank auf der obersten Stufe nieder und versuchte, mich zu beruhigen. Wäre meine Kraft stark genug gewesen, ich hätte direkt vor mir einen zweiten Grand Canyon in den Boden gerissen und mich kopfüber in den Abgrund gestürzt. Das war’s, dachte ich. Kein Grund, noch länger hierzubleiben. Selbst wenn ich Key nie getroffen hätte, hätte ich nicht mehr bleiben wollen. Ich musste zum Haus zurück, mir dort so viele Informationen wie möglich beschaffen und dann nichts wie weg. Noch heute Nacht.
Mühsam stand ich auf und blickte über den Parkplatz. Links verlief ein Zaun aus Maschendraht parallel zum Gebäude, dazwischen war ein schmaler Durchgang, der zur Vorderseite und zur Straße führte. Ich schlüpfte hindurch und bog um die Ecke.
»Lila!«
Ich erstarrte. Jack löste sich aus einer Gruppe von Männern und kam zu mir herüber.
»Lila, da bist du ja. Ist alles okay?« Er wirkte irgendwie verlegen, denn er mied meinen Blick.
»Ja, klar, alles okay«, murmelte ich.
»Ich und das Team müssen leider schon gehen.« Er gab den Männern hinter sich ein Zeichen. Sie stiegen eilig in zwei schwarze Fahrzeuge mit dunkel getönten Scheiben. »Im Camp ist noch mal Alarm ausgelöst worden. Wir müssen der Sache nachgehen, obwohl ich jede Wette eingehe, dass es wieder ein Fehlalarm ist. Tut mir wirklich leid, dass ich dich hier sitzen lasse.«
Neben uns ertönte eine Autohupe. Die Tür des ersten Wagens stand weit offen; die Gestalten im Innern winkten Jack ungeduldig zu, endlich einzusteigen. Der andere Wagen war bereits losgefahren und fädelte sich in den Verkehr auf der Straße ein.
»Alex ist noch hier, auch die meisten anderen. Bleib bei ihnen und genieße den Abend!« Jack zog seine Geldbörse heraus. »Hier.« Er hielt mir fünfzig Dollar hin. »Gib eine Runde aus. Sara und Alex werden dich nach Hause bringen. Ich bin morgen Früh wieder da.«
Dann sprang er in das Auto. Die Tür schlug zu; der Wagen beschleunigte und raste davon.
Ich betrachtete den Geldschein in meiner Hand. Jack würde für viele Stunden im Camp zu tun haben. Wieder in die Bar zurückzukehren und mit Alex und Rachel zu plaudern, als wäre nichts geschehen, kam nicht infrage. Für meine Entscheidung brauchte ich nicht mal den Bruchteil einer Sekunde. Ich streckte den Arm aus und winkte ein Taxi heran.