11
Ich legte die Arme um Alex’ Hüften und klammerte mich eng an ihn. Er gab Gas und raste die Straße hinunter. Aua. Etwas Hartes, Metallisches stieß gegen meinen Bauch; als mir klar wurde, dass es der Griff einer Pistole war, rückte ich schnell ein wenig von ihm weg. Ich war sicher, dass Alex vorher keine Waffe getragen hatte. Woher hatte er so plötzlich eine Pistole? Und was mir noch mehr zu denken gab: Warum hatte er es für nötig gehalten, eine Waffe einzustecken, als er sich an meine Verfolgung gemacht hatte? Hatte er etwa im Sinn gehabt, mich umzulegen, wenn ich mich geweigert hätte mitzukommen?
Vor einem modernen Wohnblock bremste Alex ab und bog scharf in die Zufahrt zu einer Tiefgarage ein. An der Schranke tippte er einen Code ein. Schon ließen wir die gleißende Nachmittagssonne hinter uns und tauchten in die feuchtkühle Finsternis des Untergeschosses ein. Er steuerte das Motorrad um ein paar Pfeiler herum, hielt neben einem Aufzug an und stieg ab. Ich sprang vom Sitz. Er ließ mich eine Weile an meinem Helmverschluss herumfummeln, dann trat er grinsend näher und half mir.
Ich öffnete den Mund, aber er hatte meine Frage wohl schon erwartet. »Meine Wohnung«, sagte er knapp.
Ich nickte. Natürlich. Genau so hatte ich mir sein Haus vorgestellt.
»Komm.« Wir stiegen in den Aufzug und er drückte auf den Knopf für den sechsten Stock.
Saras Beschreibung traf zu: Alex’ Wohnung war sehr minimalistisch eingerichtet. Der Boden bestand aus hellen Holzdielen; die Wände waren weiß und kahl. Jedes Geräusch hallte zurück wie in einer brandneuen Wohnung, die auf ihren ersten Bewohner wartete.
Alex ging an mir vorbei und führte mich ins Wohnzimmer. Hier sah es ein bisschen besser aus. Immerhin gab es da ein weiches schwarzes Sofa und einen kleinen Couchtisch mit Glasplatte. Ihm gegenüber war ein riesiger TV-Flachbildschirm. Den Boden bedeckte ein cremefarbener Flokatiteppich. Aber mein Blick wurde sofort von der gegenüberliegenden Wand angezogen.
Sie bestand aus einem einzigen riesigen Fenster, das vom Boden bis zur Decke reichte, mit einer atemberaubenden Aussicht auf Harbor Beach und den Pier. Ich trat heran und sah auf die kleinen Menschen herab, die auf der Straße vorbeihasteten, auf dem Gehweg Skateboard fuhren oder sich am Strand in Reih und Glied in der Sonne rekelten wie gelbe und rote Gummibärchen. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich einen schwarzen Geländewagen auf dem Gehweg gegenüber vom Haupteingang. Ich konnte nicht erkennen, ob es dasselbe Fahrzeug war, das vor Jacks Haus geparkt hatte, aber es sah sehr ähnlich aus. Ich fragte mich, was der Wagen hier zu suchen hatte. Rechneten Jacks Leute nicht damit, dass Suki vor seinem Haus wieder auftauchen würde?
»Ich gehe nur mal schnell unter die Dusche«, verkündete Alex. Er beäugte mich misstrauisch. »Nicht abhauen!« Seine Stimme klang freundlich, hatte aber einen warnenden Unterton.
Ich nickte brav. »Ich versuche mich zu beherrschen.«
Er schenkte mir ein müdes Grinsen und ging hinaus. Die Tür ließ er halb offen. Eine Minute später hörte ich das Rauschen der Dusche. Ich musste mich wirklich sehr zurückhalten, um ihm nicht ins Bad nachzulaufen.
Eine Weile stand ich zögernd da, dann siegte die Neugier. Auf Zehenspitzen schlich ich in den Flur und blieb vor einer offenen Tür stehen: das Schlafzimmer. Ein Doppelfuton beherrschte den Raum. Die gegenüberliegende Wand wurde von einem großen Schrank mit Schiebetüren eingenommen. Neben dem Bett ragte ein turmartiger Bücherstapel empor; daneben stand ein Wecker. Eine weitere Tür führte ins Bad; sie stand ebenfalls halb offen und Dampfwolken quollen heraus. Bestimmt hatte Alex beide Türen zum Bad absichtlich nicht geschlossen, um hören zu können, ob ich noch einmal zu flüchten versuchte. Leise schlich ich ins Wohnzimmer zurück und stellte mich wieder an das Panoramafenster.
Der schwarze Geländewagen stand immer noch am Straßenrand. Ich versuchte das Nummernschild zu entziffern. Im selben Augenblick öffnete sich die Fahrertür und ein Mann in schwarzer Armeehose und schwarzem T-Shirt stieg aus. Er trug eine Sonnenbrille und blickte in beide Richtungen die Straße entlang, dann schaute er hoch zu Alex’ Wohnung. Ich trat schnell vom Fenster zurück und stieß dabei mit der Kniekehle gegen den Glastisch.
Plötzlich wurde mir alles klar. Die Männer in den schwarzen Klamotten bewachten gar nicht Jacks Haus – sie bewachten mich. Warum sonst sollten sie jetzt ausgerechnet hier vor Alex’ Wohnung herumhängen? Jedes Puzzleteilchen fiel auf einmal an seinen Platz; ich hätte fast laut aufgelacht: Alex war nicht mein Babysitter, er war mein Bodyguard!
Meine Gedanken überschlugen sich: Jack hatte mich unbedingt ins nächste Flugzeug setzen und loswerden wollen, Alex wollte mit mir joggen, beide machten ein Riesengetue um Alarmanlagen und Sicherheit und Alex führte sich als mein angeblicher Babysitter wie ein Geheimagent auf. Zuerst verspürte ich riesige Erleichterung, dass all das nichts mit mir zu tun hatte. Oder damit, dass er in mir nur ein Kind und Jacks kleine Schwester sah.
Dann dämmerte mir etwas anderes: Wenn ich beschützt wurde, musste ich tatsächlich in Gefahr sein. Und die musste ziemlich groß sein, wenn rund um die Uhr Soldaten zu meinem Schutz abkommandiert waren.
Suki? Ich lachte auf und schüttelte unwillkürlich den Kopf. Brauchte man wirklich ein ganzes Team, um mir Suki vom Leib zu halten? Gegen sie konnte ich mich zur Not auch noch alleine wehren. Zumal sie mit ihren Plateauschuhen und den hohen Absätzen vermutlich nicht sehr schnell laufen konnte. Ich würde nicht einmal meine telekinetischen Kräfte einsetzen müssen.
Das Wasserrauschen verstummte. Wenig später kam Alex in den Raum. Er trug saubere Shorts und war barfuß; Wasser tropfte ihm aus dem wirren Haar und rann ihm über die Schultern. Beim Anblick seiner Muskeln auf dem nackten Oberkörper bekam ich Schmetterlinge im Bauch. Dann zog er sich ein T-Shirt über den Kopf und ich seufzte enttäuscht.
»Zeig mir mal deine Hände«, sagte Alex und setzte sich neben mich.
»Was?«
»Zeig mir deine Hände!«, wiederholte er.
Zögernd hielt ich ihm die nach unten gedrehten Handflächen hin. Mein Herz schlug höher, als er sie behutsam umdrehte und etwas Jod auf die Schürfwunden tupfte. Es brannte und ich zuckte zurück.
»Also – vielleicht erzählst du mir mal, warum du so plötzlich abgehauen bist?«
Ich sah zu, wie er meine Hände weiter verarztete. Dann hob ich den Blick und sagte: »Oder solltest du mir erst mal erklären, weshalb du mir gefolgt bist?«
»Weil ich mir Sorgen um dich gemacht habe.« Er runzelte die Stirn, als hätte ich das wissen müssen. Unvermittelt gab er meine Hände frei.
»Was meinte Rachel mit ›Viel Spaß beim Babysitten‹?«, fragte ich kühl und beobachtete seine Reaktion genau.
»Was meinst du wohl?« Alex’ Tonfall ließ vermuten, dass er sich über mich lustig machte und sich absichtlich dumm stellte. »Glaub mir, Lila, ich bin nicht dein Babysitter. Erstens brauchst du keinen, zweitens bin ich einfach gerne mit dir zusammen und drittens zahlt mir Jack für diese nervenaufreibende Arbeit keinen müden Dollar.«
Ich boxte ihn leicht gegen die Brust und er wich mir lachend aus.
»Okay«, sagte ich, »ich glaube dir.«
Alex grinste mich erleichtert an und schien sich ein wenig zu entspannen.
»Aber du bist mein Bodyguard.«
»Was?«, fuhr er hoch. Dann warf er den Kopf zurück und lachte laut auf.
Mir war jedoch nicht entgangen, dass sich sein Blick verändert hatte – zuerst war Alex erschrocken, dann hatte er sofort dichtgemacht.
Ich ließ nicht locker. »Du bist kein Babysitter, du bist mein Leibwächter.«
Er wurde ernst. »Na gut, du hast Recht.«
Jetzt war ich an der Reihe, verblüfft dreinzuschauen. Das hatte er nun wirklich zu schnell und zu leicht zugegeben.
»Natürlich bewachen wir dich. Die Jungs in der Einheit würden dich umgeben wie ein Schwarm Fliegen, wenn wir nicht ständig auf dich aufpassen würden. Jack würde sie alle umlegen, wenn er wüsste, wie sie dich heute angestarrt haben.«
Also hatte ich richtig vermutet. Alex versuchte die Sache zu verharmlosen. Eine unbestimmte Furcht kroch in mir hoch. »Das habe ich nicht gemeint«, sagte ich und gab mir Mühe, so kühl wie möglich zu klingen. »Es gibt noch eine andere Gefahr.«
Er seufzte. »Nein, wir beschützen dich nur vor einer ganzen Horde junger Männer mit Testosteronüberschuss.«
Allmählich wurde ich wütend; ich schüttelte den Kopf. »Mach mir nichts vor, Alex, ich bin nicht blind! Und manches kann ich mir zusammenreimen. Das schwarze Auto bewacht nicht Jacks Haus, sondern mich. Und darum steht es jetzt dort unten.«
Alex blickte verblüfft auf.
»Du wolltest mich nicht mal allein hier im Viertel joggen lassen, deshalb musste ich mit dir im Camp laufen. Du und Jack, ihr beide lasst mich keine Minute aus den Augen. Jack dreht fast durch, weil ich hier bei ihm bleiben will, und du klebst an mir wie eine Klette.«
Nicht dass ich gegen Letzteres irgendetwas einzuwenden gehabt hätte. Aber Alex schüttelte nur den Kopf, deshalb fuhr ich schnell fort: »Ich werde die Wahrheit herausfinden, auch wenn ich noch einmal abhauen muss.«
Das war natürlich ein Bluff. Aber meine Drohung wirkte. Seine Miene wurde finster und seine Augen wurden kalt. Er beugte sich vor und packte mich am Handgelenk.
»Du wirst nicht noch mal abhauen, Lila. Von jetzt an lasse ich dich keine Minute aus den Augen.«
Wow, das klang echt gut. Oh ja, es klang total super. Allerdings bewies er mir damit erst recht, dass ich richtig vermutet hatte. Es war Gefahr im Verzug. Doch richtig aufgeregt war ich nur bei dem Gedanken, dass Alex nicht mehr von meiner Seite weichen würde.
»Lila. Hast du mir überhaupt zugehört?« Alex schüttelte mich. Er hatte eine steile Falte zwischen den Augenbrauen. Ich hätte sie ihm am liebsten mit dem Zeigefinger geglättet.
»Ja«, sagte ich, »klar doch, ich habe zugehört.« Er klang so ernst, dass es mir richtig unter die Haut ging.
Abrupt ließ mich Alex los und stand auf. »Ich muss Jack anrufen und ihm sagen, wo wir sind.« Ziemlich gereizt schaute er auf mich herab. »Und ich muss ihm meinen Plan erklären.« Damit marschierte er in den Flur hinaus. Ich sah ihm nach und spürte, wie sich etwas zwischen ihm und mir spannte wie ein Gummiband.
Nach ungefähr fünf Minuten kam er wieder zurück. Sein Gesicht war so finster, dass ich Angst bekam. Er setzte sich auf die Sofakante, beugte sich vor und starrte eine Weile zum Fenster hinaus. Schließlich legte er das Handy auf den Couchtisch und drehte sich zu mir.
»Also gut«, begann er, »Jack weiß, was ich dir jetzt erklären werde.« Er machte eine Pause, als müsste er sich das Telefongespräch nochmals ins Gedächtnis rufen.
Ich hielt meine Knie umklammert. Obwohl mich seine Nähe beruhigte, war ich innerlich immer noch angespannt.
»Er war nicht besonders glücklich darüber. Aber ich habe ihn davon überzeugt, dass wir keine andere Wahl haben, wenn wir wollen, dass du hier …«
Ich hoffte, er würde »sicher wohnen kannst« sagen, aber er fuhr fort: »… nicht noch mal in Schwierigkeiten gerätst.« Dabei schaute er mich streng an.
Ich erwiderte schweigend seinen Blick.
»Du weißt, dass wir neulich jemanden gefangen genommen haben? Am Abend, an dem du ankamst. Na gut, eigentlich war es Jacks Team.«
Ich nickte stumm.
»Anscheinend haben wir in ein Wespennest gestochen. Das wussten wir aber erst, als du uns erzählt hast, dass Suki vor Jacks Haus herumschnüffelte. Wir haben überlegt, ob sie vielleicht einen Gegenschlag planen.«
Gegenschlag? »Wer sind sie? Wen habt ihr gefangen genommen? Und was hat das alles mit mir zu tun?«
»Mit dir hatte es überhaupt nichts zu tun.« Alex rückte auf dem Sofa hin und her. »Bis du Suki erzählt hast, dass du Jacks Schwester bist.«
»Warum spielt das eine Rolle?«
»Auge um Auge, Zahn um Zahn. Wir haben einen von ihnen gefangen, deshalb könnten sie versuchen sich zu rächen. Und in diesem Fall wärst du … na ja, ein mögliches Ziel.«
»Ein Ziel? Was ist das hier – eine Schießübung?« Meine Stimme wurde schrill. »Warum gerade ich? Warum nicht jemand aus eurer Einheit? Ihr könnt bestimmt nicht sämtliche Familienangehörige eurer Leute bewachen?«
»Sie würden niemanden aus der Einheit wählen, das wäre viel zu riskant. Außerdem würde es nicht viel nützen.«
»Warum nicht?«
»Weil sie wissen, dass wir nicht mit ihnen verhandeln würden.«
»Was? Die Einheit würde nicht verhandeln, auch wenn es um dich oder Jack ginge?«
»Nein.« Er schüttelte entschieden den Kopf. Ich war entsetzt.
»Aber warum ich?«, flüsterte ich. »Was ist mit allen anderen und ihren Familien?«
»Lila, ich habe dir doch erzählt, dass wir keine Freundinnen haben dürfen. Erinnerst du dich?«
Ich nickte.
»Genau das ist der Grund. Sie könnten jederzeit einen von uns erwischen. Je weniger direkte Angehörige es gibt, desto besser. Keiner von uns ist verheiratet und keiner hat Kinder.«
Ich war sprachlos. Dann fiel mir noch etwas ein. »Und Sara? Ist sie in Sicherheit?«
»Ja, solange sie sich auf dem Armeegelände aufhält. Übrigens ist Jack gerade bei ihr, bis wir herausgefunden haben, was den Alarm ausgelöst hat.«
Wieder rückte ein kleines Puzzlestück an seinen Platz. »Und deshalb wollte Jack nicht, dass ich herkomme und hier aufs College gehe?«
»Genau.«
Trotz der erschreckenden Enthüllungen machten mich seine Worte irrsinnig glücklich. Dass ich hier nicht erwünscht war, hatte also gar nichts mit mir persönlich zu tun. Jack und Alex mochten mich immer noch.
Ich schaute Alex direkt in die Augen. »Sag mir endlich, wer diese Leute sind.«
Statt einer Antwort blickte er mit gerunzelter Stirn aus dem Fenster. Was konnte nur dahinterstecken? Ein Drogenschmugglerkartell? Das hatte ich bereits ausgeschlossen, blieben also noch das Sittendezernat oder die Mafia und … Weiter reichte meine Vorstellungskraft nicht. Und dann kam mir plötzlich ein Gedanke, der mich fast umhaute. Ich ließ den Kopf auf meine hochgezogenen Knie sinken.
»Alex. Sind es die Leute, die meine Mutter umgebracht haben? Sind sie es? Sind sie jetzt auch hinter mir her?«
»Nein«, antwortete er.
Ich studierte sein Gesicht genau, suchte nach Anzeichen, dass er log. Aber Alex wich meinem Blick nicht aus.
»Lila«, sagte er, legte mir den Arm um die Schultern und drückte mich behutsam an sich. »Wir wissen ja nicht mal, ob sie wirklich hinter dir her sind. Das ist nur eine Vermutung. Genauso gut ist es denkbar, dass sie aufgegeben haben und schon auf dem Weg nach Alaska sind. An ihrer Stelle würde ich jedenfalls so schnell wie möglich abhauen.«
Ich dachte eine Weile darüber nach.
»Du wirst mir also nichts Näheres über diese Leute, Suki oder die Mörder meiner Mutter verraten. Habe ich Recht?«
Alex holte tief Luft. Er war offenbar hin- und hergerissen. »Ich darf es nicht, Lila. Aber ich kann dir versichern, dass wir sie finden werden und dass dann alles vorbei ist. Es tut mir unendlich leid, dass du in diese Sache hineingeraten bist.«
Wahrscheinlich stand mir das Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Was für eine böse Ironie! Wie sehr hatte ich mir gewünscht dazuzugehören, im Mittelpunkt zu stehen! Jetzt hatte ich genau das erreicht, nur ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte.
Alex rückte näher und legte mir wieder den Arm um die Schultern. »Hey«, sagte er, »alles wird gut!«
Ich legte den Kopf an seine Schulter und spürte, wie ich ruhiger wurde.
»Du bist bei mir«, murmelte er, »und ich werde nicht zulassen, dass dir etwas passiert. Niemals.«