Einer muss es tun
1
»Wir müssen zurück!«
»Moment mal!«, schaltete Justin sich ein. »Hab ich gerade richtig gehört? Tall Jakes mächtigster Gegner steht bei dir im Zimmer?«
»Ich hab das Objekt, das wir gerade gesehen haben, zu Hause«, erklärte Kady. »Ich hab es aus Malice mitgebracht. Ich wusste nur nicht, was es ist. Seit ich damals zurückgekehrt bin, ist meine Erinnerung total ausgelöscht. Ich weiß nicht einmal mehr, wie ich an das Teil gekommen bin!« Sie riss sich frustriert ihre gehäkelte Mütze vom Kopf und zerknüllte sie zwischen den Fingern. »Gott, ich wollte es noch mitnehmen, aber der blöde Kater hat mich davon abgehalten!«
Justin öffnete den Mund, um einen seiner bissigen Kommentare von sich zu geben, doch als er Kadys Gesicht sah, beschloss er lieber zu schweigen.
»Okay, noch mal der Reihe nach«, sagte Seth. »Marlowe ist bei euch aufgetaucht, kurz nachdem ihr nach Hathern gezogen seid, und er kann schreiben. Ich gehe mal schwer davon aus, dass er ein Gesandter der Königin der Katzen ist, so wie dieser Andersen. Oder was meint ihr?«
Kady brummte zustimmend.
»Das kann dann nur heißen, dass die Königin der Katzen nicht wollte, dass du den Shard mit nach Malice bringst, oder?«
»Stimmt.«
»Aber wieso nicht?«
»Weil der Shard verloren wäre, wenn er Tall Jake in die Hände fallen würde«, krächzte Skarla. »Und damit wäre auch jede Hoffnung verloren, ihn jemals zu besiegen.«
Seth sah sie überrascht an.
»Ich habe nichts für Tall Jake übrig«, erklärte sie. »Seit er die Sechs gestürzt und sich selbst zum Herrscher auserkoren hat, liegt dieses Land in Trümmern.«
»Okay, verstehe. Das Risiko, dass sie mich mit dem Shard erwischt hätten, wäre zu groß gewesen«, sagte Kady. Sie dachte nach. »Das kann nur bedeuten, dass Tall Jake nicht weiß, dass ich ihn habe. Wahrscheinlich hat Wer-auch-immer sich gedacht, dass er in meinem Zimmer erst mal in Sicherheit ist, und deswegen dafür gesorgt, dass ich Scratch davon weglotse.« Ihre Augen weiteten sich. »Oh Gott! Er ist bei mir zu Hause! Bei meinen Eltern!«
»Hey, hey!«, beruhigte Seth sie. »Keine Panik. Wenn Tall Jake nicht weiß, dass du den Shard hast, kann deinen Eltern nichts passieren, solange du weg bist.«
»Und wenn er es herausfindet?« Kady lief aufgeregt hin und her. »Warum hat Scratch mich überhaupt verfolgt, wenn es nicht um den Shard ging? Er hat gesagt, dass er sich aus dem Comic an mich erinnert und dass sie schon eine ganze Weile hinter mir her sind. Ich muss irgendetwas getan haben, während ich hier war. Aber was?« Sie wirbelte herum. »Seth, ich muss dringend zurück! Ich muss dieses Ding aus dem Haus schaffen!«
»Du kannst nicht zurück. Wenn du nach Hause gehst, vergisst du doch wieder alles, was hier passiert ist.«
Kadys Miene erhellte sich plötzlich.
»Stimmt, ich kann nicht zurück«, sagte sie. »Aber du.«
2
»Du willst mich hypnotisieren?«, fragte Seth ungläubig.
»Genau. Du hast doch gesehen, wie gut das bei Henry Galesworth geklappt hat. Seine Erinnerungen an Malice waren nicht komplett ausgelöscht, sondern nur unterdrückt, und ich hab ihn dazu gebracht, sich wieder zu erinnern.«
»Ja, genau– und danach ist er komplett ausgeflippt.«
»Das tut nichts zur Sache.« Kady winkte ab. »Entscheidend ist, dass man anscheinend an die Erinnerungen rankommen kann. Ich bin mir sicher, dass man sie wieder aktivieren kann, wenn man sich nur richtig vorbereitet.«
»Wie soll man sich denn bitte schön darauf vorbereiten?«, fragte Justin.
»Mithilfe einer sogenannten posthypnotischen Suggestion. Ich befehle Seth unter Hypnose, dass er sich an alles, was er hier erlebt hat, erinnern soll, sobald er den posthypnotischen Auslöser erkennt. Dieser Auslöser kann alles Mögliche sein: ein bestimmter Geruch, ein Wort, ein Geräusch, egal was. Sobald er den Auslöser erkennt– und das tut er automatisch, weil ich es ihm unter Hypnose befehlen werde–, kommen die ganzen unterdrückten Erinnerungen wieder an die Oberfläche.« Sie biss sich auf die Unterlippe und sah Seth unsicher an. »Theoretisch müsste das klappen.«
»Glaubst du, dass du das schaffst?«, fragte Seth skeptisch. »Als du das letzte Mal versucht hast, mich zu hypnotisieren, bin ich eingeschlafen.«
»Dann mach ich es diesmal eben besser«, gab sie leicht beleidigt zurück. »Oder hat einer von euch vielleicht einen anderen Vorschlag?«
»Kannst du nicht einfach alles auf einen Zettel schreiben und ihm den ans T-Shirt heften?«, schlug Justin vor.
»Hast du was zu schreiben dabei?«
»Du bist doch diejenige, die eine komplette Wohnungseinrichtung einschließlich Küchenspüle und Badewanne im Rucksack mitgeschleppt hat. Willst du mir jetzt etwa erzählen, dass du keinen Stift und kein Papier dabeihast?«
»Mir hatte gerade ein Kater gesagt, dass ich fliehen solle. Da denk ich ja wohl nicht als Erstes daran, ausgerechnet mein Schreibzeug einzupacken.«
»Das würde sowieso nichts bringen«, mischte Seth sich ein. »Du hast doch gesehen, wie Henry reagiert hat, als du ihm den Comic gezeigt hast. Wenn ihr mir einen Zettel mitgebt, würde ich ihn vielleicht einfach wegschmeißen oder eine Panikattacke bekommen. Das ist zu riskant.«
»Heißt das, du machst mit?«
Er seufzte. »Kady…«
»Du musst! Ich kann mich nicht selbst hypnotisieren und den da schicke ich bestimmt nicht zu uns nach Hause.« Sie machte eine vage Handbewegung in Richtung Justin.
»Vielen Dank für dein Vertrauen«, sagte der sarkastisch. »Aber ich würde sowieso nicht gehen. Ich muss mich um meinen eigenen Kram kümmern.«
Sie beachtete ihn gar nicht, sondern sah Seth flehend an. »Abgesehen davon kennen meine Eltern ihn nicht und würden ihm den Shard niemals geben. Du bist der Einzige, der infrage kommt. Du musst dieses Ding aus dem Haus schaffen, bevor Tall Jake mitkriegt, wo es ist. Es geht um meine Eltern, Seth. Wenn sie ihm im Weg sind…« Sie beendete den Satz nicht, sondern packte Seth hart an der Schulter. »Bitte!«
Justin rieb sich über seine kurzen Haare. »Alter, bist du dir sicher, dass du das machen willst? Willst du echt zurück?«
Seth brütete eine Weile vor sich hin. Er dachte an den Schaffner, die Zischler und den Zeithüter, an die Schlingmolche, die Blutbestie und an das, was die Laq mit ihm gemacht hatte. Er dachte an die Landschaft, auf die er auf dem Weg vom Uhrenturm zur Oubliette einen flüchtigen Blick geworfen hatte, und er dachte daran, dass er gerade in der Behausung eines Lebewesens stand, das anscheinend eine Art sprechende Pflanze war– und dass ihm das alles mittlerweile kein bisschen ungewöhnlich vorkam.
Malice war furchterregend und zugleich voller Wunder. Ihm war bewusst, dass viele sagen würden, es sei ein wahr gewordener Albtraum, aber für ihn war es vor allem eine völlig neue Welt. Die einzige Welt, die er jemals zu entdecken hoffen konnte. Die alte Welt war längst bis in den letzten Winkel kartografiert und erforscht. Die Chance, in seinem Leben jemals vom Planeten Erde wegzukommen, lag praktisch bei null, und er lebte in einem toten Zeitalter, das ihm nichts bieten konnte.
Aber hier in Malice warteten Abenteuer. Hier drohten Gefahren. Hier hatte er Monstern gegenübergestanden und sie besiegt. Da, wo er herkam, konnte man Milliarden verdienen, ein von allen umschwärmter Popstar werden oder als Politiker ein ganzes Land regieren, aber das Gefühl würde nicht einmal annähernd an das herankommen, was er hier empfunden hatte.
Ich brauchte einen Helden. Dich habe ich auserwählt.
Konnte er nach allem, was er hier erlebt hatte, einfach wieder zurückkehren und mit seiner Mutter im Einkaufszentrum shoppen gehen?
Andererseits war er der Einzige, der diese Aufgabe übernehmen konnte, und irgendjemand musste es tun. Skarla hatte Recht. Es war ihre einzige Hoffnung, Tall Jake zu stoppen. Er musste den Shard holen, bevor Tall Jake herausfand, wo er war. Er musste ihn aus Kadys Haus wegbringen. Solange er dort war, schwebten ihre Eltern in Lebensgefahr.
Er musste zurück– auch wenn es bedeutete, dass er all das vielleicht für immer verlor. Auch wenn es bedeutete, dass er Kady ein zweites Mal allein zurücklassen musste.
Er konnte nicht anders. Er musste gehen. So war er nun mal.
3
»Stell dir vor, du stehst auf der obersten Stufe einer langen Treppe. Du gehst langsam hinunter. Es sind insgesamt zehn Stufen. Mit jeder Stufe wirst du dich entspannter fühlen.«
Seth nickte schläfrig. Er saß in einem von Skarlas verschlissenen Sesseln. Die Wärme des Feuers und Kadys beruhigende, monotone Stimme hatte ihn schon so entspannt, dass er kaum noch den Kopf gerade halten konnte.
»Und jetzt gehst du ganz langsam die Stufen hinunter, die erste… die zweite… die dritte…«
4
Seth schlug blinzelnd die Augen auf. Er hatte nicht den Eindruck, dass viel Zeit vergangen war, und fühlte sich großartig. Die Erschöpfung und die Angst der vorangegangenen Tage waren mit einem Mal von ihm abgefallen und er strotzte nur so vor Zuversicht und Energie.
»Und? Hat’s geklappt?«, fragte er Kady, die ihm in dem anderen Sessel gegenübersaß. Tatyana lag wieder ausgestreckt und mit geschlossenen Augen vor dem Feuer. Ihre Metallhaut war so glühend heiß geworden, dass sie eine perfekte Säbelzahntiger-Heizung abgegeben hätte.
»Wenigstens bist du diesmal nicht eingeschlafen«, sagte Kady. »Aber ob es funktioniert hat, werden wir erst wissen, wenn du wieder zurück bist. Ich habe deinem Unterbewusstsein einen posthypnotischen Befehl gegeben. Wenn du von einer Welt in die andere übertrittst, wirst du alles vergessen, genau wie ich, wie Henry Galesworth und alle anderen. Aber sobald du den Auslöser findest, kommen die Erinnerungen wieder zurück.«
Seth stand auf und streckte sich ausgiebig. »Und was ist der Auslöser?«
»Mach dir darüber keine Gedanken, du würdest es sowieso wieder vergessen.« Kady stand ebenfalls auf. »Ich hab etwas genommen, was ziemlich… na ja, auffällig ist. Du wirst es merken, wenn es so weit ist.« Sie lächelte schwach. »Ich hab dir auch Scratchs Autokennzeichen gesagt. Das hab ich mir gemerkt, als er mich beinahe umgefahren hätte. Damit hast du dann schon mal was, womit du anfangen kannst, wenn du nach ihnen suchst.«
»Ich gehe bloß zurück, um den Shard zu holen«, sagte Seth. »Sobald ich ihn hab, komme ich zurück. Ich werde euch nicht vergessen, das verspreche ich. Ich finde dich, egal wo du dann bist.«
Kady schüttelte den Kopf. »Sag so was nicht. Ich kenne dich und deine Versprechen, Seth. Du würdest Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um sie einzulösen. Mach keine Versprechen, die du nicht halten kannst.«
Er sah ihr fest in die Augen. »Ich werde dich finden, das verspreche ich.«
Sie drehte sich weg, damit er die Tränen in ihren Augen nicht sehen konnte.
»Mach dir keine Sorgen, Alter.« Justin schlug Seth auf die Schulter und zeigte dann auf Tatyana. »Ich und Miss Weight Watchers werden gut auf sie aufpassen.«
Tatyana knurrte warnend, um ihm zu zeigen, dass sie längst nicht so tief schlief, wie es den Anschein hatte.
Kady verdrehte die Augen und lachte, auch wenn es eher nach einem Schluchzen klang. »Na super«, sagte sie ironisch. »Jetzt stecke ich mit diesen beiden Knalltüten in Malice fest.« Sie stieß Seth den Zeigefinger in die Brust. »Wehe, du kommst nicht ganz schnell wieder zurück!«
Seth sah Skarla an. »Wie kommen die drei jetzt wieder aus der Oubliette heraus?«, fragte er.
»Ich habe da so meine Schleichwege«, antwortete sie. »Die sind viel kürzer und sicherer als der Hinweg. Ich werde sie hinausführen.«
»Und was ist mit mir?«, fragte Seth.
Skarla deutete auf die runde Holztür. »Da entlang.«
»Was? So einfach ist das?«
»So einfach ist das.«
Seth sah von Kady zu Justin und wieder zu Kady. Der Moment des Abschieds war gekommen, alles war gesagt. Er wollte nicht darüber nachdenken, was passieren könnte. Die Vorstellung, all das zu vergessen– Kady, seine neuen Freunde, Malice– und für immer in eine Welt zurückzukehren, in der es mehr längst Tote als Lebende gab, war entsetzlich.
Er würde all seine Hoffnungen begraben müssen, all seine Träume, alles, was ihm wichtig war, und wäre nur noch der Schatten des Jungen, der er einst gewesen war. Genau wie Henry Galesworth.
Nein. Er durfte nichts vergessen. Und das würde er auch nicht.
Justin streckte ihm die Hand hin. »War mir ein großes Vergnügen und eine noch größere Ehre.«
Seth ergriff Justins Hand mit beiden Händen und schüttelte sie. »Geht mir ganz genauso.«
Kady umarmte ihn kurz, dann trat sie hastig einen Schritt zurück und rieb sich mit dem Handrücken über die Nase.
»Also dann, Tatyana«, sagte Seth. »Man sieht sich.« Die Säbelzahntigerin hob den Kopf, blinzelte träge, dann ließ sie den Kopf wieder sinken und schloss die Augen.
»Katzen«, brummte Seth. »Diese Viecher sind doch alle gleich.«
Kady musste lachen. Dann stürzte sie auf ihn zu und umarmte ihn, so fest sie konnte. Er spürte ihre Tränen an seinem Hals und bekam Bauchschmerzen. Er wollte bleiben. Er wollte so gerne hier bei ihr bleiben.
Dann riss sie sich von ihm los und lief schluchzend aus dem Zimmer.
Seth sah ihr erschrocken und fast ein bisschen verletzt hinterher. Justin warf ihm einen mitfühlenden Blick zu.
»Ich kümmere mich um sie, Alter, keine Sorge. Ich werde auf sie aufpassen. Wir suchen Havoc und hinterlassen dir, wo es geht, Nachrichten, damit du weißt, wo wir sind. Sieh zu, dass du zurückkommst, okay?«
»Ich komme zurück«, versprach Seth. »Verlass dich drauf.«
»Noch was…« Justin zögerte.
»Was?«
»Kann ich mein Shirt wiederhaben?«
Seth sah an sich herab. Er trug immer noch Justins Kapuzenshirt, das seine Freunde ihm angezogen hatten, als er sich von der eiskalten Berührung der Laq erholt hatte.
»Weißt du, ich würde dich normalerweise nicht drum bitten, aber du gehst nach Hause und ich glaub nicht, dass ich in nächster Zeit bei H&M vorbeikomme.« Justin grinste.
Seth streifte es über den Kopf und gab es Justin zurück. Und weil es ihm richtig erschien, umarmte er dann auch Justin.
»Gute Reise, Alter«, sagte Justin.
Seth nickte. Er ging zur Tür und machte sie auf. Dahinter lag ein irdener Tunnel, der so dick mit Wurzeln und Schlingpflanzen bewachsen war, dass man nicht sehen konnte, was dahinterlag. Aber es wehte eine kühle Brise und Seth wusste sofort, dass es heimische Luft war. Sie roch ein ganz klein bisschen anders als die in Malice.
Er zögerte einen Moment, dann trat er in den Tunnel und zog die Tür hinter sich zu.