Sechs ist die Zahl
1
»Warte kurz. Ich hab da was, was du dir unbedingt anschauen musst.«
Es dämmerte bereits. Die Bäume rauschten im warmen Augustwind und eine Böe fegte abgerissene Zweige über das Pflaster. Durch Risse in der Wolkendecke leuchtete hell der dreiviertelvolle Mond.
Heather stand am Fenster von Lukes Zimmer und schaute in den Hof. Unten saß ein großer schwarzer Kater, der unverwandt zu ihr hinaufstarrte.
Sie drehte sich um und blickte in das Zimmer, das im Grunde genauso aussah wie das ihres Bruders oder irgendeines anderen Jungen. Langweilig weiß gestrichene Wände, Poster von irgendwelchen Bands und überall zerknitterte Klamotten, die Luke beim Ausziehen achtlos irgendwo hingeworfen hatte. Er stand mit dem Rücken zu ihr vor seiner Wäschekommode und wühlte in einer der Schubladen. Sie betrachtete lächelnd seinen schmalen, hoch aufgeschossenen Körper und die zerzausten roten Haare.
Luke war in der Schule beliebt und hatte viele Freunde, aber Heather war seine älteste Freundin. Die beiden hatten schon als Fünfjährige miteinander gespielt.
Aus dem Untergeschoss des Hauses drang kein einziger Laut. Lukes Mutter war ausgegangen und Luke hatte die Gelegenheit genutzt, Heather zu fragen, ob sie am Abend noch bei ihm vorbeikommen könne. Er habe da etwas, was er ihr zeigen wolle.
Ein Geheimnis.
Und Heather liebte Geheimnisse.
Jetzt nahm er verstohlen etwas aus der Kommode, schob die Schublade zu und ließ sich mit Schwung auf sein Bett fallen. Über das ganze sommersprossige Gesicht strahlend klopfte er neben sich auf die Matratze. »Komm.«
Heather kam der Aufforderung bereitwillig nach, gespannt darauf zu sehen, was das für ein Geheimnis war.
Aber als er ihr einen rechteckigen Umschlag aus matt schimmerndem schwarzem Wachspapier zeigte, lief es ihr kalt über den Rücken.
Sie nahm ihn Luke aus der Hand und starrte stumm auf das blutrote Logo auf der Vorderseite: ein Sechseck, in dem ein spitzes M prangte.
Der Umschlag war zwar zugeklebt, aber sie wusste auch so, was er enthielt. Sie hatte von Malice gehört.
»Wo hast du den her?«, fragte sie.
Luke stieß sie sanft mit der Schulter an und grinste. »Ist doch egal. Na los, worauf wartest du? Mach ihn auf!«
Heather sah erst ihn und dann den Umschlag mit dem Comic in ihrer Hand an. Sie zögerte. Plötzlich kam es ihr so vor, als hätte die Stille um sie herum noch zugenommen, es war fast so, als würde das Haus die Luft anhalten– nicht einmal der Wind draußen war mehr zu hören.
Hastig warf sie Luke den Umschlag in den Schoß. »Nein, mach du lieber.«
Er sah sie verwundert an und zuckte dann mit den Schultern. »Wie du willst.«
Behutsam löste er die Klebelasche und zog das Comicheft heraus. Heather wandte das Gesicht ab.
»Was hast du denn?«
Sie sah ihn bloß stumm an. Wie hätte sie ihm das Unbehagen beschreiben sollen, das ihr langsam über den Rücken kroch, ohne dass es sich kindisch anhörte?
»Wollen wir uns das Heft zusammen anschauen?«, fragte Luke.
Heather nickte. Was blieb ihr auch anderes übrig? Ihr war zwar mulmig zumute, aber sie wollte auf gar keinen Fall, dass Luke sie für feige hielt. Davon abgesehen gab es überhaupt keinen Grund, Angst zu haben, auch wenn in der Schule die unheimlichsten Gerüchte über diesen Comic umgingen. Es waren schließlich nur ein paar Bilder in Kästchen, Druckerschwärze auf Papier.
In der ersten Geschichte ging es um ein Mädchen, das in einem Labyrinth aus Glaswänden und Drähten gefangen war. Sie versuchte in die Mitte des Labyrinths zu gelangen, wo sich anscheinend irgendetwas befand, was sie haben wollte. Aber das Drahtgewirr zog sich immer enger um sie zusammen und drohte, sie einzuwickeln. Sie verlor mehrmals die Orientierung, weil sich die Wände ständig verschoben, und wurde von einer Art humpelndem Roboter verfolgt, der aus scharfkantigen Metallteilen zusammengebaut war und eine Tropfenspur aus Öl hinter sich herzog. Er war ihr gefährlich dicht auf den Fersen und würde sie jeden Moment eingeholt haben.
»Fertig?« Luke sah Heather fragend an, bevor er umblätterte. Sie versuchte, der Geschichte zu folgen, aber die Bilder wurden immer grausamer.
Irgendwann ertrug sie es nicht mehr. In den Augen dieses Mädchens lag echte Todesangst. Sie sah aus, als würde sie tatsächlich um ihr Leben rennen.
Heather wandte den Blick ab. »Mir gefällt der Comic nicht«, sagte sie leise.
»Warum denn nicht?«
Sie wusste nicht, wie sie es ihm erklären sollte. Wahrscheinlich würde Luke denken, sie sei überempfindlich, aber das war ihr jetzt auch egal. »Ich hab einfach keine Lust mehr weiterzulesen.«
Er schlug das Heft zu und legte es neben sich. Auf seinem Gesicht breitete sich ein ungläubiges Grinsen aus. »Sag bloß, du glaubst diese Schauermärchen, die sich alle erzählen!«
Heather stand auf, ging zum Fenster, verschränkte die Arme vor der Brust und starrte mit zusammengepressten Lippen nach draußen.
Sie hasste es, wenn man sich über sie lustig machte. Und bestimmt dachte Luke jetzt: Typisch Mädchen! Dabei hatte sie einfach nur keine Lust, diesen dämlichen Comic zu lesen. Schließlich musste sie ja nicht alles gut finden, was er gut fand.
Der schwarze Kater saß immer noch an genau derselben Stelle wie vorhin und starrte zu ihr hinauf.
»Ach komm, Heather!« Luke sprang vom Bett.
Sie drehte sich zu ihm um, sah ihm aber nicht in die Augen. »Es tut mir leid. Ich wollte dir keine Angst machen. Echt nicht.«
»Ich hatte keine Angst«, murmelte sie, spürte aber, wie sie dabei rot wurde. Sie wurde immer rot, wenn sie log.
»Du glaubst doch nicht, dass das wirklich echte Menschen sind, oder?«, sagte Luke. »Das ist doch bloß so ein Gerücht, damit man sich beim Lesen noch mehr gruselt. Obwohl ich es schon ziemlich krank finde, dass der Zeichner angeblich die Fotos von vermissten Jugendlichen aus der Zeitung als Vorlage für die Comicfiguren benutzt.« Er verzog das Gesicht.
»Ist das nicht sogar strafbar?«, fragte Heather.
»Kann schon sein. Aber solange keiner weiß, wer der Zeichner ist und wo er wohnt, kann ihm nichts passieren.« Luke kratzte sich unbehaglich im Nacken. Plötzlich leuchteten seine Augen auf. »Weißt du was? Ich werde es dir beweisen!«
»Was denn?«, fragte Heather, aber da kniete Luke sich schon vor seinen Schrank und holte eine Porzellanschüssel und eine Plastiktüte heraus. Er ließ sich im Schneidersitz auf dem Boden nieder, stellte die Schüssel vor seine Füße und winkte Heather zu sich.
Sie setzte sich zögernd neben ihn und wäre eigentlich am liebsten wieder aufgestanden und gegangen.
Du bist echt kindisch, sagte sie sich. Malice… Tall Jake– das Ganze ist doch bloß eine Gruselgeschichte.
Sie zwang sich, sitzen zu bleiben, und versuchte, sich ihr Unbehagen nicht anmerken zu lassen, während Luke die Tüte auf dem Boden ausleerte. Es gelang ihr sogar, schwach zu lächeln, als er sie erwartungsvoll ansah.
Mit beinahe feierlichem Ernst legte er die Sachen aus der Tüte nacheinander in die Schüssel und bereitete alles vor. Sie wussten beide, was zu tun war. Die meisten Jugendlichen kannten das Ritual, aber nur die Wenigsten hatten den Mut, es tatsächlich durchzuführen.
Zuerst legte Luke eine schwarze Vogelfeder in die Schüssel. Dann einen Zweig. Danach ein Büschel Katzenhaare.
»Die Feder und den Zweig hab ich aus dem Wald«, erklärte er ihr. »Und die Katzenhaare waren auch kein Problem. Meine Tante hat doch zwei Katzen. Zehn Minuten in ihrem Wohnzimmer reichen, und man ist von oben bis unten vollgehaart. Und für das Ritual darf man ja nur Haare benutzen, die von selbst ausgefallen sind.«
Die vierte Zutat war eine Träne. Diesmal erklärte Luke nicht, wo er sie herhatte. Er hielt nur wortlos ein kleines Plastikdöschen über die Schüssel, aus dem ein durchsichtiger Tropfen fiel, der sofort von dem Katzenhaarbüschel aufgesogen wurde.
Als Nächstes griff er nach einer Nagelschere, die ebenfalls in der Tüte gewesen war, beugte sich vor und schnitt eine Strähne seiner eigenen Haare ab. Er legte sie in die Schüssel und hielt die Schere dann Heather hin. Als sie stumm den Kopf schüttelte, sah er zwar kurz enttäuscht aus, versuchte aber nicht, sie zu überreden.
»So. Und jetzt kommt die sechste und letzte Zutat.« Er hielt ein Feuerzeug in die Höhe. »Feuer.«
»Ist es nicht gefährlich, in deinem Zimmer zu zündeln?«, fragte Heather in der schwachen Hoffnung, dass er es sich noch mal anders überlegen würde. Aber Luke sah sie nur mit hochgezogenen Augenbrauen an, als hielte er sie für einen Angsthasen.
Er näherte sich mit der Flamme dem kleinen Häufchen in der Schüssel. Die Katzenhaare fingen sofort Feuer und setzten den Zweig, die Feder und Lukes rote Haarsträhne in Brand. Heather musste hustend den Kopf wegdrehen, weil der Gestank so beißend war.
»Komm und hol mich, Tall Jake«, sagte Luke und sah Heather dabei grinsend an. »Komm und hol mich, Tall Jake! Komm und hol mich, Tall Jake.«
»Hör auf«, sagte Heather leise.
»Komm und hol mich, Tall Jake! Komm und hol mich, Tall Jake!«
»Hör auf!« Diesmal schrie sie.
»Man muss es sechsmal hintereinander sagen, bevor das Feuer ausgegangen ist.«
»Tu’s nicht.«
»Ach komm, Heather. An der Geschichte ist nichts dran. Genau das versuche ich dir doch gerade zu beweisen.« Seine Stimme klang jetzt leicht gereizt.
»Du brauchst es mir aber nicht zu beweisen! Mich interessiert dieser blöde Comic nicht!«
Luke sah sie stumm an. Dann öffnete er den Mund und sagte sehr bestimmt: »Komm und hol mich, Tall Jake.«
Heather hielt den Atem an. Gleich würde etwas ganz Schreckliches passieren, das spürte sie genau. Eine plötzliche Windböe rüttelte am Fensterrahmen und ließ die Bäume draußen erzittern. Heather sprang auf, rannte zum Fenster und starrte in die Dunkelheit hinaus. Die Katze war verschwunden.
Sekunden verstrichen. Heather wartete. Sie wagte es nicht einmal, Luft zu holen.
Aber alles blieb, wie es war. Das Schreckliche passierte nicht.
»Ich hab dir doch gesagt, dass das alles Quatsch ist.« Luke stand auf. Die winzige Flamme in der Schüssel war erloschen. »Siehst du? Es gibt überhaupt keinen Grund, vor irgendetwas Angst zu haben.«
Heather stieß langsam die Luft aus, die sie angehalten hatte, ohne es zu merken. Auf einmal musste sie lachen– aus Nervosität, aber auch aus Erleichterung. Als Luke ebenfalls lachte, wurde ihr klar, dass er genauso erleichtert war.
»Du warst dir auch nicht sicher, ob an der Geschichte nicht doch was dran ist«, sagte sie vorwurfsvoll. »Du hast bloß so getan, als würdest du sie nicht glauben!«
Er grinste. »Kann sein. Ein bisschen vielleicht. Ganz schön aufregend, was?«
Sie knuffte ihn in die Seite. »Blödmann. Ich wäre fast gestorben vor Angst!« Sie lachte wieder.
In diesem Moment…