Eine Warnung
1
Kady griff nach dem Umschlag, der auf ihrem Bett lag. Sie ging unruhig im Zimmer auf und ab und starrte auf das vom Mondlicht beschienene Cover. Schwarz. Schwärzestes Mattschwarz, das keinerlei Antworten bereithielt. Nur das leuchtende, blutrote M innerhalb des Sechsecks.
Sie war so wütend, dass sie keinen klaren Gedanken fassen konnte, hatte so entsetzliche Angst, dass sie kaum still stehen konnte. Sie war… erschüttert.
Wie hatten sie es wagen können, ihre Erinnerungen zu manipulieren? Wie hatten sie es wagen können, ihr dieses Theater vorzuspielen? Der wunderschöne Sommer in San Francisco, die Geburtstagsparty, die Zeit mit Jess– alles Erlebnisse, die nie stattgefunden hatten. Erinnerungen, die ihr gerade brutal geraubt worden waren.
Ihr Verstand sagte ihr zwar, dass all das in bester Absicht geschehen war, aber sie wollte jetzt nicht vernünftig sein. Sie hatte das Gefühl, jeden Moment durchzudrehen. An dem Hass und der Verwirrung zu ersticken. Tränen brannten ihr in den Augen.
Sie setzte sich aufs Bett, legte den Umschlag neben sich und holte tief Luft. Denk nach, Kady. Denk nach.
Es war nicht nur der Verrat. Es ging ihr noch nicht einmal darum, dass man ihr vier Monate ihres Lebens– die besten vier Monate, die sie seit langer Zeit gehabt hatte– gestohlen und vor ihren Augen in Stücke gerissen hatte.
Nein, das, was sie schier um den Verstand brachte, war die Tatsache, dass sie in Malice gewesen war– ganze vier Monate lang– und keine Ahnung hatte, was dort geschehen war.
Komm schon, ermahnte sie sich streng. Setz die einzelnen Puzzlestücke zusammen. Versuch irgendwie einen Sinn in das Ganze zu bringen.
Also gut: Sie war in London gewesen, als sie verschwand. Irgendwie musste sie von Malice erfahren haben. Vielleicht hatte sie angefangen nachzuforschen, was an dem Gerücht dran war, vielleicht war…
Plötzlich fiel ihr etwas ein. Sie sprang auf, schaltete das Licht an, riss ihren Schrank auf und suchte die Zeitung heraus, in der der Artikel abgedruckt war, der sie zu Henry Galesworth geführt hatte.
Die ganze Zeit hatte sie sich gefragt, wer um alles in der Welt diesen Zeitungsartikel markiert haben könnte. Jetzt wusste sie es.
Sie selbst.
In der Zeit, in der sie in London gelebt hatte, musste sie Gerüchte über Malice und die Jugendlichen gehört haben, die angeblich verschwunden waren, nachdem sie den Comic gelesen hatten. Deshalb hatte sie den Artikel aufgehoben. Aber dann war sie selbst in Malice gewesen und nach ihrer Rückkehr hatte sie alles vergessen, genau wie Henry. Genau wie alle anderen alles vergessen hatten, denen die Flucht geglückt war.
Und als sie dann später nach Hathern gezogen waren, hatte sie die Zeitung zusammen mit den anderen Sachen eingepackt. Vielleicht hatte sie sie aufgehoben, weil eine innere Stimme ihr zugeflüstert hatte, dass sie wichtig war.
Okay, weiter. Kady dachte fieberhaft nach. Sie hatte also von Malice erfahren, während sie in London gewohnt hatte. Irgendetwas hatte sie neugierig gemacht. Vielleicht hatte sie irgendwo eine Ausgabe von Malice gefunden. Vielleicht hatte sie spontan beschlossen, das Ritual auszuprobieren. Oder war sie womöglich in dem Comicladen gewesen?
Ihr fiel wieder ein, was Icarus Scratch gesagt hatte, als sie ihn in dem Haus in Kensington belauscht hatte.
»Vor ein paar Tagen kamen zwei widerliche Blagen in den Laden. Ein Mädchen und ein Junge. Das Mädchen kam mir… ich kann nicht genau sagen, woran es lag, aber ich hatte bei ihr kein gutes Gefühl.«
»Mir scheint, Sie leiden unter Verfolgungswahn, Icarus Scratch.«
Und wenn Miss Benjamin sich geirrt hatte? Wenn Scratch bei ihrem Anblick aus gutem Grund ein ungutes Gefühl gehabt hatte?
Wenn er sie wiedererkannt hatte?
Falls sie tatsächlich in seinem Laden gewesen war, musste das über ein Jahr her sein. Natürlich hatte er sich nicht sofort an sie erinnert. Vermutlich war sie ja nur ein einziges Mal dort gewesen. Aber falls sie dort gewesen war und er sie wiedererkannt hatte…
Sie war also in dem Laden gewesen und Scratch hatte ihr ein Heft verkauft. Später hatte sie Tall Jake gerufen. Dann waren vier Monate vergangen und plötzlich tauchte sie wieder zu Hause auf, genau wie Henry.
Nur dass sie im Gegensatz zu ihm etwas aus Malice mitgebracht hatte– den merkwürdigen Geldschein und das Krakenwesen, das ein eiförmiges, halb durchsichtiges Mineral in seinen Fangarmen hielt.
Sie blickte zu der Skulptur in ihrem Regal.
Was ist das?
Von unten drang das Scheppern der Katzenklappe in der Hintertür zu ihr herauf. Marlowe war aus dem Garten hereingerannt gekommen. Wie die meisten Katzen hatte er plötzliche Energieschübe, auf die dann regelmäßig lange, faule Schlafperioden folgten. In dieser Beziehung waren sich er und Kady sehr ähnlich. Sie hörte, wie ihre Mutter überrascht aufschrie, als der Kater an ihr vorbeischoss.
Mit ihren Eltern würde sie sich später beschäftigen. Jetzt gab es Wichtigeres zu tun.
Sie griff nach dem Umschlag und riss entschlossen die Lasche auf.
2
Ob es ihr passte oder nicht, sie war in die Geschichte verstrickt. Sie war von Anfang an darin verstrickt gewesen. Bevor Luke und Seth verschwunden waren und bevor sie nach Hathern gezogen waren, war sie in Malice gefangen gewesen. Ganz egal, womit Miss Benjamin ihr drohte, sie konnte sich aus der Sache überhaupt nicht heraushalten– sie steckte längst mittendrin. Sie war an diesem grauenhaften Ort gewesen, hatte überlebt und war zurückgekehrt.
Kady war wütend. Auf Malice, auf Tall Jake, auf alles und jeden. Sie würde nicht zulassen, dass man ihr einfach so vier Monate ihres Lebens klaute. Sie ertrug es nicht, im Ungewissen zu leben, sich nicht daran erinnern zu können, was ihr in Malice widerfahren war und in welcher Gefahr sie geschwebt hatte. Was hatte Jess gesagt? Sie hatten nach ihr gesucht? Dann würden sie es wieder tun.
Jetzt konnte sie es sich nicht mehr leisten, Angst zu haben. Sie brauchte Antworten, und zwar dringend. Und sie würde sie sich holen– nichts konnte sie mehr aufhalten.
Vor der Tür erklang ein flehendes Miauen und sie hörte Marlowe am Holz kratzen. Seufzend stand sie auf, ließ ihn herein und setzte sich mit dem Comic wieder aufs Bett. Marlowe sprang neben sie und stupste immer wieder mit dem Kopf an ihren Ellbogen, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Sie streichelte ihn mit einer Hand, ohne hinzusehen. Er maunzte.
»Nicht jetzt«, murmelte sie und schob ihn weg. »Geh und nerv jemand anders.« Sie hatte jetzt wahrlich andere Probleme, als ihm den Nacken zu kraulen. Marlowe sprang beleidigt vom Bett.
Kady begann den Comic durchzublättern. Mit angehaltenem Atem ließ sie den Blick über die Bilder schweifen. Was sie sah, ähnelte dem, was sie in der Ausgabe von Seth gesehen hatte. Aus dem Zusammenhang gerissene Szenen, Jugendliche, die in einer surrealen Horrorwelt verzweifelt um ihr Leben kämpften. Geschichten, die mittendrin begannen und oft vor dem Ende aufhörten.
In einer Episode floh eine Gruppe von Freunden gemeinsam vor einer Horde hungriger Gespenster durch ein Schloss aus buntem Glas. In einer anderen wurden mehrere Jungs in eine Arena hinausgeschickt, in der sie gegen einen Riesen kämpfen mussten. Einer der Jungen wurde aufgefressen. Sie blätterte rasch weiter.
Ein plötzliches Scheppern ließ sie zusammenzucken. Marlowe war auf den Schreibtisch gesprungen und hatte eine Dose mit Stiften umgestoßen, die neben dem Computer gestanden hatte. Er begann die Stifte mit der Pfote herumzuschieben.
»Mensch, Marlowe!«, stöhnte Kady gereizt. Warum musste er ausgerechnet jetzt so ein Theater veranstalten? Er war doch sonst nicht so.
Kopfschüttelnd schlug sie die nächste Seite auf, als sie plötzlich Seth entdeckte. Ihr Herz machte einen Sprung. Seth! Er lebte! Er war mit zwei Jungen, die sie nicht kannte, auf einer Art Jahrmarkt, wo sie von einem Schwarm blutrünstiger Moskitos angegriffen wurden. Aber sie konnten sich in allerletzter Minute vor ihnen in Sicherheit bringen. Sie las, wie sie den mechanischen Säbelzahntiger entdeckten und den Kristall einsetzten, um ihn zu aktivieren. Dann kämpften sie gegen einen riesigen Gorilla und einer der Jungen starb.
Kadys Puls raste, sie hatte Gänsehaut. Sie wusste, dass das, was sie las, mehr war als nur eine Geschichte, und dass Seth nicht nur eine gezeichnete Figur war. Wenn er im Comic starb, starb er auch in Wirklichkeit.
Genau wie Luke.
Sie verbannte diesen Gedanken aus ihrem Kopf, als wäre er ein gefährliches Tier, das sich losreißen und auf sie stürzen könnte. Auch wenn sie Luke nicht besonders lang gekannt hatte, hatte sie ihn trotzdem so gern gehabt, dass sein Tod sie zutiefst erschütterte. Sie wollte sich gar nicht ausmalen, wie Seth sich fühlen musste. Kein Wunder, dass er sofort aufgebrochen war, um die Welt von Tall Jake zu befreien. Das war seine Art, dem Tod seines besten Freundes im Nachhinein wenigstens irgendeinen Sinn zu geben.
Auf der letzten Seite des Comics sah sie, wie Seths Begleiter irgendetwas aus der Tasche des toten Jungen zog und es Seth gab.
Sie beugte sich vor und betrachtete es mit zusammengekniffenen Augen.
Es war ein weißer Zettel mit einem gezackten Rahmen und einer großen Eins in einem Dornenkranz.
»Das gibt’s nicht!«, entfuhr es ihr.
Sie sprang zum Schreibtisch und riss die Schublade auf. Marlowe war immer noch damit beschäftigt, die Stifte auf der Tischplatte herumzurollen. Aber das war ihr im Moment egal. Mit fliegenden Fingern kramte sie den Schein aus der Schublade. Den Schein, den sie aus Malice mitgebracht hatte. Nur dass die Eins im Kreis nicht für einen bestimmten Geldwert stand, sondern für eine Zugfahrt.
Sie hatte ein Zugticket. Ein Zugticket nach Malice. Sie hatte es die ganze Zeit besessen.
Marlowe miaute kläglich.
»Was ist denn jetzt schon wieder?« Kady stöhnte auf. Allmählich wurde es ihr mit diesem Kater wirklich zu bunt! Sie wollte ihn gerade aus dem Zimmer jagen, als ihr Blick auf den Schreibtisch fiel.
Sie wurde kreidebleich.
Marlowe saß vor ihr und starrte sie an. Die Stifte zu seinen Pfoten waren so angeordnet, dass sie ein Wort ergaben.