Antoni Gaudí & der Modernisme
Der Beitrag Barcelonas zur Architekturgeschichte ist der Modernisme, eine extravagante katalanische Schöpfung des späten 19. und frühen 20. Jhs. Den Modernisme verkörpert besonders das visionäre Schaffen von Antoni Gaudí, dem großen Architekten. Seine dynamischen und äußerst phantasievollen Meisterwerke – darunter eine Kirche, die zum Wahrzeichen Barcelonas wurde – zieren zusammen mit den Werken von Josep Puig i Cadafalch und Lluís Domènech i Montaner die Stadt.
Meisterwerke des Modernisme
Zurück zum Anfang des Kapitels
EINE LEERE LEINWAND
In den 1850er-Jahren herrschten in den engen Straßen der Ciutat Vella, der Altstadt von Barcelona, durch Industrialisierung und rasantes Bevölkerungswachstum katastrophal beengte Wohnverhältnisse. Es war also Zeit, die mittelalterlichen Stadtmauern zu schleifen und die Stadt zu vergrößern. 1869 wurde der Architekt Ildefons Cerdà auserkoren, einen neuen Stadtteil zu entwerfen, der L’Eixample (die Erweiterung) heißen sollte.
Auf der Grundlage eines symmetrischen Straßengitters plante er breite Boulevards und Wohnviertel mit jeder Menge Grünflächen. Wegen der grassierenden Bodenspekulation in dieser Zeit setzten sich die Stadtplaner jedoch über diesen letzten Aspekt der Planungen hinweg. Da man quasi eine leere Leinwand vor sich hatte und viele wohlhabende Bürger der Stadt ihr neues Haus selbst planen wollten, waren Architekten stark gefragt. Womit die Stadtplaner allerdings nicht rechneten, war der Schöpfergeist dieser Architekten.
Zurück zum Anfang des Kapitels
ANTONI GAUDÍ
Den Weg wies Antoni Gaudí, der in Reus geboren wurde. Viele seiner Vorfahren waren Kupferschmiede, und so machte auch er eine Ausbildung zum Schmied. Als Kind war er häufig krank und litt u. a. an Rheuma. Er wurde schon früh zum Vegetarier. Als Student war er nicht gerade vielversprechend. Als er 1878 sein Architekturdiplom erhielt, soll der Schulleiter gesagt haben: „Niemand weiß, ob wir dieses Diplom einem Verrückten oder einem Genie verliehen haben. Es wird sich herausstellen.“
Das Buch der Natur
Als junger Mann war Gaudí am glücklichsten, wenn er draußen in der freien Natur war, und er entwickelte eine Faszination für die Pflanzen, Tiere und die Landschaft vor seiner Tür. Diese tiefe Bewunderung für die Natur sollte einen starken Einfluss auf seine Entwürfe haben. „Dieser Baum ist mein Lehrer“, sagte er einmal. „Alles kommt aus dem Buch der Natur.“ In seinem Werk versuchte er die Harmonie, die er in der Natur beobachtete, nachzubilden, und so mied er gerade Linien und bevorzugte kurvige und organische Formen.
Die Spirale einer Nautilusmuschel zeigt sich in den Details der Treppen und Decken, geschlossene Blumenblüten in Schornsteinen und Dachornamenten, während gewellte Bögen an Höhlen erinnern, überlappende Dachpfannen die Schuppen eines Gürteltiers nachahmen und fließende Wände den Wellen auf dem Meer ähneln. Baumäste, Spinnweben, Stalaktiten, Bienenwaben, Seesterne, Pilze, glitzernde Käferflügel und viele andere Elemente aus der Natur waren Teil von Gaudís Formensprache.
GEORGE ORWELL
Gänzlich unbeeindruckt von der Sagrada Família zeigte sich der britische Schriftsteller George Orwell, der den Kirchenbau als „eines der hässlichsten Gebäude der Welt“ beschrieb. Orwell hielt sich während des Spanischen Bürgerkriegs in Barcelona auf und schrieb später: „Ich denke, es zeugt vom schlechten Geschmack der Anarchisten, dass sie die Kirche nicht in die Luft sprengten.“
Katholik & Katalane
Gaudí war ein gläubiger Katholik und ein katalanischer Nationalist. Er ließ sich nicht nur von der Natur inspirieren, sondern auch von den großartigen mittelalterlichen Kirchen Kataloniens, und er war stolz darauf, die Baumaterialien zu verwenden, die das Land hergab: Lehm, Stein und Holz. Im Unterschied zur Überschwänglichkeit seiner Bauten führte Gaudí ein einfaches Leben und war sich auch nicht zu schade, an Türen zu klopfen und um Geld für den Bau der Sagrada Família zu betteln.
Als Gaudí immer experimentierfreudiger wurde, erschien er zunehmend als einsamer Wolf. Im fortgeschrittenen Alter wurde er fast ausschließlich von seinen festen religiösen Überzeugungen angetrieben. Einen großen Teil seiner zweiten Lebenshälfte widmete er dem Wahrzeichen der Stadt, der unfertigen Sagrada Família. Er starb 1926: Bei seinem täglichen Spaziergang zur Kirche Sant Felip Neri wurde er von einer Straßenbahn erfasst. Da er zerrissene Kleidung trug und außer einer Orangenschale nichts bei sich hatte, wurde der Verletzte anfänglich für einen Bettler gehalten und zu einem Krankenhaus in der Nähe gebracht, wo er auf einer Armenstation landete und zwei Tage später verstarb. Seiner Beisetzung wohnten Tausende bei. Sein Leichnam wurde in einer knapp 1 km langen Prozession zur Sagrada Família gebracht, wo er in der Krypta bestattet wurde.
So wie die Arbeiten an der Sagrada Família fortdauern, ist auch Gaudís Geschichte noch lange nicht zu Ende. Im März 2000 beschloss der Vatikan, den Antrag auf seine Heiligsprechung zu prüfen, und schon heute kommen Pilger in die Krypta der Kirche, um ihm Ehre zu erweisen. Einer der wichtigsten Bildhauer, die an der Kirche arbeiten, der Japaner Etsuro Sotoo, trat aufgrund seiner Leidenschaft für Gaudí zum Katholizismus über.
Gaudís Werke
Gaudís Werk ist ein leidenschaftlicher Aufruf zur kraftvollen Bewegung, jedoch oft mit einer traumhaften oder surrealen Note. Das private Wohnhaus Casa Batlló ist ein gutes Beispiel dafür: Alles erscheint als Aufruhr des unnatürlichen Natürlichen – oder des natürlichen Unnatürlichen. Nicht nur sind alle geraden Linien vollkommen verschwunden, sondern auch die Übergänge zwischen Realem und Irrealem, Nüchternem und Trunkenem, Strengem und Spielerischem erscheinen verschwommen. Je nachdem, wie man die Fassade anschaut, sieht man vielleicht den hl. Georg (einen der Schutzpatrone der Stadt), wie er einen Drachen tötet, einen großartigen, schillernden Fisch (ein Symbol der Völker des Mittelmeers) oder Elemente eines ausgelassenen Karnevalsumzugs.
Besonders viel Spaß scheint Gaudí an Dächern gehabt zu haben. Beim Palau Güell schuf er als Schornsteine alle möglichen phantastischen bunten Gebilde aus Kacheln, die überdimensionalen blütenähnlichen Bäumen ähneln und direkt aus Alice im Wunderland stammen könnten.
La Sagrada Família
Gaudís Meisterwerk ist die Sagrada Família, mit deren Bau 1882 begonnen wurde. In ihr sind viele der Ideen zu erkennen, die Gaudí über die Jahre entwickelte. Die gewaltigen Ausmaße der Kirche erinnern an die Pracht der gotischen Kathedralen Kataloniens, während die organischen Elemente vom Streben nach Harmonie mit der Natur zeugen.
Die Fassade der Geburt Christi, die einzige, die Gaudí zu Lebzeiten fertigstellte, weist Dutzende von Pflanzenarten auf; zwei der Hauptsäulen werden von Schildkröten getragen. Drinnen neigen sich gewaltige schraubenartige Säulen in dynamischen Winkeln wie große Baumstämme, verästeln sich oben und bilden ein Blätterdach. Die prächtigen Buntglasfenster erzeugen ein Lichtspiel mit lebendigen Farben – feurigen Rot- und Goldtönen und tiefen Blau- und Grüntönen; andere Fenster sind durchsichtig und symbolisieren so Reinheit.
Die Kirche steckt voller Symbole, die auf greifbare Weise Gaudís Glauben verkörpern: Die 18 Glockentürme symbolisieren Jesus, die Jungfrau Maria, die vier Evangelisten und die zwölf Apostel. Die drei Fassaden befassen sich mit Leben, Tod und Auferstehung Christi. Auch die Lage der Kirche ist eindrucksvoll: Die Fassade der Geburt Christi blickt nach Osten, wo die Sonne aufgeht; die Fassade der Passion Christi blickt nach Westen, wo die Sonne untergeht.
GEORGE LUCAS
Die ungewöhnlichen kriegerähnlichen Schornsteine der Pedrera sollen die Kostümbildner von George Lucas inspiriert haben, die die Figur des Darth Vader und die imperialen Sturmtruppen nach diesen außergewöhnlichen Formen schufen.
Zurück zum Anfang des Kapitels
DOMÈNECH I MONTANER
Lluís Domènech i Montaner (1849–1923) steht zwar im Schatten Gaudís, war aber dennoch einer der großen Meister des Modernisme. Er war ein weitgereister Intellektueller mit Kenntnissen auf allen möglichen Gebieten, von Mineralogie bis zu mittelalterlicher Heraldik. Er war Architekturprofessor, produktiver Schriftsteller und nationalistischer Politiker. Die Frage nach der katalanischen Identität und der Schaffung einer katalanischen Architektur füllten ihn voll und ganz aus. Insgesamt schuf er über ein Dutzend große Bauten.
Eines seiner Meisterwerke ist der überschwängliche Palau de la Música Catalana. Die Fassade schmücken fein gearbeitete gotische Fenster, Blumenmuster (Domènech i Montaner befasste sich auch mit Botanik) und Skulpturen von Figuren aus der katalanischen Volkskultur und der Musik, aber auch von ganz gewöhnlichen Bewohnern der Stadt. Der Konzertsaal überwältigt Besucher mit feinen blumenüberzogenen Kolonnaden, glitzernden Buntglaswänden und -decken und einem Bühnenportal voller Skulpturen, die auf verschiedene Musikwerke anspielen.
Sein anderes großes Meisterwerk ist das Hospital de la Santa Creu i de Sant Pau mit glitzernden Mosaiken an der Fassade und einem Buntglasoberlicht, das das Vestibül mit goldenem Licht erfüllt (wie Matisse glaubte auch Domènech i Montaner an die therapeutische Wirkung von Farben). Der Blumenschmuck, die vielen Skulpturen und die fein gearbeiteten Kuppeln zeugen von einem bemerkenswerten Sinn für Schönheit.
Zurück zum Anfang des Kapitels
PUIG I CADAFALCH
Wie Domènech i Montaner war auch Josep Puig i Cadafalch (1867–1956) ein Universalgenie: Er war Archäologe, Experte für romanische Kunst und einer der bekanntesten Architekten Kataloniens. Als Politiker und späterer Präsident der Mancomunitat de Catalunya war er eine der bedeutendsten Persönlichkeiten der katalanischen Nationalbewegung.
Eines seiner vielen modernistischen Juwele ist die Casa Amatller, die einen dramatischen Gegensatz zu Gaudís benachbarter Casa Batlló bildet. Hier gibt es sehr wohl gerade Linien wie auch ausländische Einflüsse (die Giebel sind an niederländische Vorbilder angelehnt). Dazu kommen noch die spielerischen pseudogotischen Skulpturen. Insgesamt schuf Puig i Cadafalch hier ein Haus von eindrucksvoller Schönheit und Schöpferkraft.
Zu den anderen wichtigen Werken von Puig i Cadafalch gehört die Casa Martí (besser bekannt als Els Quatre Gats), eines der ersten Gebäude im Stil des Modernisme in der Stadt (von 1896), mit gotischen Fenstern und originellen schmiedeeisernen Skulpturen. Auch auf dem Gebiet des Industriedesigns war er erfolgreich tätig, wie die Fàbrica Casaramona beweist, ein beeindruckendes Backsteingebäude, das mehr an eine mittelalterliche Festung als an eine Fabrik erinnert. Heute beherbergt es das ausgezeichnete Museum CaixaForum.
MODERNISME & KATALANISCHE IDENTITÄT
Der Modernisme in Barcelona stand freilich nicht allein. In England und Frankreich trat er unter dem Namen Art nouveau auf, in Italien als Lo Stile Liberty, in Deutschland als Jugendstil und in Österreich als Sezession. Die ihnen gemeinsame Vitalität lässt sich als modern, neu, freiheitlich und jugendlich zusammenfassen. Ein weiteres gemeinsames Element war die Sinnlichkeit, die Bewegung, Leichtigkeit und Lebendigkeit mit einschloss. Von dieser Strömung wurden Malerei, Bildhauerei, Kunstgewerbe und Architektur erfasst. Die leitmotivische Grundeinstellung war zum Teil beeinflusst von Prinzipien der japanischen Kunst.
Die Bezeichnung Modernisme ist allerdings etwas irreführend, da sie meist als „raus mit dem Alten, rein mit dem Neuen“ interpretiert wird. Aber das ist weit ent-fernt von der Realität. Beginnend mit Gaudí hat sich der Modernisme stets an der Vergangenheit orientiert – sei es an der Gotik, der islamischen Tradition oder der Renaissance. Und zu finden gab es da eine ganz Menge. Dort, wo der Modernisme am verspieltesten wirkt, ironisiert er die Regeln und Formen dieser ganz unterschied-lichen Architektur- und Kunststile auf intelligente Weise, um daraus einen spannen-den neuen Stilmix zu schaffen.
Auch die politische Dimension des Modernisme war von Bedeutung: Er entwickelte sich zu einem Mittel, um eine katalanische Identität auszudrücken. Im restlichen Spanien fand der Modernisme kaum Anklang; wo das dennoch der Fall war, waren zumeist katalanische Architekten beteiligt.
Rund 2000 Gebäude in Barcelona und in ganz Katalonien tragen zumindest Züge des Modernisme. Von luxuriösen Wohnanlagen bis zu Kirchen, von Krankenhäusern bis zu Fabriken wurde alles im Modernisme-Stil gestaltet. Allerdings ist der Modernisme im Grunde zu vielseitig, um ihn als einheitlichen „Stil“ zu definieren.
Die Mosaiktechnik trencadís wurde vor sehr langer Zeit von den Arabern erfunden, aber Gaudí war der erste Architekt, der sie wiederbelebte. Dabei werden aus Keramikfliesen oder Fragmenten zerbrochener Töpfer- oder Glaswaren auf Dächern, Decken, Schornsteinen, Bänken, Skulpturen und allen möglichen anderen Oberflächen mosaikartige Deckschichten geschaffen.
Zurück zum Anfang des Kapitels
MATERIAL & DEKO
Die Architekten des Modernisme vertrauten auf die Fähigkeiten von Handwerkern, deren Namen heute vergessen sind. Damals gab es zum Beispiel noch keinen Betonguss. Man verwendete stattdessen Ziegelsteine, Stahl- und Eisenrahmen, Buntglas und Keramikfliesen. In der Tat war es weitgehend das Dekor, bei dem sich der Modernisme am überschwänglichsten präsentierte.
Die für diese Arbeiten erforderlichen Handwerker waren die Nachkommen der Gildemeister vergangener Jahrhunderte und hatten ein enormes Wissen darüber angesammelt, was mit den vorhandenen Materialien möglich war und was nicht. Geschmiedetes Eisen und geschmiedeter Stahl waren neu, aber das Erlernen der Fertigkeiten im Umgang damit ähnelte der Art und Weise, wie man mit traditionelleren Materialien umging. Besonders Gaudí baute auf diese alten Fertigkeiten und veranstaltete selbst Workshops, um sie vor dem Vergessen zu bewahren.
Eisen wurde in dieser Zeit zu einem bevorzugten Baumaterial. Nirgendwo sonst ist das besser zu sehen als bei den neu erbauten Markthallen, wie zum Beispiel dem Mercat de la Boqueria, Mercat de Sant Antoni und Mercat de la Llibertat. Ihre großartigen Hallendächer sorgten nicht nur für genügend Schatten auf den darunter ausliegenden Waren, sondern waren auch eine Art Symbol für die Dynamik Barcelonas und den Erfolg der neuen Baustoffe.
Einer der bekanntesten Handwerker, die auf den Baustellen der Architekten des Modernisme arbeiteten, war der in Rom ausgebildete Bildhauer Eusebi Arnau (1864–1934). Er war u. a. am Hospital de la Santa Creu i de Sant Pau, am Palau de la Música Catalana und an der Casa Amatller beteiligt.