Wer war noch mal diese arme Studentin, die so über ihr Pensum gejammert hat? Die gepeinigte Zwangsbesitzerin eines gemeinen Schweinehunds, der ihr ständig ungezogen auf der Nase herumgetanzt ist?! Ich erinnere mich, dass sie mir schrecklich leidtat. Aber verstehen kann ich sie nicht mehr.
Das Lernen ist doch kein Problem! Ein bisschen lesen, ein paar Kreuze machen, der Acht-Stunden-Schreibtischtag vergeht im Flug und am Abend stehe ich von der Arbeit auf, als käme ich direkt aus dem Bett, ausgeruht und frisch.
In unserer Küche spielt Musik, Jenny hat beim vormittäglichen Testkreuzen mittelmäßig abgeschnitten und wiederholt jetzt Kardiologie, indem sie sich zur Radiomusik die Phasen des Herzzyklus vorsingt. Es läuft I Want To Break Free von Queen. »Mitralklappenschluhuss«, singt Jenny mit gequälter Miene leise vor sich hin. »Isovolumetrische Kontraktion, Öffnung der Aortenklahahappe.« Ich muss lachen, welch eine perfekte Methode!
»Austreibungsphase, Schluss der Aortenklappe, Isovolumetrische Entspannung, Mitralklappenöffnung«, singt Jenny, dann stockt sie und will ins Buch schauen. Aber weil ich die letzten drei Phasen weiß und sie gerade beinahe auf die Melodie passen, springe ich ein und schmettere auf God knohohows, God knows I’ve fallen in love – »Füll-ungsphase, Diastase, Vor-hof-kon-traktion.«
»Ich hasse deine Laune«, grinst Jenny. »Hast du vielleicht vergessen, dass wir nachher auch noch Nachtschicht haben?«
Nö. Ich wage gar nicht, ihr zu sagen, dass ich mich darauf freue. Als wir das letzte Mal Dienst hatten, habe ich mich erschöpft in die Klinik geschleppt und gejammert, dass die Arbeitszeit von der knappen Lernzeit abgeht – und mir eigentlich gewünscht, ich könnte stattdessen einfach ins Bett fallen. Heute empfinde ich die praktische Arbeit als perfekte Ergänzung zur Lernerei. Und müde bin ich seit 30 Stunden nicht gewesen.
Noch zwei Stunden bis zum Dienstbeginn. Ich habe gezögert, als Alex gestern Abend vorgeschlagen hat, dass wir beide vor meiner Nachtschicht zusammen Abendessen könnten. Schließlich müsste er für die 90 Minuten, in denen ich Zeit für ihn hätte, durch die halbe Stadt fahren. Und wieder zurück. Aber er fand, 90 gemeinsame Minuten seien das durchaus wert. Offenbar bin ich eine Frau, für die man gerne zwei Stunden Feierabendstau in Kauf nimmt – nur um dabei zu sein, wenn sie eine Schnitte isst.
Jetzt freue ich mich, dass er meine Einwände so fröhlich abgetan hat. Denn schließlich will eine Fast-Ärztin nicht nur lernen, sondern auch leben, eineinhalb Stunden mit Alex sind tausendmal besser als jede Kurz-baden-kurz-schlafen-Regeneration.
»Kann ich noch irgendwas für dich singen, bevor ich gehe?«, frage ich Jenny. Sie verneint und grummelt, dass ich ihren Freund lieber auch mal auf die Idee bringen könnte, sie zwischendurch mit Ablenkungsessen zu überraschen. Aber weil das höchst ungerecht ist, da Felix nun mal tagsüber einer geregelten Arbeit nachgeht, ignoriere ich sie geflissentlich.
»Ich schick euch was vom Asia-Imbiss hoch und du tust dann einfach überrascht«, schlage ich vor. Jenny tippt sich an die Stirn. »Spinnst du? Wenn ich nicht zwischendurch wenigstens rausgehen und auf der Straße eine Currywurst essen kann, seh ich doch überhaupt nichts vom Sommer! Und für unser armes Fräulein Prüfungspanik ist das auch überlebensnotwendig.«
Als ich mich von Isa verabschiede, sieht sie noch blasser aus als gestern und will von einem Currywurst-Ausflug nichts hören. »Kannst du uns nicht was vom Asia-Imbiss hochschicken lassen?«, fragt sie. »Ich habe erst ein Kapitel geschafft.«
Das verweigere ich entschieden – wenn sie essen möchte, muss sie den Schreibtisch verlassen, basta. Isa seufzt. »Eigentlich habe ich sowieso keinen Appetit. Mir war die halbe Nacht schlecht.«
»Dann gehst du nur mit und siehst zu, wie Jenny isst!«, ordne ich an. Sie gibt sich geschlagen, aber es wirkt, als sei das kurze Auf-die-Straße-gehen, das wir von ihr verlangen, für sie nur noch eine weitere anstrengende Aufgabe.
»Meinst du nicht, wir sollten Tom anrufen?«, frage ich Jenny, als ich ihr einschärfe, unbedingt auf Isas Lernpause zu bestehen. »Vielleicht kann er eine Weile herkommen? Vielleicht kann ER sie ein bisschen beruhigen?«
»Isa braucht keinen, der ihr sagt, dass sie es schafft«, entgegnet Jenny. »Sie braucht fulminante Ablenkung, bei der sie überhaupt nicht mehr ans Examen DENKEN kann!«
Bestimmt hat sie recht.
»Glaub mir, unsere Party wird ihr helfen, Druck abzubauen«, versichert Jenny. »So was ist genau das Richtige!«
Das könnte zwar stimmen, aber wir hatten doch beschlossen, keine Party zu veranstalten, bis das Examen überstanden ist.
»Das war noch NICHT entschieden!«, widerspricht Jenny. (Was bedeuten soll, dass wir beide noch nicht ihrer Meinung gewesen sind.) »Wir können doch ganz klein feiern – nur zu sechst«, lockt sie. Und weil es Isa tatsächlich guttun könnte und ich im tiefsten Herzen auch nicht von einem zwischen Rheumatologie und Immunologie vernachlässigten Geburtstag träume, schafft Jenny es, meine Meinung zu ändern, und bekommt mal wieder ihren Willen.
Alex schlägt einen »Ausflug ins Grüne« vor und als ich erkläre, dass das meine knappe Pause nicht zulässt, lacht er. Denn statt einer Fahrt ins Umland lädt er mich zum Essen an eine Imbissbude ein, die alles in Grün verkauft. Wortwörtlich Grasgrün. Grüne Spaghetti, grüne Milchshakes, sogar grüner Blechkuchen. Ich vermute, dass eine ziemliche Menge Lebensmittelfarbe im Spiel ist, aber die grüne Pasta schmeckt großartig, und ich nehme mir vor, Ruben von diesem spleenigen Imbiss zu erzählen. Vielleicht will er in der Klinikcafeteria auch mal eine farbige Woche veranstalten. Ich möchte gern Dr. Thierschs Gesicht sehen, wenn sie eine ganze Woche lang nur Lilagefärbtes serviert bekommt.
Nach unserem grünen Ausflug fährt Alex mich zur Klinik und verabschiedet sich mit einem langen Kuss und einem knappen: »Bis nachher.« Als ich ihn irritiert ansehe, lächelt er und erklärt, dass er mich heute Nacht abholt und nach Hause fährt. Falls ich nicht unbedingt um drei Uhr morgens in die S-Bahn möchte …
Heute Nacht werde ich gemeinsam mit Jenny zum Dienst in der Notaufnahme eingeteilt. Ich bin froh, dass meine Freundin schon einen dieser Dienste hinter sich hat; Schwester Mariannes Einweisung ist nämlich ziemlich knapp. Wieder läuft ein Film auf ihrem Computer, wieder hält sie ihn nicht für eine Sekunde an.
Jenny schenkt mir im Arztraum Kaffee ein und erklärt, das Schwerste sei, nicht vor Langeweile einzuschlafen.
Ich weiß nicht, wo SIE die letzte Nachtschicht absolviert hat. Von Langeweile kann keine Rede sein. Im Gegenteil, ich erinnere mich erst zwei Stunden später an meinen Kaffee – als der kalt ist. Bis jetzt habe ich eine Aufnahme nach der anderen gemacht, denn der Warteraum ist voll. Dr. Feinmann, der Assistenzarzt, der zum Nachtdienst verdonnert wurde, schickt die Patienten, denen ICH helfen kann, in meinen Behandlungsraum weiter.
Nachdem ich die leichte Verbrennung eines angeblichen Grillkönigs verarztet und einem Jungen, der über eine Bordsteinkante gestolpert ist, einen Nasenstützverband angelegt habe, bringt Schwester Anna eine Frau um die 40 zu mir. Beinbruch. Zumindest befürchtet Frau Scherer das; sie ist die Treppe heruntergefallen und hat starke Schmerzen.
Ich begleite die Frau zum Röntgen. Das Bein ist nicht gebrochen, sie hat sich nur eine Verstauchung zugezogen. »Sie haben Glück gehabt«, erkläre ich, »wir müssen nicht operieren.« Frau Scherer wirkt nicht so erleichtert, wie ich erwartet habe. »Und nun«, lächle ich, »behandeln wir nach der PECH-Methode.«
Sie sieht mich irritiert an.
»P wie Pause«, sage ich, »Sie laufen nächste Woche keinen Marathon. E wie Eis, Sie kühlen das Bein. C wie Compression, ich lege Ihnen einen Kompressionsverband an. Und H steht für hochlagern; Sie legen das Bein hoch und ruhen sich aus.«
»Pech«, wiederholt sie.
Ich nicke. »Und Sie haben Glück im Pech gehabt; vorhin hatte ich einen Patienten, der nun mit einem Nasenstützverband rumlaufen muss.« Nicht mal das entlockt ihr ein winziges Lächeln.
Habe ich irgendwas falsch gemacht? Ich lege einen Verband an und weil sie immer noch so still ist, frage ich sie, ob sie sich noch ein wenig hinlegen möchte. Hier bei uns.
Sie schüttelt den Kopf. »Ich muss ja nach Hause.«
Ich bringe sie zum Eingang. »Alles Gute«, wünsche ich, als sie ins Taxi steigt. Warum habe ich bloß so ein komisches Gefühl?
»War das Frau Scherer?«, fragt Schwester Marianne.
Ich nicke überrascht.
»Die arme Frau«, sagt Marianne knapp. »Kommt einmal im Monat mit komischen Geschichten her. Was hat sie Ihnen erzählt?«
Ich erkläre, dass Frau Scherer die Treppe runtergefallen und das sicher keine »komische Geschichte« ist, denn ich habe die Verletzung gesehen und … Im selben Moment geht es mir auf. Die Treppe runtergefallen – ist das nicht das schlimmste Klischee?!
Marianne zuckt die Achseln. »Solange sie nicht mit der Wahrheit rausrückt, kann man da nichts tun.«
Ich bin sprachlos. Entsetzt. Und ich habe Pech-Witze gemacht …
»Tja«, sagt die Schwester. »Sie behauptet, es sind Unfälle … und wir wissen es ja nicht.« Marianne schüttelt den Kopf, sieht wieder auf ihren Film.
Wie kann man so abgestumpft sein?! Wütend verlasse ich ihren Tresen. Dann wird mir klar, dass sie recht hat. Auch wenn mir ihre Art nicht gefällt. Ich kann gar nichts tun. Nur hoffen, dass es nicht stimmt. Ich hoffe und wünsche mit aller Macht, dass Marianne falschliegt.
Auf dem Weg zum Arztraum kann ich den Kaffee schon riechen. Er wird mir guttun. Ich brauche einen Moment zum Nachdenken.
In der Maschine steht nur noch die leere Kanne. Ringsum zeugen benutzte Becher davon, dass die Kaffee-Sehnsucht aller anderen ebenso groß war wie meine – aber ihr Glück oder Zeitmanagement günstiger. Seufzend setze ich neuen Kaffee auf; diesmal werde ich daneben stehen bleiben. Ich brauche ihn ehrlich.
Die Maschine keucht den ersten Schwall Kaffee heraus, als Jenny in den Arztraum platzt. Sie zerrt die Kanne aus der Maschine, die höchstens ein-Tassen-voll ist, und schenkt sich eilig Kaffee ein, während die Maschine den nächsten Schwapp ins Leere spuckt. Ah, das erklärt den Kokelrand aus verbranntem Kaffee auf der Heizfläche: Offenbar machen das alle so. Außer mir.
Hätte ich das nur auch getan! In dieser Nacht bekomme ich keinen Kaffee mehr. Denn bevor sich die nächste Tassenmenge in der Kanne angesammelt hat, wird Alarm gegeben – und als wir nach draußen stolpern, hastet ein Notarzt-Team von der Rettungswagenzufahrt in den Vorraum. Die Sanitäter rollen eine Trage herein, ein Mann mit schweren Verletzungen liegt darauf. »Verkehrsunfall«, ruft die Notärztin, »Schockraum.«
Ich stehe für einen Moment vollkommen nutzlos herum. Überfordert. Blut, lautes Rufen, eilige Handgriffe. Und ich tue gar nichts. Los, Lena, funktionieren!
Notärztin und Sanitäter schieben den Verletzten in den Schockraum. Ein Arzt eilt an mir vorbei in den Raum. »Verdacht auf mehrere kleinere Frakturen, wahrscheinlich Rippenbruch, Riss- und Quetschwunden«, erstattet der Sanitäter ihm Bericht.
»Erst zum Röntgen, dann wird genäht«, antwortet der Arzt in unsere Richtung.
»Ich übernehme das«, sagt jemand hinter mir. Jenny.
»Hat er schwere Atemnot?«, fragt sie den Sanitäter. Der schüttelt den Kopf. »Normal. Herz oder Lunge dürften nicht verletzt sein.«
»Sie klären das trotzdem ab«, nickt der Arzt Jenny zu.
»Selbstverständlich«, antwortet sie. »Wir wollen ja nicht, dass es zum Kollabieren der Lunge oder zu einer Einblutung in Lunge oder Brustkorb kommt.«
»Außerdem …«, setzt der Arzt an. Jenny fällt ihm ins Wort. »… könnte durch Einspießung der Rippen die Milz verletzt sein. Sonographie zum Ausschluss einer größeren Blutung. Danach werden wir Hämatothorax und Pneumothorax mittels CT ausschließen.«
Wow. Heute Vormittag noch hat sie über ihren Lernbögen nur geraten. Jetzt steht sie hier und weiß so sicher und schnell, was zu tun ist, als hätte sie nicht nur die Approbation, sondern schon stapelweise Facharzttitel in der Tasche.
Und du, Lena? Warum hast du nicht »Das mache ICH« gerufen? Wegen der blutigen Notverbände? Weil das dein erster Verkehrsunfall ist? Was wäre, wenn du jetzt hier allein wärst?
»Keine Sorge«, klopft mir der Arzt auf die Schulter, als Jenny mit dem Patienten verschwunden ist. »Sie kriegen auch noch was zu tun ab. Sie dürfen ihn dann zunähen und verpflastern.«
Ähm, Entschuldigung – das hier ist kein Wettkampf, wer die meisten Notfallversorgungen kriegt! Ich stehe hier nicht wie das Blümlein im Regen, weil nicht ICH mit dem Mann zu den Untersuchungen fahren durfte. Sondern weil ich gerade bezweifle, dass sie mir alle ebenso schnell eingefallen wären wie meiner Freundin … von der ich dachte, sie läge meilenweit zurück.
Nachdem wir die Frakturen und Wunden des Mannes versorgt haben, ist unsere Schicht endlich überstanden. Jetzt raus aus dem Kittel und rein in den Feierabend!
Moment. Unten am schwarzen Brett hängt eine Mitteilung.
Die nächste PJ-Fortbildung hält Tobias. Morgen.
Ich weiß, dass ich da hingehen muss. Wir alle. Eine Fortbildung darf man sich als Prüfling nicht entgehen lassen. Wenn der Oberarzt schon keine Privatkonsultationen gibt …
Kannst du das, Lena? Ihm dort ernsthaft deine Fragen zum Lehrstoff stellen? Ihm ins Gesicht sehen?
»Na klar!«, beruhige ich mich mit einer Lässigkeit, die sich nur dadurch erklären lässt, dass es noch Stunden dauert, bis ich sie beweisen muss. »Das ist doch nun kein Problem mehr! Zwischen uns ist doch alles geklärt.«
Nein. Nicht alles. Er weiß nicht, dass ich so schnell bin. Und schon mit Alex zusammen. Über Nacht. Als hätte ich nur auf sein »Viel Glück« gewartet.
Hab ich das?
Alex biegt mit quietschenden Reifen auf den Vorplatz ein, gerade als wir in die laue Sommernacht hinaustreten. »Einsteigen, meine Damen!« Jenny ist natürlich mit der Ente da und kann gar nicht verstehen, dass ich diese Mitfahrgelegenheit ausschlage. Als auch Isa Alex’ Angebot annimmt, spielt Jenny ein bisschen beleidigt, entschließt sich aber schnell, dann nicht nach Hause, sondern zu Felix zu fahren – »wenn ich euch EINMAL nicht kutschieren muss«.
Isa lässt sich auf den Rücksitz fallen, bedankt sich überschwänglich – und kaum dass Jenny davongebraust ist, gesteht sie, dass sie auf Jennys Beifahrersitz allabendlich mehr Nerven lässt als in der gesamten Nachtschicht. »Vielleicht geht es mir ja deswegen morgens immer so mies«, lacht sie müde. »Vielleicht kann ich deshalb nicht schlafen. Weil mein Unterbewusstsein Jennys Fahrweise nicht verarbeiten kann …«
»Dann entspann dich doch jetzt ein bisschen«, sagt Alex, fährt ganz behutsam in die Kurve und schiebt eine Kassette ins Radio. Benjamin Blümchen als Kinderarzt – er hat sie vorhin besorgt, für mich. Isa lächelt zufrieden und lässt sich ins Polster sinken. Als ich kurz darauf mit ihr darüber lästern will, welche erschreckenden Ähnlichkeiten Benjamins nervtötende selbsternannte Sprechstundenhilfe Karla Kolumna mit unserer Schwester Klara hat, ist Isa eingeschlafen.
Alex lächelt, dreht das Hörspiel leiser und fährt einen Extra-Umweg, damit wir Isa nicht gleich wieder wecken müssen. Wir unterhalten uns flüsternd und ich finde es urgemütlich.
Schließlich bremst er sanft vor unserem Haus, Isa rappelt sich auf, bedankt sich und schlurft schon mal voraus, damit wir uns pärchengemäß verabschieden können.
»Gute Nacht, Lena«, sagt Alex nach dem Abschiedskuss. »Geh ins Bett, du willst doch morgen wieder Leben retten.«
»Und was machst du?«, frage ich. Er grinst. »Ich komme mit hoch und guck dir ein bisschen beim Schlafen zu. Dann fahr ich zurück in die Bar, in der ich meine Jungs vorhin sitzen gelassen habe.«
Hey, ich möchte auch in eine Bar! Ich möchte loslassen, die ganze Nachtschicht vergessen.
»Die Vorstellung, dass du mir beim Schlafen zusiehst, ist ja ganz nett«, sage ich, »aber das könnte schwierig werden. Ich bin nämlich überhaupt nicht müde. Vielleicht verschieben wir das auf in drei bis vier Stunden?«
Er gibt Gas. »Die freuen sich sicher wie irre, dich zu sehen!«
Das tun sie. Alex’ Musikerfreunde sind die letzten Bar-Gäste, haben sich mit dem Barkeeper verbündet und sind in voller Fahrt. Sie haben die Tische beiseitegerückt und spielen Curling – mit Wischmobs aus der Putzkammer und Bar-Tabletts.
»Klasse, dass ihr kommt, jetzt können wir Dreierteams bilden und mit zwei Wischern spielen!«, empfängt mich der Gitarrist der Band begeistert. Ich zögere keine Sekunde, als Dennis und Ferdinand mich in ihr Team bitten. Wenn das nicht die Ablenkung ist, die eine Klinik-Nachtschicht vergessen lässt!
Alex verstärkt das Team des Barkeepers und des dritten Bandmitglieds – dessen Namen ich bis heute nicht erfahren habe, obwohl ich die Band nun seit Monaten kenne. Mit viel Gebrüll und übertriebenem Leistungssportler-Gehabe lassen wir die Tabletts durch den Raum schlittern, wischen in Höchstgeschwindigkeit mit den Mobs vor ihnen her und bejubeln jeden Sieg überschwänglich. Denn wir gewinnen am laufenden Band, weil Dennis und Ferdinand einen sensationellen Ehrgeiz entwickeln, während Alex, der Barkeeper und »dieser andere« nicht effizient mit den Wischmobs umgehen können. Als der Barkeeper vorschlägt, die Tabletts mit Schnapsgläsern vollzustellen, gibt es noch mehr zu wischen und das Spiel artet vollkommen aus. Aber offenbar bin ich die Einzige, die den Abend vollkommen verrückt findet; niemand sonst scheint sich an dem Geschrei, Getobe und Gespritze zu stören.
Als Alex’ Wagen wieder vor unserem Haus hält, geht die Sonne auf. »Bist du jetzt vielleicht müde, kleiner Häwelmann?«, fragt er lieb. Ich horche in mich hinein, mein Energie-Pegel ist ja wirklich unnormal. Aber nein, in mir drin ruft es: »Hurra, Sonnenaufgang! Brate zum Frühstück 20 Spiegeleier!«
Dieses Vorhaben muss wegen Eiermangels entfallen, aber ich koche Kaffee und lehne mich halsbrecherisch aus dem Fenster, um eine Blattdekoration für den Frühstückstisch vom Baum vor dem Küchenfenster zu reißen. Doch als ich mit dem Kaffee zurück in mein Zimmer komme, liegt Alex auf meinem Bett und schläft.
Ich möchte ihn nicht wecken, jemandem beim Schlafen zuzusehen, macht jedoch nicht halb so viel Spaß, wie er behauptet hat – schon gar nicht, wenn man hellwach ist, wie ich. Stattdessen trinke ich alleine Kaffee.
Ich schleiche durch die Wohnung und muss mich unheimlich zusammenreißen, die beiden Mädels nicht zu wecken, denn ich habe unbändige Lust, das Mitralklappenlied in die morgendliche Stille zu schmettern. Und dabei wird mir klar, dass ich gerade richtig Lust auf Kardiologie habe. Fünf Minuten später sitze ich am Schreibtisch und wiederhole die Koronarperfusion.
Irgendwo da draußen muss sich jetzt diese arme jammernde Studentin von ihrem gemeinen Schweinehund spazieren zerren lassen. Wer war sie noch mal?