Ich bin absolut nicht ich selbst. Ich stehe vollkommen neben mir. Neben dem Küchentisch. Und sehe auf das Probeexamen, das vor Lena liegt. Sie hat noch nicht eine Frage beantwortet.
Heute fällt es mir schweinehundsmäßig schwer, mich auf den Kreuz-Test zu konzentrieren. Isa ist schon auf der dritten Seite, selbst Jenny kreuzt beflissen vor sich hin, nur ich kann einfach nicht anfangen. Es geht nicht. Ich starre auf die Tisch-Uhr, fast eine Stunde ist schon rum. Die kleine Matrjoschka dreht den Kopf, noch 120 Minuten. Nachdem ich dieselbe Frage zum dritten Mal gelesen habe, sind es plötzlich nur noch 90. Die Matrjoschka dreht den Kopf so schnell, ihr muss doch schlecht werden. Nicht dass sie sich gleich auf den Küchentisch übergibt!
Dabei wollte ich doch nur noch ankreuzen, lesen, ankreuzen, mindestens Beste sein, Vorzeige-Abschluss machen. Aber keine Liebe, nur noch Karriere sagt sich so leicht … Wie soll man das bitte durchhalten, wenn einem gleich zwei Männer nicht mehr aus dem Kopf gehen?! Und das Tag UND Nacht!
1. Frage: Sie haben gestern einen Mann geküsst. Während der REM-Phase imaginieren Sie jedoch einen anderen. Für welche emotionale Dissonanz sprechen diese Symptome? 2. Frage: Welche Therapie ist bei der in Frage 1 diagnostizierten Störung empfehlenswert?
HILFE! Das ist tausendmal schwerer als der echte Fragebogen! »Was kann während eines primär generalisierten Grand-Mal-Anfalls am ehesten beobachtet werden?« Warum kann ich nicht wenigstens DAS beantworten? Enge oder weite Pupillen, die auf Licht reagieren – oder auch nicht. Ich reagiere definitiv auf Alex. Mit erweiterten Pupillen. Und Küssen. Und auf Tobias. Mit geschlossenen Augen. Und Traumküssen. Aber auf wen primär? Ach nein, dieses Adjektiv gehörte doch zu einer Frage, die hier WIRKLICH gestellt wurde!
Konzentrieren! Los! Grand-Mal-Anfall. Epilepsie.
Bevor ich mich für C) weite Pupillen, die auf Licht reagieren entscheiden kann, schrillt die Matrjoschka los. Ich kreuze noch schnell und regelwidrig an. C war richtig. Und ist meine einzige Antwort. 100 Prozent der gegebenen Antworten sind korrekt. Haha. Eine Frage von 80 – das bedeutet 1,25 Prozent. Durchgefallen mit Pauken und Trompeten. Und selbst das wäre mir heute egal, wenn ich die Fantasiefragen 1 und 2 beantworten könnte.
Ich winke einfach ab, als Isa den Antwortbogen auswerten möchte. Ich will ins Bett. Ohne zu träumen. Vielleicht schaue ich mir vor dem Einschlafen noch einen Gruselschocker an – Albträume garantiert, mit Fantasie-Auftritten von Dr. Thalheim sicher nicht zu rechnen. (Falls doch, wäre sein Auftauchen in meinen Träumen danach immerhin irgendwie umgewertet.) Ich könnte auch die ganze Nacht die Autogenes-Training-CD laufen lassen, die mir Tante Hanna geschenkt hat und die noch irgendwo sein muss! Wer die ganze Nacht von Dr. Heinrichs Grundlagen des Stressabbaus beschallt wird, unterlegt mit Vogelgezwitscher und Synthesizerklängen, hat garantiert keine beunruhigenden Träume!
Aber klar, daraus wird nix. Ich müsste es doch irgendwann mal lernen: Wenn ich der Meinung bin, dass mir nichts mehr hilft als ins Bett zu gehen und mit Dr. Heinrichs Vergessens-Training für immer dort zu bleiben, dann ist das garantiert das Einzige, was ich NICHT tun kann. Stattdessen werden Dinge von mir verlangt, wie ins Krankenhaus zu fahren und meine erste Nachtschicht anzutreten. Und zwar nicht »Dinge wie«, sondern genau das.
Wir quetschen uns in Jennys Ente und machen uns auf den Weg zum Krankenhaus. Jenny fährt wie immer rücksichtslos und unerlaubt schnell und ich höre Isa auf dem Beifahrersitz mehrfach angstvoll nach Luft schnappen – aber ich bin heute zu sehr mit mir selbst beschäftigt, um zur Kenntnis zu nehmen, wie oft wir nur knapp an Kollisionen vorbeischrammen; auch das Hupen der anderen Verkehrsteilnehmer untermalt nur wie aus weiter Ferne meine innere Mantra-Stimme. Mit aller Kraft rede ich mir die Situation schön, wie nur ich es kann. Arbeit ist prima. Du tust etwas Nützliches. Für andere UND für dich! Und wirst so beschäftigt sein, dass garantiert keine Ablenkung durch verwirrendes Kopfkino droht.
Wir melden uns bei der Nachtschwester in der Aufnahme. Marianne ist Mitte 40 und arbeitet angeblich schon über 20 Jahre hier. Hinter ihrem Tresen läuft ein Film auf einem Tablet-PC, den sie nicht anhält, um uns anzuweisen. »Chirurgie«, sagt sie zu Isa, »Notaufnahme« zu Jenny. Und ich? »Sie sind gar nicht eingetragen«, erklärt sie nach einem Blick zum Stationscomputer. Juchhu. Ich gehe ins Bett. Dr. Heinrich, ich komme.
Ich drehe mich um und will schon davonschleichen, als Schwester Marianne lacht. »Kleiner Scherz«, sagt sie. »Innere.«
Ganz, ganz kleiner Scherz, Schwester Marianne. Winzig klein.
Ich würdige den Versuchshumor keiner Antwort und stolziere zum Fahrstuhl. Und erst dort erschließt sich mir, warum sie wohl meinte, dass DAS ein Scherz sei. Ich fahre nach oben und in gleichem Tempo steigt in mir die Erkenntnis auf, dass das Lustige nicht sein sollte, dass ich angeblich nicht eingetragen bin. Sondern dass man mich für die Innere eingeteilt hat. Das kann nur eins bedeuten: Er ist da.
Nein. Fahr wieder runter!
Warum habe ich nie mit Dr. Heinrichs Hypnosetraining angefangen?! Vielleicht wäre das Kapitel Hypnotisieren von Personenaufzügen ja noch gekommen?! Nun ja, das nutzt mir jetzt wenig. Der Aufzug setzt unbeeindruckt seine Fahrt in die Innere Station fort – pling – da sind wir.
Vorsichtig werfe ich einen Blick in den Flur. Ich habe keinen Unerwartete-Begegnung-Einstiegs-Satz vorbereitet. Zum Glück ist er nicht zu sehen. Dass meine Knie zittern, ist absolut unnötig. Geht aber von dieser rationalen Ermahnung nicht weg. Gut, dass er nicht schon vor dem Aufzug stand, ich wäre ihm direkt in die Arme gefallen.
Eigentlich schade, dass er nicht schon vor der Aufzugtür stand!
Bleib cool, Lena, du bist zum Arbeiten hier. Alles andere lässt du einfach auf dich zukommen.
Und wenn ER auf mich zukommt?
Mann, Lena, was hast du dir denn gerade vorgenommen?!
Nachtdienst auf der Inneren hat ausgerechnet Schwester Klara. Ich hab sie nie sonderlich ins Herz geschlossen, aber sie war auch niemals explizit meine Feindin. Reserviert ist sie trotzdem, als hätte ICH ihr all die Frechheiten entgegengeschleudert, die sich meine Freundin Jenny erlaubt hat.
»Na toll«, stöhnt Klara jedenfalls, als sie mich sieht. Pah, das denke ich mir auch gerade; nur haben manche von uns etwas Selbstbeherrschung, deshalb sage ICH es nicht laut.
Klara erklärt mir, was ich zu tun habe. Falls sich der Zustand eines Patienten verschlechtert, bin ich für Untersuchungen und die nötigen Hilfsmaßnahmen zuständig. Sie ist allein auf der Station, ich muss sie also auch bei den Schwesternaufgaben unterstützen, schlaflose Patienten beruhigen und Medikamente austeilen. Zusammengefasst soll ich alles tun, wofür ein Arzt vonnöten sein könnte, mich aber benehmen wie eine Lernschwester; Klara macht mehr als deutlich, dass sie das Kommando hat und ich buchstabengetreu auf sie hören sollte. »Noch Fragen?«
Ja. Ich MUSS es wissen.
»Und ist, äh, sonst noch jemand hier?«, frage ich. »Außer uns?«
»Reicht Ihnen das nicht?« Klaras Augenbrauen wandern bis in den Haaransatz hinauf. »Trauen Sie sich das nicht zu, oder was?«
Doch, nur … was ich mir gerade nicht zutraue, ist eine Begegnung mit Tobias – mit der Gefahr, dass man mir die realen und imaginären Erlebnisse der letzten Nacht irgendwie anmerkt.
Schwester Klara ahnt den Grund für mein unprofessionelles Zögern natürlich nicht. »Wir überlassen doch nicht eine ganze Station die halbe Nacht einer Studentin!«, beruhigt sie mich in einem Tonfall, der den nicht ausgesprochenen Nachsatz »… da könnten wir unsere Patienten ja gleich erschießen« deutlich durchklingen lässt. »Einer der Ärzte ist auch hier.«
Ich sei zu seiner Entlastung da, erklärt sie mir, weil er weiß Gott genug zu tun hat. Nur weiß ICH immer noch nicht, ob es bloß einer oder meiner der Ärzte ist. Weil Schwester Klara offenbar diesbezüglich keine Auskunft zu geben bereit ist, beginne ich meinen Nachtdienst mit einem Stationsrundgang. Einem Stations-Geradeausgang. Bis zu seinem Büro. Drinnen brennt Licht.
Alles klar, Lena, er ist es. Er ist hier.
Ich schleiche zum Schwesternzimmer zurück, so schnell meine weichen Knie mich tragen.
Tobias lässt sich nicht blicken. Es passiert überhaupt nichts. Dieses Taschengeld ist leicht verdient. Zumindest heute Nacht. Ich nehme es als Entschädigung – der Tag hat mir doch genug zugemutet – und als Lern-Unterstützung. Denn da ich nicht wie Schwester Marianne heimlich Filme ansehen kann und keine Zeit-Totschlag-Unterhaltung mit Schwester Klara führen möchte (die eher aussieht, als ob für sie nur Totschlag Unterhaltung wäre), beschäftige ich mich brav mit meinen Lehrbüchern. Das verschafft mir auch das Vergnügen, der hochnäsigen Klara ein wenig unter die Nase zu reiben, dass ich eventuell irgendwann ihre Vorgesetzte sein könnte. Wenn ich die Approbation habe, darf sie mich nicht mehr herumkommandieren; dann bin ich es, die »Haben Sie nichts zu tun?!« fragt.
Schwester Klara scheint meine unausgesprochenen Signale deutlich zu empfangen und nutzt die vielleicht vorletzte Gelegenheit, mich anzuherrschen, indem sie sagt: »Wenn Sie sonst nichts zu tun haben, wäre es zu gütig von Ihnen, Sie könnten Ihre wichtigen Bücher einen Moment vernachlässigen, um die Medikamente auszuteilen.« Und dann setzt sie sich an den Computer und lässt mich den Medikamentenrundgang allein machen.
Die wichtige Miene, mit der sie auf den Bildschirm starrt, soll mir bedeuten, dass sie als Stationsverantwortliche noch weit dringlichere Dinge zu tun hat. Aber ich wette, sobald ich draußen bin, spielt sie Minesweeper.
Nur: Was, wenn ER gerade jetzt aus seinem Büro kommt … den Flur hinuntergeht … und genau in dieser Sekunde um die Ecke biegt – sodass ich ihm gleich gegenüberstehe, sobald ich aus dem Schwesternzimmer trete?
(Noch mal eine kurze Vergleichsanalyse: Bestünde die Gefahr, dass ich gleich auf dem Flur in Alex hineinlaufe, würde ich mich darauf freuen. Die drohende Tobias-Begegnung bringt meine Knie so zum Zittern, dass die Medikamentenschälchen auf dem Wagen klappern. Das spricht für … Tobias. Oder? Aber dass ich mich unbekümmert freuen würde, Alex zu sehen, behauptet auch nur Halb-blind-Lena, die dabei einrechnet, dass sie diese Freude nie in der Realität beweisen muss – denn dass Alex auf dem Flur steht, ist erleichternd unwahrscheinlich. In Wirklichkeit weiß sie nämlich nicht, ob das mit der unbekümmerten Wiedersehensfreude nach gestern Abend noch ganz so stimmt …)
»Wird’s bald«, knurrt Klara und ihre Finger zucken über der Maus. Na klar, ich halte sie von Minesweeper ab. Sie ist sicher schon ganz kribbelig, ein paar Bomben explodieren zu lassen.
Der Medikamentenrundgang ist schnell erledigt, nur wenige Patienten bekommen mitten in der Nacht noch eine Schmerzmittel-Dosis. Der letzte Patient, Herr Pflüger in Zimmer 4, ist hellwach. Er ist etwa 30 und leidet an einer Entzündung der Herzinnenhaut. »Unterhalten Sie mich doch ein bisschen«, bittet er. »Ich liege hier noch monatelang und nie ist etwas los!«
Ich muss schmunzeln, monatelang ist vielleicht ein klein wenig übertrieben. Doch als ich in seine Akte sehe, wird mir klar, dass er seinen Stationsaufenthalt gar nicht so sehr dramatisiert hat: Herr Pflüger wird noch etwa fünf Wochen hierbleiben. Seine Endokarditis ist noch nicht definitiv diagnostiziert, aber er hat einen angeborenen Herzfehler und zeigt klinische Symptome. Weil sich jedoch noch keine Veränderungen an den Herzklappen zeigen und die Bakterien, die eventuell sein Herz angegriffen haben, in der Blutkultur nicht nachgewiesen werden können, liegt er hier unter Beobachtung. Er muss sich einer langwierigen antibiotischen Therapie unterziehen. Sechs Wochen strenge Bettruhe!
»Nachts kommt nicht mal Besuch!«, sagt er. »Vielleicht langweile ich mich hier zu Tode. Das wäre das Einzige, was mir nicht seit frühester Jugend angedroht wird.«
Herr Pflüger und seine Langeweile wecken mein Mitleid, ich setze mich einen Moment an sein Bett. Er erzählt von seiner Kindheit mit einem angeborenen Herzfehler, davon, dass einfach alles immer verboten war – Radfahren, Partys, selbst Schulsport. »Das ist zu anstrengend für dich.« »Denk an dein Herz.«
Ich erzähle ihm im Gegenzug, dass fast alle meine Freundinnen damals zum Cheerleader-Camp fahren durften, ich aber nicht. Es ist nicht, dass ich für mein Leben gern Cheerleaderin gewesen wäre. Ich wollte nur mitfahren, um dabei gewesen zu sein. Als die anderen zurückkamen, konnten sie eine menschliche Pyramide stellen, zwei hatten Jungs geküsst und eine sich die Nase gebrochen – und ich war auf ALLES neidisch. Den ganzen Restsommer habe ich mit ihnen Kunststücke geübt, um nicht zurückzustehen.
Das ist nicht mit einer Herzfehler-Kindheit vergleichbar, heitert Herrn Pflüger aber trotzdem auf. »Können Sie mir nicht irgendwas vormachen?«, bettelt er.
»Nein«, sage ich rigoros, »Sie dürfen nicht lachen!«
Aber meine strenge Arztmiene nutzt nichts; Herr Pflüger sieht mich mit Welpenblick an und führt noch mal ins Feld, dass er sein Leben lang verdammt wenig Spaß hatte, noch fünf Wochen hier liegen muss und eigentlich NIE was zu lachen hat. Er verspricht, sofort und für immer still zu liegen, wenn er nur einen einzigen Cheerleader-Sprung zu sehen kriegt.
»Für die Sprünge ist hier sowieso zu wenig Platz«, erkläre ich, als ob ich auf einer fußballfeldgroßen freien Fläche einfach jeden Sprung zustande bringen würde. Aber dann blättert sich mein inneres Lehrbuch auf. Wenn er eine Endokarditis hat, kann es zu einem akuten Organausfall kommen, seine Niere oder sein Herz könnten versagen; vielleicht sollte ich weniger an mein Selbstbild und mehr daran denken, was Herrn Pflüger in diesem Leben noch an Erheiterung bleibt. Ich überlege einen Moment ernsthaft: Radschlag, Flickflack oder Salto konnte ich nie – ich durfte ja nicht ins Camp … aber vielleicht kriege ich noch einen Handstand hin?
»Na gut«, sage ich. »Weil ich noch keine Ärztin BIN und niemand hier ist und Sie mir versprechen, dass Sie es nie nie nie jemandem verraten werden.«
Er nickt.
Ich hole tief Luft. Was tut man nicht alles für seine Patienten? Lena Weissenbach, die aufopferungsvollste Ärztin der Welt. DAS sollte mal in der Prüfung gefragt werden: Was ist das Entwürdigendste, das Sie je für einen Patienten getan haben? Frau Weissenbach, volle Punktzahl.
Ich bin selbst gespannt, ob von dem schmerzhaften Übungssommer vor zwölf Jahren noch irgendwas übrig ist. Soo schwer kann es doch nicht sein. Jetzt zeigst du Herrn Pflüger einen Handstand, hast einen bedauernswerten Patienten einen Hauch glücklicher gemacht und gehst mit der zufriedenstellenden Gewissheit in die Nacht, dass du für deine Schützlinge einfach alles tust … und die umfassend-begabteste Nachwuchsärztin Berlins bist.
Eigentlich ist es leichter, als es aussieht: Es kommt zuerst nur auf den Schwung an und dann nur auf die konzentrierte Balance. Zur Not lehnst du die Füße an die Wand. Wenn es klappt, hast du eine Alternativ-Zukunft jenseits der Bäckerei-Theke entdeckt – und wenn du umfällst, weißt du, dass du keine 13 mehr bist und hast Selbstironie bewiesen.
Ich schiebe den Medikamentenwagen aus der Gefahrenzone, lege alles ab, was davonfliegen könnte, und verkünde: »Ladies and Gentlemen, exklusiv und nur bei uns!« Drei Lockerungsübungen – Profi ist Profi – dann hole ich mit dem rechten Bein Schwung, stütze die Arme auf und werfe die Beine hoch, balanciere aus, damit ich nicht hintüberkippe – und stehe perfekt. Gleichgewicht und Körperbeherrschung reichen sogar, um anmutig die Knie zu beugen und mit den Beinen zu wackeln wie eine Trapezkünstlerin. Wer sagt’s denn?! Ich kann es noch!
Herr Pflüger ist beeindruckt und applaudiert. Ich stehe zwar ein wenig zittrig, aber das überraschend noch vorhandene Geschick gibt mir so viel Kraft, dass ich jetzt sogar alleine eine Pyramide stemmen könnte.
In diesem Moment öffnet sich die Tür.
Tobias.
Er steht im Zimmer, in tadellos weißem Kittel – und Lena, die sich für diese Begegnung einen strahlenden Auftritt erhofft hat und mit einem zittrigen Verlegenheitsgespräch rechnete … steht höchst würdelos und kasperig mit den Beinen winkend, den Kittel halb über dem Gesicht, auf den Händen vor einem Patientenbett.
Ich falle in mich zusammen wie eine Dosenpyramide im Supermarkt-Sketch und schlage mir bei der unsanften Landung das Knie auf. Mein Kopf ist sicher hochrot. Eine Performance, bei der nicht mal der sonst so beherrschte Tobias an sich halten kann.
Er schaut mich mit großen Augen an und verkneift sich mühsam ein irritiertes Lächeln, bevor er fragt: »Geht es Ihnen gut, Fräulein Weissenbach?«
»Natürlich«, sage ich, bringe mich so schnell wieder in Ernst-zu-nehmende-Ärztin-Grundstellung, dass ich fast noch mal hinfalle, und kratze alles verbliebende Selbstbewusstsein zusammen. »Ich … äh … erheitere nur Herrn Pflüger.«
Herr Pflüger ist auf das Maximalste erheitert, er kann sich vor Lachen kaum halten – und dabei ist das doch so schlecht für seine Rekonvaleszenz.
Tobias lacht nicht. Habe ich bei seinem Eintreten den Anflug eines Lächelns in seinem Gesicht gesehen, so ist der inzwischen ausgelöscht; seine Miene zeigt nur Unverständnis … und etwas, das ich als Ärger deute. Genau, Lena: Das ist exakt die Art Begegnung, vor der du dich seit heute Morgen fürchtest – und dabei hattest du keine Ahnung, WIE SCHLIMM sie werden könnte!
»Ich bin sicher, Herr Pflüger hat jetzt genug Unterhaltung gehabt«, sagt Tobias. »Ist sonst alles in Ordnung mit dem Patienten?« Ich nicke, sprachlos. »Dann ist Ihr Einsatz hier ja wohl nicht mehr vonnöten.« Er winkt mich mit einem Kopfnicken hinaus.
»Gute Nacht, Herr Pflüger«, sage ich leise. »Ich hoffe, Sie können jetzt zufrieden einschlafen.«
»Einschlafen nicht«, lächelt Herr Pflüger und wirkt doch ein wenig beschämt darüber, dass mir jetzt wohl seinetwegen ein Oberarzt-Anpfiff bevorsteht. (Pah, würde er uns besser kennen, würde er für mich auf einen Anpfiff HOFFEN!) »Aber ich bin absolut glücklich. Danke, Schwester.«
Schwester. Und an den habe ich meine unglaublichen Cheerleaderkünste und all meine Würde verschwendet!
»Man merkt es nicht, aber Fräulein Weissenbach ist Ärztin«, korrigiert Tobias. »Zumindest kann sie es werden.«
Herr Pflüger entschuldigt sich, bedankt sich noch mehrfach – und dann gibt es kein Zurück mehr. Ich muss Tobias auf den Flur folgen.
»Geht’s dir gut?«, fragt er draußen. Ich setze an, um zu erklären, wie es zu dem seltsamen Bild kam, das sich dem Oberarzt eben zu mitternächtlicher Stunde geboten hat, und dass ich nur mein Bestes getan und mich ausschließlich im Sinne und zum Wohle des Patienten erniedrigt habe. (Obwohl: Warum so demütig? Der Handstand war 1A, kerzengrade. Und das nach zwölf Jahren ohne Training! Nicht immer so bescheiden!)
»Ich war nur …«, beginne ich, dann muss ich erst mal meinen Kopf sortieren. Denn jetzt, da wir allein auf dem Flur stehen und er mir in die Augen sieht, zittern meine Knie doch plötzlich wieder, als würden sie gleich unter mir nachgeben. (Das muss die Anstrengung sein. Zwölf Jahre kein Training und dann gleich so eine Akrobatik-Einlage!)
»… nur Lena«, setzt Tobias meinen in der Luft hängen gelassenen Satz fort. »Ich weiß schon.«
Ich grinse ein wenig, das hilft immer, wenn einem sonst nichts bleibt. »Tut mir leid«, sage ich. »Ich hab’s gut gemeint.«
»Das bezweifle ich nicht«, antwortet Tobias. Und dann – als ich gerade denke, jetzt könnten wir einen Kaffee trinken gehen und in einer halben Stunde werden wir darüber lachen – er mit diesem seltenen Grübchen-Lachen, das ich so gerne sehe und er so selten zeigt – sagt er einfach »Gute Nacht« und dreht sich um.
Gute Nacht?!
Ich stehe da, wie von einer Horde Footballer umgerannt. Soll das bedeuten, dass er es jetzt gnädig vergisst? Soll ich dankbar sein? Oder bedeutet es, dass er von meiner Unprofessionalität so enttäuscht ist, dass er jetzt nicht mit mir reden kann? Dass es ihm leidtut, dass uns mal mehr verbunden hat als »Guten Tag, Herr Oberarzt«?! Mein Lieber, es gibt weit enttäuschendere Situationen, bei denen man eine Fast-Ärztin nachts in Patientenzimmern antreffen kann!
»Jetzt tu nicht so, als ob du mich beim Kiffen erwischt hättest!«, fauche ich leise. Und, klar – er hat es gehört.
Er dreht sich um und sagt: »Ist schon in Ordnung. Du bist wie du bist. Herr Pflüger findet dich sicher umwerfend.«
Mann, Tobias, ich will, dass DU mich umwerfend findest! Ich kann immerhin wirklich tolle Cheerleader-Figuren – und werfe dabei nicht mal mich um.
»Mach ruhig weiter so, wir haben viel zu wenig Ärzte mit erweiterten Erheiterungs-Fähigkeiten«, setzt er nach. Oh danke! Wenn das Sarkasmus sein sollte: An mich ist er verschwendet.
Oder ist das winzige Lächeln etwa kein Zeichen für Ironie?
»Hauptsache, du lernst genug.« Damit verschwindet er endgültig.
Okay, es WAR Sarkasmus. Und nun lässt er mich hier stehen, bevor ich entschieden entgegnen kann, dass es ihn absolut nichts angeht, wie viel ich heute gelernt habe.
Mann, warum bringt mich denn immer alles so auf die Palme, was er sagt?! Immer noch, weil er meine Privatkonsultation so seltsam abgelehnt hat? Oder weil er einfach Tobias ist?