Berühmte Wölfe

 

4. Januar 2003

Heute ist mein letzter Tag in Yellowstone. Die strahlende Sonne macht mir den Abschied noch schwerer. Obwohl Wochenende ist, sind wenig Besucher unterwegs. Ich beschließe, den Tag noch auszukosten und so spät wie möglich nach Bozeman zu fahren, wo ich übernachten und am nächsten Morgen nach Deutschland zurückfliegen werde.

Langsam trödele ich mit meinem Auto durch das Lamar Valley, halte in jeder Parkbucht und suche das Tal mit dem Fernglas ab. Ich habe keine Eile und kann den Tag genießen, unabhängig davon, ob ich Wölfe sehe oder nicht.

Aber wie so oft lässt die »Action« nicht lange auf sich warten. Minus 24 Grad Celsius, dazu strahlender Sonnenschein, das ist das Drehbuch, bei dem die Stars des Lamar Valley ihren Auftritt haben. In der Nähe des Soda Buttes sehe ich einige dunkle Punkte, die sich bewegen. Die Druids sind unterwegs. Sie scheinen satt und ausgeschlafen zu sein und sprühen voller Lebensfreude. Ausgelassen tollen sie an den Berghängen der Nordseite des Tals herum. Nur hundert Meter entfernt führen sie mir und den wenigen Besuchern, die sich eingefunden haben, ein Schauspiel vor: »Das lustige Familienleben der Druids.« Wir Wolfsbeobachter genießen entspannt und lächelnd diesen Moment. Sonntag im Lamar Valley!

Plötzlich und unerwartet ändert sich die Szenerie. Ein einzelner Wolf taucht im Tal auf und marschiert zielstrebig in Richtung unserer Wölfe. Die Druids sind mit sieben Wölfen komplett. Also kann es sich bei dem Abenteurer nur um einen fremden Wolf handeln. Wir hoffen, dass er bald abdreht, denn er befindet sich auf gefährlichem Terrain.

Inzwischen haben ihn auch die Druids entdeckt. Sie liegen angespannt und mit gespitzten Ohren dicht beieinander und richten ihre Aufmerksamkeit voll auf den dreisten Neuling. Das Leitpaar, Nummer 21M und Nummer 42F, hat eine leicht erhöhte Position eingenommen und ist wie versteinert.

Der Fremdling marschiert weiterhin unbekümmert im Feindesland. Ich bin mir nicht sicher, ob er die Druids noch nicht entdeckt hat oder ob er sich absichtlich unverfroren verhält.

Als der Eindringling näher kommt, kann ich sehen, wie attraktiv und stattlich er ist mit glänzendem, pechschwarzem Fell und goldfarbenen Augen. Sein Anblick muss jeder halbwegs vernünftigen Wölfin schwache Knie machen.

Und tatsächlich – im angespannt zuschauenden Rudel der Druids kann ich eine leichte Bewegung feststellen: Eine einzige Schwanzspitze fängt an zu zucken und ganz vorsichtig leise zu wedeln. Anscheinend ist nicht nur mir die Schönheit des Wolfes aufgefallen.

Der edle Ritter in schimmernder Rüstung ist inzwischen langsamer geworden, sein Gang ist steifer und bedachtsamer. Sein Mut scheint der Vernunft zu weichen. Dennoch pirscht er sich weiter vor und ist fast am Fuße des Berges angekommen, auf dem die Druids jetzt aufgestanden sind. Nummer 21M, der alte graue Patriarch, steht wie eine Statue auf dem Bergkamm. Die Dreistigkeit des Eindringlings wird einigen jüngeren Familienmitgliedern zu viel und sie jagen mit aufgestelltem Kamm den Berg hinunter auf den schwarzen Beau zu. Dieser gibt Fersengeld, wenn auch nur halbherzig und nur kurze Zeit. Dies reicht den verfolgenden Wölfen und sie ziehen sich wieder auf den Berg zurück.

Der Fremde hat noch lange nicht aufgegeben. Erneut pirscht er sich an das Rudel heran – diesmal aber mit einem gezielteren Blick, und zwar genau in Richtung der wedelnden Schwanzspitze, die ihre Bewegung inzwischen mutig auf den Rest des Schwanzes ausgedehnt hat. Jetzt erkennen wir sein Ziel der Begierde und sehen förmlich Amors Pfeile durch die Lüfte schwirren. Die Kälte ist längst vergessen, die Teleskope aufgebaut, und wir kleben mit angehaltenem Atem an dem uralten Schauspiel der Natur.

»Casanova«, wie wir den mutigen Schwarzen taufen, erstaunt uns mit seinem Mut und erwärmt besonders das Herz der weiblichen Beobachter. Wir hoffen und bangen mit ihm.

Die braune Wölfin mit der wedelnden Schwanzspitze wird kecker. Sie ist aufgestanden und schaut von ihren Berghöhen auf den sie Anbetenden hinunter wie Julia von ihrem Balkon auf Romeo. Das wird nun wiederum ihrem Vater zu bunt. Der Wolf macht sich größer als er sowieso schon ist und stürmt mit einer für sein Alter erstaunlichen Geschwindigkeit auf den Eindringling zu. Eine kurze Rauferei, ein kleiner Biss und Casanova flieht – ein paar Meter. Dann dreht er sich um und versucht beim Rudelchef »gut Wetter« zu machen, mit leicht eingeklemmtem, vorsichtig wedelndem Schwanz. Schließlich legt er sich hin, während der Leitwolf zurück auf seinen Aussichtsposten klettert und sich ebenfalls hinlegt.

Inzwischen ist »Julia«, unsere braune Wölfin, noch ein paar Meter nach unten gerobbt und nähert sich ihrerseits dem geduldig wartenden Schwarzen, der aufspringt und mit heftigem Schwanzwedeln, Herumtänzeln und Spielgesten seinen geballten Charme auf sie einprasseln lässt. Julia braucht nicht lange zu überlegen und gibt dem Spiel nach. Gemeinsam rennen die beiden nebeneinander her, rempeln sich in der Luft an und scheinen in einer Einheit zu verschmelzen.

Das Elternpaar scheint ebenfalls dem Charme des Neuankömmlings zu erliegen. Zwar unternehmen sie gelegentlich halbherzige Versuche, ihn davonzujagen, geben aber – sobald sie ihr »Gesicht gewahrt« haben – schnell wieder auf.

Casanova versucht inzwischen vorsichtig, die Druid-Tochter vom Rudel fortzulocken. Dies gelingt ihm auch bis zu einer gewissen Entfernung. Dann aber scheinen die Familienbande stärker zu sein als die Eroberung. Die Wölfin fühlt sich sichtbar hin und her gerissen zwischen ihrem potenziellen neuen Partner und ihrer Familie. Als das Rudel aufsteht und weiterzieht, ist sie offensichtlich ratlos. Immer wieder läuft sie zwischen Casanova und ihrer Familie hin und her. Schließlich zieht sie die Sicherheit des Rudels vor und bleibt bei den Eltern.

Der verhinderte Frauendieb muss die Taktik ändern und versucht, durch zaghaftes Annähern und soziale Unterwerfungsgesten Aufnahme beim Vater der Angebeteten zu finden.

Am Ende des Tages, als ich schweren Herzens Abschied nehmen muss, um nach Bozeman zurückzufahren, scheint dies Casanova gelungen zu sein. Die Druids haben fortan ein Mitglied mehr in ihrer Familie.

Ich bin dankbar für den schönen Tag und das Schauspiel, das die Wölfe uns geboten haben.

Wieder einmal haben die Druids ihrem Ruf als Stars des Yellowstone-Parks alle Ehre gemacht.

 

Die Druids und ihre Stars: 21M und 42F

»Die Druids« – der Name wird ehrfürchtig geflüstert. Besucher drängen sich um Spektive und möchten einen Blick auf sie erhaschen. Jeder kennt sie, viele haben den National-Geographic-Beitrag des Tierfilmers Bob Landis gesehen. Für sie stehen die Druids stellvertretend für die Yellowstone-Wölfe.

Und wahrlich, sie haben sich diesen Ruf verdient. Einst waren sie mit 37 Wölfen eines der größten Wolfsrudel der Welt. Ihre Leitwölfe (21M und 42F) sind Kinder der 1995 angesiedelten Kanada-Wölfe. Die vielen schicksalhaften Erlebnisse ihrer Rudelmitglieder haben sie bekannt gemacht.

Begonnen hat alles noch in Williston Lake in British Columbia, Kanada. Im Januar 1996 wurde eine Gruppe von fünf Wölfen, zwei erwachsenen (38M und 39F) und drei einjährige Jungwölfinnen (40F, 41F und 42F) in das Rose-Creek-Gehege gebracht. Um sie nicht mit dem Rose-Creek-Rudel zu verwechseln (das hier 1995 angesiedelt wurde), benannte man sie nach dem fast 3.200 Meter hohen Druid-Peak-Berg, an dessen Hang die neue Heimat der Wölfe lag.

Als ihr Gehege im April 1996 geöffnet wurde, brauchten sie 12 Tage, bevor sie sich heraustrauten, und selbst dann erforschten sie nur sehr vorsichtig das umliegende Gebiet. Dennoch hatten die Druids sehr bald den Ruf, ein aggressives Rudel zu sein. Ihr Territorium im Lamar Valley war relativ klein: nur halb so groß wie die Wolfsreviere in Kanada und ein Drittel so groß wie die riesigen Territorien in Alaska. Da das Lamar Valley wegen seiner Beutevielfalt bei allen Rudeln sehr beliebt war, kam es zwangsläufig zu Zwischenfällen mit anderen Wolfsfamilien. Die Druids töteten mehrere Wölfe der benachbarten Rudel und lagen besonders im Krieg mit den Rose-Creek-Wölfen. Viele Beobachter schieben die Aggressivität der Druids auf die Tochter der Leitwölfin und spätere Nachfolgerin Nummer 40, die selbst ihren eigenen Familienmitgliedern gegenüber extrem aggressiv war.

Im Sommer 1996 wanderte die damalige Chefin der Druids, Nummer 39F, eine fast weiße Wölfin, ab und zog ein halbes Jahr lang kreuz und quer durch den Yellowstone-Park bis nach Livingston, Montana. Im Winter kehrte sie zu ihrem Rudel zurück, dessen Leitwölfin inzwischen Nummer 41F geworden war. Die Situation änderte sich erneut im Herbst 1997, als die alte und neue Leitwölfin die Familie verließ und die gefürchtete Nummer 40F das Zepter übernahm. Jetzt wurden die Druids von Nummer 40F und 38M angeführt.

38M war ebenfalls ein sehr aggressiver Leitwolf. Vermutlich waren er und seine Partnerin tatsächlich der Grund für die Aggressivität des Rudels. Im Winter 1997 paarte sich 38M mit drei Weibchen seines Rudels; sie hatten jedoch insgesamt nur fünf Welpen. Von welchem Weibchen die Welpen waren, konnte nicht festgestellt werden. Die Wolfsfamilie war nun auf elf Tiere angewachsen. Sie waren fortan die bekanntesten Wölfe im Lamar Valley. Alle fünf Welpen überlebten und wuchsen zu kräftigen Tieren heran. Ein Jungwolf, der im Januar 1998 gefangen wurde und ein Radiohalsband erhielt, wog 50 Kilo.

Im November 1997 wanderten die Druids aus dem Park heraus. Dabei wurden der Leitwolf Nummer 38M und Wolf Nummer 31M illegal erschossen. Nummer 38M schleppte sich noch elf Tage schwer verletzt durch die Wildnis, bis er schließlich starb. Doug Smith, Leiter des Yellowstone-Wolfsprojektes, warf mehrfach Futter aus dem Hubschrauber ab, um ihm zu helfen.

Dann kam Nummer 21M, der letzte Rose-Creek-Welpe der legendären Wölfin Nummer Neun, zu den Druids. Der zweijährige Wolf hatte seine Familie verlassen und versuchte nun, von den Druids akzeptiert zu werden. Dieses Ritual dauerte über sechs Stunden und wurde vom Bob Landis für sein Video »Wolves. A Legend Returns to Yellowstone« gefilmt. Nummer 21M wurde von den Druids nicht nur aufgenommen, als einziges erwachsenes Tier wurde er sofort ihr Leitwolf.

Mit dem neuen Anführer schienen die Aggressionen zwischen den beiden verfeindeten Rudeln aufzuhören – bis zum Herbst 1998, als die Druids ein Weibchen des Rose-Creek-Rudels allein in ihrem Revier antrafen und unter der Führung von 40F töteten.

Mitte April 1999 hatte Nummer 42F, die Schwester der Leitwölfin, eine Wurfhöhle gegraben, wurde aber von der Chefin vertrieben, die die Höhle übernahm. Als wir die Druids im Juni wieder sahen, hatten sie sechs Welpen dabei, von denen jedoch einer bei einem Kampf mit dem Crystal-Creek-Rudel getötet wurde. Diesmal waren die zahlenmäßig unterlegenen Druids die Verlierer. Am Ende war Nummer 21M, Oberhaupt einer Familie mit fünf Weibchen und zwei Welpen.

Das Jahr 2000 wurde zum Schicksalsjahr für die aggressive Druid-Leitwölfin. Die Ereignisse überstürzten sich und verblüfften Biologen und Fachwelt gleichermaßen. Wieder einmal zeigte sich Nummer 40F von ihrer garstigsten Seite. Stets nach den anderen Wölfen im Rudel schnappend oder sie auf den Boden drückend, machte sie klar, wer die Chefin war.

In diesem Frühjahr jedoch hatten sich nicht nur Nummer 40 sondern auch zwei andere Wölfinnen (Nummer 42F und Nummer 106F) mit dem Leitwolf gepaart. Jede hatte einen Wurf Welpen in einer eigenen Höhle zur Welt gebracht, die nur wenige Kilometer voneinander entfernt lagen. In Yellowstone kommt es öfter vor, dass in einem Rudel mehr als eine Wölfin Welpen bekommt. Eine so tyrannische Herrscherin wie Nummer 40F jedoch würde niemals anderen Wölfinnen in ihrem Rudel erlauben, Welpen großzuziehen, die mit den ihren am Ende konkurrieren könnten.

Am Vorabend des 10. Mai 2000 hatte die Leitwölfin noch an einem Kadaver gefressen und sich danach auf den Weg zur Höhle ihrer Schwester gemacht.

Am nächsten Morgen fand man sie schwer verletzt und aus mehreren Wunden blutend in einem Straßengraben im Lamar Valley. Die herbeigerufenen Ranger und Biologen bemühten sich, sie zu retten, sie starb aber kurze Zeit später an einer aufgerissenen Schlagader.

Doug Smith und Rick McIntyre versuchten anschließend, das Geschehen zu rekonstruieren: »Wir glauben, dass sie in die Höhle ihrer Schwester eindringen wollte und Nummer 42F und mindestens eine der beiden anderen Wölfinnen sie angegriffen haben«, vermutete Smith. »Sie hatten die Nase voll und haben es ihr beim ersten Zeichen von Schwäche gezeigt.« Aufstrebende Möchtegern-Leittiere testen gelegentlich die Führungsposition der Rudeloberhäupter, und manchmal gelingt es ihnen auch, sie abzusetzen, woraufhin diese normalerweise abwandern. Bis dahin gab es keinen Fall, in dem ein Wolfsrudel seine eigene Leitwölfin getötet hatte.

Doch damit nicht genug. In den Tagen nach dem Tod von Nummer 40F geschah etwas Unglaubliches: Nummer 42F und Nummer 106F trugen ihren Nachwuchs, einen nach dem anderen, in die Höhle der getöteten Leitwölfin, und die gesamte Druid-Familie kümmerte sich um die Aufzucht der drei Würfe.

»Als die Familienmitglieder die Welpen von Nummer 40F adoptierten, zeigten sie ein beeindruckendes Mitgefühl für den Nachwuchs einer Herrscherin, die ihrer aller Leben zur Hölle gemacht hat«, sagte Smith. »Grundsätzlich ist es für ein Rudel sehr schwer, die Leitwölfin zu verlieren, aber hier hatte es anscheinend den gegenteiligen Effekt. Irgendwie scheint dieser Verlust das Rudel, das vorher nur durch Härte zusammengehalten wurde, vereint zu haben.« Wölfe haben innerhalb der eigenen Familie ein sehr starkes Harmoniebedürfnis. Den Druids muss also irgendwann der Zustand unter ihrer tyrannischen Herrscherin unerträglich geworden sein. Mit dem neuen Leitpaar lebte das Rudel viele Jahre friedlich zusammen.

Insgesamt hatten die Druids jetzt 21 Welpen und waren damit mit einem Schlag auf 29 Wölfe angewachsen. Die Biologen waren skeptisch, ob der Nachwuchs überleben würde. Aber in diesem Jahr starb nur ein Welpe, und ein Jährling wurde von einem Auto überfahren. Ende des Jahres weiteten die Druids ihr Territorium aus und besetzten einen großen Teil des Reviers des jetzt zahlenmäßig unterlegenen Rose-Creek-Rudels. Nummer 42F, die ehemals geschundene und unterdrückte Schwester von Nummer 40F, war in kurzer Zeit wie Aschenputtel zur toleranten Leitwölfin aufgestiegen.

21M blieb weiterhin Rudelchef. Im Frühjahr 2001 paarte er sich mit fast allen nicht verwandten Weibchen seiner Gruppe. Im April bekamen 42F und 103F in verschiedenen Höhlen Junge. Wieder half die gesamte Familie bei der Aufzucht beider Würfe. Im August war die Zahl der Wölfe im Druid-Peak-Rudel auf sensationelle 37 Tiere gestiegen. Dies war der zahlenmäßige Höhepunkt der Druids. Später teilten sie sich in kleinere Untergruppen auf.

Im Herbst 2003 bestanden die Druids aus 18 Wölfen (neun Erwachsenen und neun Welpen). 21M und 42F waren immer noch die Leitwölfe, inzwischen jedoch grauer und merklich langsamer. Die Harmonie in der Wolfsfamilie war deutlich spürbar. Auch wenn gelegentlich einzelne Wölfe abwanderten, wie Wolf 253M, der eine mehrwöchige Stippvisite nach Utah machte, wurden diese Tiere bei ihrer Rückkehr ins Rudel begeistert willkommen geheißen. Bei der Jagd veränderte sich mit zunehmendem Alter der Wolfseltern die Arbeitsteilung. Jetzt hetzten und trieben die jüngeren Rudelmitglieder die Beute, während 21M auf seinen Einsatz wartete. Noch immer war er ein kräftiger Wolf und ein hoch spezialisierter Killer. Hatten die Treiber die Beute müde gehetzt, schlug seine Stunde, wenn er gezielt zum Töten ansetzte. Um die Schwächen der alten Leittiere auszugleichen, hatten die Druids die Aufgabenverteilung geändert.

 

Wie und warum wurden die Druids so groß?

Dieser Frage sind Doug Smith und Rick McIntyre nachgegangen. Sie sind zu dem Ergebnis gekommen, dass verschiedene Faktoren für das Leben von Wölfen in sozialen Gruppen eine Rolle spielen, die für die Größe einer solchen Gruppe verantwortlich sind.

Die Grundstruktur eines Wolfsrudels besteht aus einem Elternpaar, den Leitwölfen und ihrem Nachwuchs. Die durchschnittliche Rudelgröße in Nordamerika ist (bei einem Wurf von fünf bis sechs Welpen) fünf bis zehn Wölfe. Ein entscheidender Faktor für die Größe einer Wolfsfamilie ist die Welpensterblichkeit. Im Gegensatz zu vielen anderen Gebieten dieser Welt leben die Wölfe von Yellowstone in einem geschützten Lebensraum, wo sie nicht gejagt werden. Daraus folgt, dass fast alle Rudel in Yellowstone aus mehreren (meist drei) Generationen bestehen. Und so beträgt die durchschnittliche Rudelgröße im Nationalpark 14,6 Wölfe pro Rudel. Außerhalb der Parkgrenzen, wo die Tiere »kontrolliert« werden, sinkt diese Zahl deutlich ab auf 5,8 Wölfe pro Rudel.

Zusätzlich zur Welpensterblichkeit bestimmt auch die Größe der Beutetiere die Rudelgröße. Wir wissen, dass ein Wolf allein schon einen Bison oder Elch töten kann. Smith und McIntyre haben herausgefunden, dass Rudel, die sich von größeren Tieren ernähren, auch größer in der Anzahl zu sein scheinen.

In Yellowstone hatte 1998 das Rose-Creek-Rudel 24 Mitglieder. Sie ernährten sich hauptsächlich von Hirschen. Die Rose Creeks konnten ihre Zahl nicht lange halten, die Gruppe brach auseinander. Ein Grund dafür könnte die hohe Zahl der Druid-Wölfe gewesen sein, die einen Teil des Rose-Creek-Reviers übernahmen – und damit auch einen Großteil ihrer Beute; schließlich hatten sie viele Mäuler zu stopfen.

Im Winter 2001/2002 gab es drei große Wolfsrudel in Yellowstone: das Druid-Peak-Rudel (37), das Nez-Perce-Rudel (etwa 20) und das Delta-Rudel (16). Diese Gruppen bekämpften sich oft um Beute und Grenzen. Die kleineren Rudel blieben stattdessen innerhalb ihrer Territorien.

Um eine derartig große Wolfsfamilie zu ernähren, muss regelmäßig ausreichend Nahrung herbeigeschafft werden. Das heißt, die Wölfe müssen ständig auf der Jagd sein. Dies ist auf Dauer kaum möglich. Hinzu kommt der soziale Aspekt. Es ist für das Leitpaar fast unmöglich, eine Gruppe von 37 Wölfen gemeinsam zur Jagd anzuleiten.

Darum wurden die Druids in voller Rudelgröße nur wenige Male bei der Jagd beobachtet. Danach teilten sie sich auf.

 

Das Traumpaar: Natasha und Arnold (9F und 10M)

Von allen Wölfen in Yellowstone erregte durch ihr tragisches und auch romantisches Schicksal keine Wölfin mehr Aufmerksamkeit als Nummer Neun. Viele Besucher kamen in den ersten Jahren extra hierher, um sie zu sehen. Nummer Neun – oder auch »Natasha«, wie sie von ihren Fans genannt wurde, und wie ich sie im Folgenden nennen werde – war vom Schicksal dazu bestimmt, die Mutter der Yellowstone-Wölfe zu werden. Durch ihre Nachkommen wird sie immer mit dem Park verbunden sein.

Natashas Geschichte beginnt lange vor ihrer Ankunft im Park. Sie war die Leitwölfin des McLeod-River-Rudels, das in der Nähe von Hinton, Alberta, in Kanada lebte. Als die Biologen im Dezember 1994 begannen, örtliche Trapper für das Einfangen einzelner Wölfe auszuwählen, meldete sich Wade Berry. Er hatte einen Freund, Rick Stelter, der 70 Meilen entfernt bereits fünf Wölfe eines Rudels in Schlingen gefangen hatte (in Kanada ist das Einfangen und Töten von Wölfen mittels Schlingen und Falleisen legal). Drei von ihnen waren bereits tot, aber zwei lebten noch. Sie würden sich perfekt als »Judaswölfe« eignen, um später die Biologen zum restlichen Rudel zu führen. Die überlebenden Wölfe waren zwei Weibchen, eines schwarz, das andere, jüngere, grau. Sie bekamen beide ein Radiohalsband und wurden im Gebiet des McLeod-Flusses wieder freigelassen.

Wenige Tage später kontrollierte Rick Stelter seine Fallen und sah drei Wölfe, die gerade ein Elchkalb rissen. Die Wölfe flohen, aber Stelter konnte noch einen Blick auf ein schmales, dunkles Tier mit einem Radiohalsband werfen. Er nahm an, dass dies die Wölfin war, die er ein paar Nächte zuvor mit vier weiteren Rudelmitgliedern eingefangen hatte. Er hatte Recht, aber er konnte nicht ahnen, wie wichtig diese beiden Wölfe für Yellowstone werden sollten.

 

Die schwarze Wölfin mit Radiohalsband, die Rick gesehen hatte, war Natasha (offiziell: Nummer 9F). Am 10. Januar 1995 kamen die Biologen zurück, um wie geplant die Wölfe nach Yellowstone zu holen. Natasha und ihre Tochter waren durch die Halsbänder leicht zu orten. Sie wurden vom Hubschrauber aus betäubt und nach einer gründlichen Untersuchung in einer metallenen Transportkiste nach Yellowstone gebracht.

Natasha war dunkel; nicht schwarz, sondern eher von einem warmen, dunklen Braunton mit einigen hellen Grauschimmern auf dem Rücken. Die grauen Haare an ihrer Schnauze zeigten, dass sie auch die äußere Reife einer erwachsenen Wölfin erreicht hatte.

Am 12. Januar 1995 wurden Natasha und ihre Tochter in das Rose-Creek-Gehege nach Yellowstone gebracht. Als am 20. Januar die nächsten Wölfe aus Kanada eintrafen, war auch ein karamellfarbener, 60 Kilo schwerer, sehr großer und wunderschöner Rüde dabei. Offiziell hieß er Nummer 10M«, die Biologen nannten ihn jedoch wegen seines machohaften Auftretens und seiner Furchtlosigkeit passend »Arnold« oder »Big Guy«.

Arnold war dazu ausersehen, gemeinsam mit Natasha und ihrer Tochter Nummer 7F eine Familie zu gründen. Die Kuppelei war riskant, denn niemand wusste, wie sich die beiden Leitwölfe aus verschiedenen Rudeln begegnen würden. Arnold machte seinem Namen alle Ehre und versuchte zunächst, Natasha zu dominieren, die sich dies jedoch nicht gefallen ließ und stattdessen mit ihrem Charme innerhalb weniger Tage aus Macho-Arnold einen verliebten, sie anbetenden Wolf machte. Amors Pfeil war deutlich spürbar und die beiden wurden ein Paar. Sie liefen nebeneinander her, fraßen zusammen und schliefen eng zusammengerollt mit Körperkontakt.

Als am 21. März 1995 das Gehege des Rose-Creek-Rudels (wie jetzt die kleine Familie von Natasha, Arnold und Natashas Tochter hieß) geöffnet wurde, ahnte noch niemand, dass die beiden bereits den ersten Wolfsnachwuchs von Yellowstone gezeugt hatten.

Arnold war der Erste, der nach der Öffnung des Geheges hinauslief und dort auf seine Gefährtin wartete. Wenige Tage nach dem Aufschneiden des Zauns näherten sich eines Morgens im Schneesturm die Biologen Mike Phillips, Doug Smith und Mark Johnson mit einem Kadaver, um die Wölfe, die anscheinend immer noch nicht das sichere Heim verlassen wollten, in die Freiheit zu locken. Plötzlich hörten sie ein lautes Heulen hinter ihnen. Nur wenige Meter entfernt stand Arnold auf einer Anhöhe, der Schnee blies durch sein dichtes Fell und der Sturm trieb sein kraftvolles Rufen weit in die Bergwelt Yellowstones. Die überraschten und begeisterten Biologen ließen den Kadaver fallen und zogen sich zurück, um den Wolf nicht zu verscheuchen. Arnold jedoch hatte überhaupt nicht die Absicht, sich vertreiben zu lassen. Er folgte ihnen in einer gewissen Entfernung und heulte im wirbelnden Sturm als Geistersilhouette von den Bergkämmen über ihnen hinunter. Der stolze und schöne Arnold war der erste Wolf, der nach 60 Jahren Abwesenheit wieder frei in Yellowstone war.

Wenige Tage später lockte er auch Natasha in die Freiheit.

 

Im fernen Kanada indes ereilte Natashas restliche Familie ihr Schicksal. Ein großer, grauer Wolf mit einem steifen Hinterbein (vermutlich durch die Kugel eines Ranchers oder die Schlinge eines Trappers verursacht) besuchte immer wieder das Waldstück, in dem seine fünf Welpen verschwunden waren. Drei waren in Schlingen gestorben. Seine Gefährtin – Natasha – hatte die Fallen gemieden und mit ihren zwei Töchtern die Nacht überlebt. Am nächsten Tag waren sie mit Radiohalsbändern und Ohrmarkierungen wieder aufgetaucht. Einen Monat später verschwanden sie erneut im lauten Lärm eines Hubschraubers. Rick Stelter sah in den Wochen danach gelegentlich den großen, grauen Wolf immer in dem Wäldchen, wo er die anderen Wölfe gefangen hatte. Aber der Rüde war zu klug, um in die ausgelegten Schlingen zu gehen und vermied auch die Fallen. Es dauerte sechs Wochen bis Stelter ihn schließlich fing und tötete. Er brachte es nicht fertig das Fell des Wolfes, das einen beträchtlichen Wert hatte, zu verkaufen und behielt es, wie er sagte, als »wehmütige Erinnerung«, an den stolzen Wolf und die besondere Beziehung zwischen dem Jäger und dem Gejagten.

Am 12. April wurde Natashas andere Tochter, die Schwester von Nummer Sieben, von einem Rancher in der Nähe von Edson, Alberta erschossen, als sie sich einigen kalbenden Kühen näherte.

Zur selben Zeit verschwanden Natasha und Arnold aus dem Park. Erst am Morgen des 24. April konnten sie wieder geortet werden. Sie hielten sich in der Nähe von Red Lodge, Montana, außerhalb der Sicherheit des Nationalparks auf. Dass Wölfe keine Karten lesen können und die Tatsache, dass Arnold keine Angst vor Menschen hatte, sollte ihnen zum Verhängnis werden.

Ende April 1995 war Chad McKittrick, ein 41-jähriger arbeitsloser Schreiner, mit seinem Freund Dusty Steinmasel in der Nähe von Red Lodge auf der Jagd. Als McKittrick einen großen Wolf auf einer Anhöhe stehen sah, sagte er zu seinem Kumpel: »Das ist ein Wolf. Den knall ich jetzt ab!« Arnold, der stolze, furchtlose und schöne Wolf, schaute sich nicht nach seinem Mörder um, obwohl er ihn vermutlich bemerkte. Natasha, die in seiner Nähe war, musste den Schuss gehört haben. Arnold drehte sich einmal um seine eigene Achse, biss nach der Wunde in seinem Rücken, fiel hin, strampelte zweimal mit den Beinen und blieb dann still liegen.
Eine einzige sieben Millimeter Magnum-Kugel hatte Arnold in die Brust getroffen und war auf der anderen Seite wieder ausgetreten. Sie hinterließ einen massiven Bluterguss in den Lungen und eine zerfetzte Leber. Der stolzeste und schönste Wolf von Yellowstone war sofort tot. (Seine Freunde und Verehrer sahen später als Trost an, dass er nicht das Gesicht seines Mörders sehen musste, sondern dass sein letzter Blick dem Himmel und der Wildnis galt). Er trug ein Radiohalsband mit der Inschrift: »National Park Service« und »Hinton, Alberta«. In jedem Ohr trug er eine rote Plastikmarke mit »FWS« (Fish and Wildlife Service) in weißer Schrift auf der einen und »10« auf der anderen Seite.

Steinmasel bekam es mit der Angst zu tun und wollte den Abschuss melden. McKittrick aber, der wusste, dass ihm Gefängnis drohte, zog es in die nächste Kneipe. Auf dem Weg dorthin fiel ihnen ein, dass das Radiohalsband sicher noch Signale aussendete und die Behörden auf ihre Spur bringen konnte. Sie fuhren zurück, luden den Wolf auf McKittricks Wagen und entfernten das Halsband und die Ohrmarken. In einem kleinen Wäldchen hängten sie den Wolf an einem Baum auf. McKittrick schnitt seinen Kopf ab und enthäutete ihn. Dann fassten sie den kopf- und felllosen Kadaver an den großen, dicht behaarten Pfoten und warfen ihn ins Unterholz.

Während Steinmasel das Radiohalsband einpackte, um es später zu zerstören, fuhr McKittrick mit dem Kopf und dem Fell des Wolfes in einem Plastiksack nach Hause und hing das Fell zum Trocknen in seiner Hütte auf.

Steinmasel, der inzwischen zuhause mit dem Radiohalsband saß, wusste nicht, dass es ein »Tot-Signal« abgab. Normalerweise sendet ein Halsband 40 Pieptöne pro Minute an den Empfänger. Ist es aber mehr als fünfeinhalb Stunden nicht mehr bewegt worden, dann piept es maschinengewehrähnlich über hundert Mal pro Minute. Da sich auch ein Tier, das fest schläft, immer ein wenig bewegt, ist dies ein Hinweis für die Biologen, dass das Halsband entweder abgefallen oder der Träger tot war.

Steinmasel, den inzwischen schon starke Gewissensbisse plagten, zerstörte das Radiohalsband nicht. Er wischte seine Fingerabdrücke ab, zog die Stiefel an und ging aus der Stadt hinaus. Weit draußen warf er das Halsband in einen Fluss. Er fühlte sich schuldig und hoffte insgeheim, dass sein Freund und er erwischt würden.

Inzwischen machten sich die Biologen Gedanken um Natasha. Die Tatsache, dass sie sich in letzter Zeit nur wenig fortbewegt hatte, wies darauf hin, dass sie vermutlich eine Geburtshöhle gegraben hatte, wo sie sich aufhielt. Plötzlich empfingen die Forscher das Tot-Signal von Arnold. Die Hölle brach los. Aus allen Teilen des Parks machten sich Biologen, Ranger, Sheriffs, Beamte der verschiedenen Wildtier-Abteilungen der Regierung und ein Spezialagent der US Fisch- und Wildbehörde auf die Suche nach dem Tier. Nach längerem Suchen fanden sie schließlich das Halsband im Fluss und hatten damit auch die Gewissheit, dass Arnold tot war.

Für das Auffinden von Arnold und seinem Mörder hatten die Regierung und verschiedene Umweltorganisationen blitzschnell eine Belohnung im Gesamtwert von 13.000 US-Dollar ausgesetzt.

Nun stellte sich die Frage: Wo war Natasha und was sollte mit ihr geschehen, falls man sie fand? Die Signale von ihrem Halsband zeigten, dass sie zwar lebte, sich aber immer noch nicht fortbewegt hatte. Wenn sie jetzt ihre Welpen bekam, dann hatte sie niemanden mehr, der für sie sorgte. Allein konnte sie nicht auf die Jagd gehen. Ihre Welpen könnten von anderen Beutegreifern getötet werden oder erfrieren. Wenn aber die Mutter nichts zu fressen bekam, dann würden ihre Milchdrüsen austrocknen und die Welpen verhungern. Die Situation war hoffnungslos für die Wölfin. Die ersten Wolfswelpen, die nach 60 Jahren in Yellowstone geboren werden sollten, waren in größter Gefahr.

Nach längerer Diskussion über das Schicksal der vaterlosen Familie beschlossen die Biologen – entgegen der ursprünglichen Pläne – Natasha und ihre Welpen einzufangen und zurück in die Sicherheit des Rose-Creek-Geheges zu bringen, bis die Kleinen allein überleben konnten. Man wollte den ersten Wurf von Wölfen in Yellowstone nicht gefährden.

Endlich entdeckte ein Biologe die Höhle von Natasha und zählte dort sieben Welpen, vielleicht sogar acht. Der Forscher hatte Angst, dass die Wölfin, wenn sie einen Menschen roch, vielleicht nicht mehr zur Höhle zurückkehren würde. Er entfernte sich darum schnell wieder.

Etwa zur selben Zeit fand ein Rancharbeiter im Wald den Kadaver von Arnold. Wolfsspuren in der Nähe des enthaupteten und gehäuteten Körpers wiesen darauf hin, dass Natasha vermutlich ihren toten Gefährten gefunden und in seiner Nähe ihre Wurfhöhle gegraben hat. In der schwierigsten und einsamsten Zeit ihres Lebens wollte Natasha anscheinend immer noch in der Nähe ihres toten Partners sein.

Ein Sonderermittler der Regierung untersuchte den Fall. Die Ermittlungen und Verhöre führten schließlich zu Dusty Steinmasel, der – erleichtert, dass alles vorbei war – sofort gestand. Als die Beamten Chad McKittrick festnahmen, führte er sie zu Kopf und Fell von Arnold. Die Überreste des Wolfes kamen zur Untersuchung ins Regierungslabor nach Ashland, Oregon. Sie ergab, dass es sich bei dem getöteten Tier tatsächlich um Arnold handelte.

Damit Natasha überleben konnte, legten die Biologen Kadaver für sie aus. Die Wölfin nahm stets dieselbe Route von ihrer Höhle zur Fleischmahlzeit. Ein Trapper der Regierung legte fünf Spezialfallen entlang dieser Strecke. Er bedeckte die Fallen mit Schmutz und Laub und überdeckte seinen Geruch durch Kot von Arnold. Jede Falle hatte einen Radiosender, der beim Zuschnappen ein Signal sendet.

Am frühen Morgen des 17. Mai 1995 schloss sich eine Falle um das Bein von Natasha. Nach einem kurzen, verzweifelten Kampf gab sie auf und fügte sich in das Unvermeidliche. Sie wurde von den Beamten betäubt und untersucht. Natasha war in gutem Gesundheitszustand, wenn auch ein wenig zu dünn.

Ein neuer Schreck erwartete die Biologen, als sie zur Höhle kamen, um die Welpen zu holen: Sie waren verschwunden. Natasha hatte – vermutlich in der Nacht vor ihrer Gefangennahme – eine neue Höhle gegraben. Verzweifelt suchten die Männer mehrere Stunden nach den Tieren, bis sie sie endlich fanden. Nach und nach holten sie die Kleinen aus der Höhle heraus, bis auch das letzte, das achte Wölfchen, in Sicherheit war. Natasha und ihre Welpen kehrten zurück in das vertraute Rose-Creek-Gehege, in dem einst ihre Romanze mit Arnold so hoffnungsvoll begonnen hatte.

Während Natasha wieder eingesperrt war, konnte Chad McKittrick seine Freiheit noch genießen. Das Gericht in Billings, vor dem er angeklagt war, ließ ihn auf Kaution frei. Aber McKittricks krankhafte Persönlichkeit zeigte sich im Laufe der nächsten Monate immer mehr. Entgegen der Kautionsauflage ritt er bei der Unabhängigkeitsparade am 4. Juli in Red Lodge mit und trug dabei ein T-Shirt mit der Aufschrift »Northern Rockies Wolf Reduction Project« (Wolfsvernichtungsprojekt). Mehrmals ritt er mit seinem Pferd in eine Bar, aus der er hinausgeworfen wurde. Einige Wochen später verhaftete man ihn erneut, diesmal wegen Trunkenheit am Steuer und Besitz von Marihuana. Wieder frei wurde sein Verhalten noch merkwürdiger und gewalttätiger. Er bedrohte Briefträger und Touristen, die an seinem Haus vorbeifuhren, mit dem Gewehr, schoss auf die Hunde seiner Nachbarn und gab seinen Bewunderern, die ihm in der Bar Drinks spendierten, Autogramme – auch denen, die keine wollten.

Ende Oktober 1995 begann in Billings der Prozess gegen McKittrick, der zu seiner Verteidigung behauptete, er sei der Überzeugung gewesen, es habe sich bei dem getöteten Tier um einen Hund gehandelt. Steinmasel aber sagte als Zeuge der Staatsanwaltschaft aus, dass McKittrick genau wusste, dass er einen Wolf erschoss.

Die Beratung der Jury (acht Männer und vier Frauen, einige davon Rancher) dauerte eineinviertel Stunden. McKittrick wurde für schuldig befunden, ein vom Aussterben bedrohtes Tier getötet, seine Überreste behalten und transportiert zu haben. Er erhielt ein halbes Jahr Gefängnis, gefolgt von einem Jahr verschärfter Bewährung. Darüber hinaus bekam er eine Geldstrafe von 10.000 Dollar. Dusty Steinmasel hat niemals einen Cent von der Belohnung gesehen. Er lebt und arbeitet auch heute noch in Red Lodge.

 

Natasha und ihre Welpen verbrachten den Sommer in der Sicherheit des Rose-Creek-Geheges. Das Lamar Valley ist bekannt für seine heftigen Sommerstürme. Eines Nachts warf ein mächtiger Orkan zwei große Douglasien auf den Gehegezaun. Damit begann eine Geschichte, die die Biologen im Laufe der nächsten Wochen gelegentlich an ihrem Verstand zweifeln ließ.

Die kleine Wolfsfamilie hatte den Sturm gut überstanden. Die Bäume hatten jedoch eine nicht erkennbare Lücke in den Zaun gerissen, eine kleine Öffnung in Bodennähe, gerade groß genug für einen neugierigen Jungwolf. Als die Biologen am nächsten Morgen zum Gehege kamen, waren alle acht Kinder von Natasha fort. Jedoch waren die Ausreißer nicht ganz so mutig. Denn als die Forscher am Nachmittag zurückkamen, um den Zaun zu flicken, sausten drei Wölfchen sofort durch das Loch in die schützende Nähe ihrer Mutter, der Rest drängte sich außen eng an den Zaun. Die Biologen zogen sich wieder zurück, in der Hoffnung, dass die restlichen Wölfe ihren Weg durch den Zaun finden würden.

Am folgenden Morgen waren nur noch zwei Wölfe bei ihrer Mutter im Gehege. Nun hatten die Biologen die Nase voll. Sie wollten den restlichen Familienmitgliedern keine weitere Chance mehr zur Flucht geben. Sie flickten das Loch und stellten Spezialfallen in der Nähe auf.

Am nächsten Tag befanden sich zur Überraschung aller wieder drei Jungwölfe innerhalb des Geheges. Wenn der eine Wolf nicht gelernt hatte, sich zu beamen, dann war er wohl den sehr steilen, angewinkelten Baum, der auf den Zaun gefallen war, hochgeklettert, hatte sich durch das Gewühl von Zweigen und zerbrochenen Ästen gekämpft und am Ende ins Gehege fallen lassen. Die Biologen berieten sich und beschlossen, den Baum als »Einbahnstraße« für heimkehrende Wölfe stehen zu lassen. Sein Ende stand zu weit hoch, als dass ein Wolf von innen hinauf springen und entkommen konnte.

Nach einer Woche mehr oder weniger geduldigen Wartens wurde schließlich ein kleiner Wolf in den Fallen gefangen und zurück zu seiner Familie gebracht. Vier Jungwölfe waren jetzt im Gehege, vier draußen. Einen Tag später jedoch waren nur noch drei Wölfchen da. Was ging hier vor?

Ein weiterer Wolf wurde eingefangen und zurück gebracht. Wieder stand es vier zu vier. Dann fehlte erneut ein Tier. Jetzt begannen die Biologen langsam zu ahnen, dass die unbeholfenen Jungwölfe es tatsächlich geschafft hatten, irgendwie auf den überhängenden Baum zu springen und von dort aus zu entkommen. Die vermeintliche »Einbahnstraße« war also eigentlich eine Schnellstraße in die Freiheit. Die Kettensäge beendete schließlich den »kleinen Grenzverkehr«.

Zwei weitere Welpen wurden in Fallen gefangen. Jetzt waren wieder fünf drinnen und drei draußen. Die Biologen gaben schließlich auf und beließen es dabei. Anscheinend hatten die drei Jungwölfe überhaupt nicht die Absicht, ihre Familie zu verlassen. Tagsüber waren sie unterwegs, jeden Abend aber kamen sie zurück und schliefen eng an den Zaun gedrückt in der Nähe ihrer Mutter und Geschwister. Der elektrische Zaun wurde zur Sicherheit der Wölfe abgeschaltet und Kadaver sowohl innerhalb als auch außerhalb des Geheges abgelegt. Die Biologen hofften inständig, dass kein neugieriger Bison eine Abkürzung durch das Gehege suchen und kein Grizzly durch den Geruch der Kadaver angelockt werden würde.

Langsam bekam auch die Liebe in Natashas Leben wieder eine Chance. Den ganzen Sommer über hatten die Biologen, wann immer sie den Wölfen Futter brachten, auch für die Jungwölfe außerhalb des Zauns Fleisch liegen gelassen. Alles ging gut, bis Mitte September ein junger Grizzly auftauchte und allen klarmachte, dass er sich nun an dem kostenlosen Mahl beteiligen würde. Dies sah nach einem Problem aus, als plötzlich das Unerwartete geschah und ein neuer Wolf – Nummer Acht – auftauchte, ein junger Rüde vom Crystal-Creek-Rudel (heute: Mollies Rudel). Dieser Wolf hatte seine Familie verlassen und tauchte von nun an regelmäßig am Rose-Creek-Gehege auf, wo er begann, Futter für die zwei Jungwölfe hervorzuwürgen. Dass ein Wolf, der zu einem anderen Rudel in keinerlei Beziehung steht, dessen Welpen nicht nur toleriert, sondern auch noch füttert, war bisher unbekannt. (In den nächsten Jahren sollten die Wölfe die Biologen noch des Öfteren mit bisher nicht bekannten Verhaltensweisen überraschen.) Nummer Acht blieb noch mehrere Wochen in der Nähe und spielte »Ersatz-Papa« für die beiden stürmischen Teenager-Wölfe, während er geduldig auf deren Mutter wartete.

Zwar war er mit seinen siebzehn Monaten noch nicht ganz erwachsen. Dennoch schien er Gefallen an Natasha gefunden zu haben. Wenn dies auf Gegenseitigkeit beruhte, dann konnte er vielleicht im kommenden Winter gemeinsam mit ihr wieder für Nachwuchs sorgen – so die Hoffnung der Biologen.

Im Herbst ist Jagdsaison außerhalb vom Yellowstone-Park. Zu ihrem eigenen Schutz wurden daher Natasha und ihre Welpen erst nach dem Ende der Jagdzeit aus der Gefangenschaft entlassen. Und da wartete schon wieder eine Überraschung auf die Biologen: Es waren nicht mehr fünf, sondern wieder sechs Jungwölfe im Gehege. Einer von den Teenies hatte anscheinend den mehr als drei Meter hohen Zaun überklettert, um seine Familie zu besuchen.

Als Natasha und ihre Familie am 11. Oktober 1995 in die Freiheit zurückkehrten, wartete Nummer Acht geduldig hinter dem Zaun. Die Wölfin akzeptierte den Wolf sofort als ihren neuen Gefährten. Sie, Nummer Acht und die Welpen wurden zum neuen Rose-Creek-Rudel. Sie ließen sich im Lamar Valley nieder, nördlich des Flusses. Natasha hatte wieder eine Familie.

Nicht lange nach ihrer Freilassung filmte Bob Landis für National Geographic eine sensationelle Szene im sich fortsetzenden Drama um Natasha, die immer berühmter wurde:

Während sie im Lamar Valley unterwegs waren, trafen Natasha, ihr Gefährte und die acht Welpen auf die Crystal-Creek-Gruppe, das Heimatrudel von Nummer Acht. Die beiden Crystal-Creek-Leitwölfe rannten in die entgegengesetzte Richtung, um ihr Desinteresse für das abtrünnige Familienmitglied und seinen Anhang zu demonstrieren. Nummer Acht dagegen war entzückt, seine Geschwister zu sehen, und auch die Kleinen schienen nichts dagegen zu haben, dass nun mit drei weiteren Onkeln und Tanten noch mehr Futter-Zulieferer auf der Bildfläche erschienen. Als ihm jedoch eines seiner Geschwister zu freundlich oder auch zu aufdringlich wurde, zeigte ihm Nummer Acht zähnefletschend, zu welcher Familie er nunmehr gehörte. Natasha war sofort an der Seite ihres Gefährten, und gemeinsam prügelten sie den verwirrten Wolf in die Flucht. Natashas Familie erweiterte in diesem Sommer ihr Revier über das gesamte nördliche Lamar Valley.

 

Aber wie in jeder guten Seifenoper war damit das tragische Schicksal unserer Heldin noch lange nicht vorüber.

Am 20. Dezember 1995 musste sie einen neuen Verlust ertragen. Einer ihrer Welpen, Nummer 22, ein strammer, schwarzer Rüde, wurde von einem Lieferwagen im Park getötet. Der Welpe rannte in die Seite des Fahrzeuges und wurde von den hinteren Rädern überfahren.

Natasha war inzwischen die Wölfin, die die meisten Touristen sehen wollten. Ihr Rose-Creek-Rudel hatte 1996, 1997 und 1998 Welpen.

Unglücklicherweise – vermutlich auch gerade wegen dieser Berühmtheit – überlebte keiner ihrer Welpen aus dem Wurf von 1997. In diesem Jahr paarten sich Natasha und zwei ihrer Töchter mit dem Leitwolf. Ihre Tochter, Nummer 18, belegte die alte Wurfhöhle von Natasha, die dadurch gezwungen war, sich eine neue Höhle in der Nähe des Lamar-Flusses zu suchen, und damit leider auch in der Nähe der Parkstraße.

Als die Touristensaison über den Yellowstone-Park hereinbrach, versammelten sich die Menschenmassen von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang vor Natashas Höhle. Das Rudel, das auch die Wölfin mitversorgte, veränderte daraufhin sein Aktivitätenmuster und war fast nur noch nachts aktiv. Ende Mai 1997 verbrachten die meisten der erwachsenen Wölfe des Rose-Creek-Rudels ihre Zeit bei der Höhle von Nummer 18 und ließen Natasha und ihre Welpen allein; es waren einfach zu viele Menschen dort. Die Wölfin versuchte mehrmals, mit ihrem Anhang die Straße zu überqueren. Aber die Welpen hatten zu große Angst, denn wann immer sich einer von ihnen der Straße näherte, kam es zum Menschenauflauf und »Wolfsstau«. Natasha besuchte täglich ihr Rudel bei der Höhle von Nummer 18. Während dieser Ausflüge versteckte sie die Welpen am Rande des Flusses im hohen Gras. Die Kleinen waren noch zu jung, um die starke Strömung zu durchqueren. Wölfe haben sehr starke soziale Bindungen. Das Bedürfnis, ihre Familie zu sehen, war für Natasha wichtiger, als bei ihren Welpen zu bleiben. Und so schwamm sie jeden Tag über den Fluss und sammelte nervös ihre Jungen wieder ein. Gelegentlich kamen auch andere Rudelmitglieder mit. Nach jedem mehrstündigen Besuch lief Natasha das steile Ufer hinunter an den Fluss. Die Welpen folgten ihr, drehten dann aber wieder um, sobald sie das rauschende Wasser sahen. In der Nähe des Welpenverstecks wurde ein Hirschkadaver gefunden, vermutlich von den Wölfen dorthin gebracht, um sie für kurze Zeit mit Futter zu versorgen.

Wegen der vielen anderen Beutegreifer wie Kojoten, Bären und Berglöwen waren die ungeschützten Wolfsbabys ständig in Gefahr. Nach mehreren Wochen waren sie verschwunden. Bei der anschließenden Suche nach Spuren fanden die Biologen den Kadaver eines Welpen am Flussufer; die Todesursache blieb ungewiss. Das ebenfalls im Wolfsterritorium lebende Kojoten-Rudel wurde einmal dabei beobachtet, wie es einen der Welpen jagte und angriff. Es könnte also sein, dass sie den Welpen getötet haben oder dass das Tier einfach verhungert ist. Der Wasserstand war zu diesem Zeitpunkt wieder niedriger. Dennoch ist es unwahrscheinlich, dass die Welpen eine Flussüberquerung überlebt hätten.

Nach dieser Tragödie half Natasha, die Welpen von Nummer 18 (also ihre Enkel) großzuziehen, wahrscheinlich hat sie sie sogar gesäugt.

 

1997 wurde eine andere Tochter von Natasha, Nummer 19, bei Revierstreitigkeiten vom Druid-Peak-Rudel getötet; ihre vier Welpen starben an Unterernährung, als die Mutter nicht mehr zurückkam.

 

Trotz des tragischen und in vieler Hinsicht auch sinnlosen Todes des Wurfes von 1997 waren die nachfolgenden Jahre sehr erfolgreich für Natashas Nachwuchs. Ihre Töchter und Söhne wanderten im Laufe der Jahre ab und legten in anderen Rudeln den Grundstein für neue Generationen, um damit die weibliche Linie des Rudels über Yellowstone und darüber hinaus zu verbreiten. Alle ihre vier Töchter, die 1995 auf die Welt gekommen waren, paarten sich erfolgreich mehrmals und bildeten eigene Rudel. Damit waren 71Prozent aller Yellowstone-Wölfe Nachkommen von Natasha. Ihre direkten Nachkommen führten fünf Wolfsrudel an und lebten außerdem in mindestens zehn weiteren Wolfsrudeln.

 

Als sie 1995 im Park ankam, war Natasha eine fast schwarze Wölfin. Im Laufe der Jahre verwandelte sich ihr Fell in ein silbernes Grau. Bis 1999 blieb sie die Leitwölfin des Rose-Creek-Rudels. Danach übernahm ihre Tochter, Nummer 18, diese Position, und Natasha bereitete sich auf die Trennung von ihrer Familie vor. Ihr Gefährte, Nummer Acht, starb im darauffolgenden Sommer an natürlicher Todesursache. Natasha verließ mehrmals ihre Familie und kehrte wieder zurück, bis sie schließlich endgültig ging. Eine Weile zog sie allein umher. Dann tauchte sie plötzlich in einer entlegenen Ecke von Wyoming auf – in Begleitung eines großen schwarzen, unbesenderten Rüden. Man nannte sie das Beartooth-Paar. Später stieß noch eine ihrer Enkelinnen hinzu, Nummer 19, die in diesem Jahr drei Welpen bekam. Diese Familie wurde zum Beartooth-Rudel.

Nach sechs Jahren hörte die Batterie in Natashas Radiohalsband auf, zu senden. Die Biologen waren sich einig, dass man sie nicht mehr einfangen, sondern in Ruhe alt werden lassen sollte. Im Herbst 2001 wurde Natasha zum letzten Mal gesehen. Alle, die sie kannten, sind froh, dass sie nicht irgendwo tot aufgefunden wurde. Wo und wie sie gestorben ist, soll ihr Geheimnis bleiben.

 

Natashas Legende lebt weiter. Ich kannte die Wölfin seit ihrer Ankunft in Yellowstone. Ich habe ihr Schicksal all die Jahre verfolgt und sie oft lange beobachtet. Immer noch vermisse ich sie. Gelegentlich glaube ich, aus den Augenwinkeln einen schwarzen Schatten zu sehen, der mich mit derselben Ruhe und Gelassenheit anzublicken scheint, wie es Natasha tat, wenn sie uns Wolfsbeobachtern von einem Bergkamm herab zusah. Ihr Geist wird immer mit Yellowstone verbunden sein.

 

Ein Wolf auf Wanderschaft: Nummer 253M

Wolf Nummer 253M war aus dem Holz der Druids geschnitzt, ein wahrer Sohn der Leitwölfe Nummer 21M und Nummer 42F, geboren im Frühjahr 2000 als einer von 21 Welpen. 253M wurde von den Wolfsbeobachtern liebevoll »Hinkebein« genannt. Schon in jungen Jahren hatte er bei der Jagd einen Fußtritt von einem Hirsch bekommen und sich dabei den Knochen verletzt, der nie mehr heilte. Dies hinderte ihn aber nicht daran, Mitte Oktober 2002 von seinem Rudel abzuwandern und auf große Tour zu gehen.

Warum Wölfe ihre Familie verlassen ist immer noch ein Rätsel für die Wissenschaft. Einige Wölfe gehen, weil es nicht genügend Nahrung für alle gibt, andere werden von ihren Eltern aus dem Rudel gedrängt, insbesondere zur Paarungszeit, wenn die Stimmung angespannt ist und ein jüngerer Wolf als potenzieller Nachfolger des Leitwolfes auftritt. Die Wolfseltern verhalten sich gegenüber ihrem Nachwuchs bis zum Alter von zwei Jahren sehr tolerant. Jungwölfe können sich in Ruhe entscheiden, ob und wann sie fortgehen wollen und auch, ob sie fortbleiben oder wieder ins Rudel zurückkommen möchten. Ein wichtiger Faktor bei der Abwanderung ist auch, ob es überhaupt einen Ort gibt, zu dem der Wolf hingehen kann, das heißt, ob es noch freies Territorium gibt ohne rivalisierende Geschlechtsgenossen oder andere Rudel. Meist treffen besonders jüngere Wölfe, die im Alter von zwei bis drei Jahren abwandern, eine Wölfin, mit der sie sich dann niederlassen und ihre eigene Familie gründen. Selten wandert ein Wolf größere Strecken, es sei denn, die umliegenden Territorien sind von anderen Wolfsrudeln besetzt, sodass er keine Wahl hat, als immer weiter zu ziehen.

Hinkebein war ein mutiger und furchtloser Wolf. Warum er loszog, wissen wir nicht. Wir wissen aber, dass in Yellowstone zu diesem Zeitpunkt schon fast jedes Zipfelchen geeignetes Wolfsgebiet besetzt war. Vermutlich deshalb wanderte der schwarze Wolf immer weiter nach Süden.

Einen Monat später kontrollierte ein Trapper in Morgan, 25 Meilen nördlich von Salt Lake City, Utah, seine Kojotenfallen. Welch eine Überraschung, als ihn statt eines Kojoten ein großer schwarzer Wolf mit einem Radiohalsband erwartete. In der Nähe der Falle waren Spuren eines weiteren Wolfes zu sehen, vermutlich einer Wölfin. Wahrscheinlich hatte Hinkebein gerade begonnen, eine eigene Familie in Utah zu gründen. Der Trapper reagierte schnell. Er verfrachtete das Tier in eine metallene Hundebox und fuhr es nach Morgan, wo er es Mitarbeitern der U.S. Fisch- und Wildbehörde übergab. Man vergewisserte sich, dass der Wolf in guter Verfassung war, und versorgte ihn mit Wasser und Nahrung.

Die Biologen waren erstaunt über die ungeheuere Leistung eines hinkenden Wolfes, in nur vier Wochen über 320 Kilometer zu laufen.

Obwohl im nördlichen Utah bereits des Öfteren Wölfe gesehen und gehört worden waren, verursachte die Gefangennahme von Hinkebein helle Aufregung im Mormonenstaat. Da man sich nicht sicher war, ob Wölfe in Utah unter gesetzlichem Schutz stehen, beschloss man, ihn wieder nach Wyoming zurückzubringen.

Und so trat Hinkebein am 2. Dezember seine Rückreise nach Yellowstone an – diesmal nicht zu Fuß, sondern im Auto. An der Grenze vom Grand-Teton- und Yellowstone-Nationalpark wurde der »Utah-Wolf« – wie er in den Medien bekannt wurde – freigelassen. Einen Tag später vernahm man sein Signal in der Nähe des Yellowstone Lake, also bereits tief in der Mitte des Parks. Hinkebein lief offensichtlich zielstrebig in Richtung seines Heimatreviers und seiner Familie. Die Wissenschaftler waren sich nicht sicher, ob der Wolf nach zwei Monaten Abwesenheit vom Rudel noch akzeptiert werden würde. Spannende Tage des Wartens begannen.

Dann schließlich, am 19. Dezember gegen sieben Uhr morgens, hörte Rick McIntyre das Radiosignal von 253M im Lamar Valley und fand ihn mitten unter den Druids. Die Gruppe hatte ihn sofort akzeptiert. Jedoch wurde die freudige Familienvereinigung unterbrochen, als andere Rudel versuchten, das Territorium der Druids zu besetzen. Um ihr Revier zu verteidigen, verjagten die Druids die Eindringlinge. Kurze Zeit später mussten sie ein weiteres eindringendes Rudel in die Grenzen verweisen. Hinkebein war stets dabei. Anfangs blieb er noch ein wenig zurück, weil er – durch die Verletzung in der Falle – nun auch mit dem vorderen Bein humpelte. Aber mit der Zeit wurde er immer aktiver und arbeitete sich an die Verteidigungsspitze vor. Hinkebein war wieder voll im Geschäft.

Durch sein Hinken, das er beibehielt, und sein pechschwarzes Fell war der Wolf innerhalb der Druids sehr gut auszumachen. Sein Ausflug machte ihn noch berühmter. Viele Touristen aus Utah wollten »ihren« Wolf sehen. Seine Persönlichkeit und sein Eifer bei der Versorgung der Welpen, der Jagd auf Hirsche und bei der Verteidigung der Wurfhöhle vor Bären haben die Menschen berührt. Er hat mehr für das Rudel getan als mancher gesunde Wolf. 253M hat sich sein hohes Ansehen unter den Druids und ihren Fans definitiv verdient.

 

Wolfsrudel gesucht

Gesucht: Wolfsrudel
Zuletzt gesehen: Yellowstone-Nationalpark
Größe: 20 Tiere
Farbe: Grau
Antwortet auf: Heulen

Kann ein Wolfsrudel verloren gehen? Und wenn ja, wie oft? Diese Frage mussten sich im Dezember 2002 die Biologen stellen, denn zum zweiten Mal innerhalb von zwei Jahren war das Nez-Perce-Rudel verschwunden. Es war seit Mitte Dezember nicht mehr gesehen worden.

Nun sollte man annehmen, dass ein Rudel mit 20 Wölfen nicht so einfach verschwinden kann. Und so verbrachten die Experten Stunden damit, in der Luft und am Boden nach den Ausreißern zu suchen – vergeblich! Die Nez-Perce-Gruppe hält sich normalerweise in der Mitte von Yellowstone auf. Aber hier waren sie schon längere Zeit weder gesehen noch geortet worden.

»Wir möchten einfach nur wissen, wo sie sind«, sagte Ed Bangs, Wolfskoordinator für die amerikanische Fisch- und Wildbehörde, in seinem Büro in Helena.

Sechs der Wölfe im Rudel trugen Radiohalsbänder. Auf dem Boden sind die Telemetriegeräte nur von Nutzen, wenn der ungefähre Aufenthaltsort der Wölfe bekannt ist und ihre Position durch Dreieckspeilung ermittelt werden kann. Aus der Luft kann man zwar Signale empfangen, aber nur wenn die Sicht gut ist. Beim Nez-Perce-Rudel, das sich vermutlich weit abseits seines normalen Reviers aufhielt, nutzten die Halsbänder nichts. Da blieb den Biologen nur noch zu hoffen, dass jemand die Wölfe sah und sie informierte.

Es ist nicht ungewöhnlich für ein Wolfsrudel, aus seinem Territorium abzuwandern. Aber meist kehren sie wieder nach Hause zurück.

Die Nez-Perce-Wölfe waren jedoch schon immer Abenteurer. So verschwanden sie im Herbst 2001 gänzlich aus Yellowstone und tauchten im östlichen Idaho in der Nähe von Ashton wieder auf. Die Wölfe hatten einen Hund getötet und ein paar Tage lang für Aufregung gesorgt. Dann wanderten sie zurück in den Nationalpark.

Es gibt verschiedene Gründe, warum das Rudel im Winter 2002 aus Yellowstone verschwunden sein könnte, beispielsweise weil in ihrem Revier die Hirsch- und Bisonpopulation zurückging. Das milde Wetter und der relativ geringe Schnee könnten es den Wölfen sehr viel schwerer gemacht haben, Nahrung zu finden. Vielleicht suchten sie woanders nach Futter.

Sie hätten auch auf Kontrollgang sein können, um ihre Reviergrenzen zu überprüfen. Wölfe wissen gerne, wer ihre Nachbarn sind und wo sie sich aufhalten. Es hätte also sein können, dass sie einfach nur herumzogen, um zu sehen, wo ihre Konkurrenten waren und wo es möglicherweise neue Territorien gab.

Wölfe können Hunderte Kilometer durch sehr raues Gebiet wandern. Mit Ausnahme von einzelnen vollständig abwandernden Tieren kehren sie meist nach wenigen Wochen wieder zurück.

Auch wenn man annimmt, dass der Yellowstone-Park mit seinen 9000 Quadratkilometern Fläche ausreichend Platz für alle Beutegreifer bieten sollte, so war inzwischen doch fast jede brauchbare Ecke von Wölfen besetzt. Wenn die Wissenschaftler herausfanden, wohin das Rudel verschwunden war, konnten sie so vielleicht auch zukünftige Wolfsreviere entdecken.

Nach drei Wochen Warten und Suchen gab es immer noch keine Spur von den Nez-Perce-Wölfen. Die Biologen mussten einigen Spott über sich ergehen lassen, denn wer verliert schon so mir nichts dir nichts 20 Wölfe?

Die Forscher spekulierten unterdessen, dass die Wölfe wegen des milden Winters abgewandert waren. Bei harter Witterung und viel Schnee werden die Beutetiere schwächer. Das Revier des Nez-Perce-Rudels lag in einem Gebiet, in dem es wenig Beutetiere gab. Durch den milden Winter breiteten sich die Hirsche weiter aus und verringerten dadurch die Effizienz der Jagd. Wölfe können nicht jedes Tier töten, das sie wollen. Es gab zwar auch eine Anzahl Elche im Territorium der Nez Perce, diese hatten jedoch bisher verschiedenen Wolfsangriffen widerstanden.

Die Bisons, die hier in großer Zahl lebten, waren für die Wölfe eine schwierigere Beute, wenngleich schon die Nez Perce und auch Mollies Rudel einige Bisons getötet hatten; dies jedoch meist erst gegen Ende eines Winters, wenn die Bisons sehr viel schwächer waren.

Das Nez-Perce-Rudel war zuletzt Anfang Dezember im nördlichen Yellowstone zwischen Tower Junction und Blacktail Deer Plateau gesehen worden – alle 20 Tiere. Dies war jedoch auch das Revier von drei anderen Wolfsrudeln und damit bereits vergeben. Man konnte also davon ausgehen, dass die Wölfe in diesem Winter für ihr Futter härter arbeiten mussten als sonst. Das hätte sie auf die Idee bringen können, abzuwandern.

Aber all dies waren bisher nur Spekulationen.

Dann endlich, am 28. Januar 2003, kam die erlösende Meldung: Die Wölfe waren gefunden worden, und zwar im National Elk Refuge in Jackson, im Grand-Teton-Nationalpark.

Eigentlich hätten die Biologen es sich ja gleich denken können.

Jährlich wandern mehrere Tausend Hirsche ins National Elk Refuge, weil sie dort – einer alten Tradition folgend und als Touristenattraktion – gefüttert werden. Zum ersten Mal hatten die Wölfe 1999 dieses Schlaraffenland entdeckt. Irgendwie mussten auch die Nez Perce davon gehört und sich auf den Weg gemacht haben. Denn genau in der Mitte dieses Refugiums entdeckte sie ein Flugzeug. Wegen des milden Winters hatten die Ranger noch nicht mit dem Füttern der Hirsche begonnen, die Wölfe lebten also ungestört in der Mitte einer riesigen Hirschherde. Kann man ihnen da verübeln, dass sie ausgerissen sind?

Zwei Monate später am Ende des Winters waren sie wieder in ihrem ursprünglichen Heimatterritorium in Yellowstone, so, als wäre nichts geschehen ...