Wölfe und Tourismus

 

Die Wolfsbeobachter

Das Geräusch im Radio durchbricht die Stille in der Morgendämmerung. »Unit 39, was habt ihr?«, klingt es durch das Sprechfunkgerät.

»Wir haben einen schwarzen Wolf, der von Hitching Post nach Osten läuft. Kein Radiohalsband«, tönt es zurück. Und weiter: »Er geht in Richtung Straße. Es sieht aus, als ob er versucht, sie zu überqueren.«

»Ich sehe ihn«, antwortet Rick McIntyre, der als Biologe für das Yellowstone-Wolfsprojekt die Wölfe beobachtet, »bleibt, wo ihr seid und haltet mich auf dem Laufenden.«

»Unit 39« steht auf einem Hügel über einer Parkbucht im Lamar Valley, etwa einen Kilometer von dem Ort entfernt, von wo aus McIntyre den Wolf sieht. »Unit 39«, das sind Mark und Carol Rickman. Auf dem Nummernschild ihres Autos steht »Wolf 39F«. Sie fahren seit mehreren Jahren dreimal jährlich von Pueblo, Colorado, in den Yellowstone-Park, um Wölfe zu beobachten.

Das ist nichts Ungewöhnliches. Wenn man um diese Jahreszeit die Straße durch das Lamar Valley entlang fährt, weiß man, warum.

Seit 1995 und 1996 die Wölfe nach Yellowstone zurückgekehrt sind, steigt die Zahl derer, die diesen nördlichen Teil des Parks besuchen, ständig. Aus aller Welt kommen die Menschen hierher, um Wölfe in der Wildnis zu beobachten. Tatsache ist, dass das Lamar Valley inzwischen der beste Ort der Welt ist, um Wölfe von der Straße aus zu sehen, besser noch als der Denali-Nationalpark in Alaska.

Dies ist einer der Gründe, warum auch Dennis und Mary Ann Mann aus Rapid City, South Dakota, regelmäßig hierher fahren. Obwohl sie auch gerne mit dem Schneemobil unterwegs sind und Yellowstones andere Attraktionen genießen, sind es die Wölfe, die sie interessieren. »Es sind so wunderbare Tiere«, sagt Dennis. »Sie sind so sehr verfolgt worden. Es ist schön, sie jetzt wieder zu sehen.«

Die Rickmans sahen die Wölfe zum ersten Mal 1997 auf einem Ausflug in den Park. Am 1. Oktober entdeckten sie die Wölfin Nummer 39F durch ihr Spektiv, die einzige weiße Wölfin in Yellowstone.

»Wir beobachteten sie zwei Stunden lang, während sie schlief. Es war unglaublich«, erinnert sich Carol, die als medizinisch-technische Assistentin arbeitet und in ihrer Freizeit als Dozentin im Zoo von Pueblo mithilft. Diese Wölfin war es, die schließlich außerhalb des Parks von einem Jäger getötet wurde, der sie angeblich für einen Kojoten hielt. Die Rickmans haben ihr ein Andenken gesetzt, indem sie ihr Autokennzeichen nach »Wolf 39« benannt haben. Die Nachkommen der weißen Wölfin leben weiter. Zu ihren Töchtern gehörten die Druid-Wölfinnen Nummer 40 und 42.

Carol sagt, dass sie schon als kleines Mädchen von Wölfen fasziniert war. Obwohl alle ihre Wolfsbeobachtungen erinnernswert sind, machte sie ihre bedeutendste Beobachtung im Oktober 1997.

»Wenn ich daran denke, kommen mir immer noch die Freudentränen. Wir sahen die Druids zum allerersten Mal und hörten sie heulen. Es war am frühen Sonntagmorgen, am 5. Oktober 1997. Mark und ich waren die Ersten, die das Rudel beobachteten. Sie hatten in der Nähe von Pebble Creek einen Hirsch getötet. Es war fast noch dunkel. Als wir aus dem Auto stiegen, hörten wir die wunderbaren Stimmen des Druid-Rudels heulen. Wir konnten sie kaum durch unser Spektiv erkennen. Aber als das Licht besser wurde, sahen wir, wie sie ihre Köpfe nach oben hoben, um diese unglaublichen Töne zu machen. Auch heute noch kann ich nach jedem dieser Wolfskonzerte das Heulen noch stundenlang in mir hören.« Mark, ein Anästhesist, gesteht, dass, obwohl er eigentlich alle Wildtiere gern beobachte, er eine Schwäche für Kaniden habe, ganz besonders für Wölfe.

»Was ich gerne sehe, ist ihr Sozialverhalten«, betont Mark. »Ihre Begrüßungen, das Schwanzwedeln, das Über-die-Schnauze-Greifen. Für das Rudel ist es unbedeutend, ob ein Wolf zwei Stunden oder zwei Tage fort war, sie freuen sich immer, ihn zu sehen.« Marks Lieblingssichtung war im Winter 2001.

»Es geschah am 4. März, an Carols Geburtstag«, erzählt Mark. »Wir beobachteten gerade vier Jungwölfe der Druids, als sie gemeinsam an der Südseite des Soda Butte Creeks entlang zogen. Sie waren den ganzen Tag vom Rudel auf der Nordseite des Creeks getrennt gewesen. Gelegentlich heulten sie und warteten auf eine Antwort. Es war fast schon dunkel und nur Carol, unser Freund Bill und ich waren von den Beobachtern übrig geblieben. Plötzlich hörten wir ein lautes Heulen direkt hinter uns. Wir schauten auf den Hügel im Norden und sahen Wölfin Nummer 103F im Schnee liegen. Sie heulte etwa 20 Minuten lang. Wir konnten ihre wunderschönen Augen sehen und bei jedem Heulen kam Raureif aus ihrem Mund. Es war sehr still, der Chor klang wie eine Symphonie«, beschreibt Mark. »Ich kann mir kein schöneres Geburtstagsgeschenk für Carol vorstellen. Es berührt deine Seele.«

Dan Stuller und sein Bruder Steven verbringen ebenfalls ihren Jahresurlaub in Yellowstone. Sie erinnern sich, wie sie drei Wölfe und einen Kojoten beobachteten, die von einem getöteten Hirsch in der Nähe der Straße im Lamar Valley fraßen.

»Wir saßen etwa dreieinhalb Stunden dort und fotografierten die drei Kaniden aus nur etwa 50 Meter Entfernung«, sagt Dan. »Der Kojote stand etwa 100 Meter entfernt und beobachtete die Wölfe. Sobald die Wölfe fort waren, lief er hin und fraß seinen Teil. Wenig später kamen die Wölfe zurück. Der Kojote marschierte steifbeinig und mit eingeklemmtem Schwanz fort«, erinnert sich Dennis. Dann beobachtete er den Kojoten, wie er seinen Kopf schüttelte und die Zähne fletschte, weil seine Mahlzeit von den großen Kaniden weggenommen worden war.

Brian Connolly, ein Buchautor aus Oregon, musste weinen, als er zum ersten Mal die Yellowstone-Wölfe sah. 1997 hörte er im Lamar Valley erst einen und dann immer mehr Wölfe heulen. Dann erschienen ein Wolf mit drei Welpen auf einem Bergkamm, nur wenige Hundert Meter entfernt. Die Welpen spielten miteinander. »Ich hatte das Gefühl, dass Amerika endlich einmal etwas richtig gemacht hat«, sagt der Autor, der kurz nach dieser Begegnung den Jugendroman »Wolftagebuch« schrieb. Seit diesem Erlebnis kommt Connolly jeden Sommer nach Yellowstone – und leibt immer länger, zuletzt drei Monate. Um näher bei den Wölfen zu sein, ist er von New York nach Oregon gezogen.

Connolly, die Rickmans und viele andere Beobachter, die regelmäßig im Park sind, arbeiten inzwischen als Freiwillige für McIntyre, der für jede Hilfe dankbar ist. Manche kommen stets zur selben Zeit und können so schon eingeplant werden. Sie haben ein eigenes Sprechfunkgerät und eine Funknummer (klar, dass die Rickmans die Nummer ihrer Lieblingswölfin erhalten haben). Dann stehen sie sich in ihrem hart verdienten Jahresurlaub von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang, von minus 30 bis plus 30 Grad Celsius die Beine in den Bauch, beobachten die Wolfsrudel und melden jede Bewegung an den Biologen. Manche sprechen in ein kleines Diktiergerät, andere führen sorgfältig Buch. Die Aufzeichnungen dieser Helfer sind von unschätzbarem Wert für das Wolfsprojekt, das – wie jedes staatliche Projekt – unter chronischem Geldmangel leidet.

Die Veteranen unter den Wolfsbeobachtern haben gelernt, dass jeder, der wie McIntyre oder die Rickmans ein Sprechfunkgerät hat, für gewöhnlich weiß, wo die Wölfe sind. Und so folgt oft ein Pulk Autos dem blauen Allrad »Wolf 39«, wenn er durch den Park fährt.

Wildtierbeobachtungen sind auch in anderen Teilen Yellowstones möglich. Besonders Grizzlys findet man im Frühling und Frühsommer neben dem Lamar Valley in der Nähe von Madison. Aber Wölfe sind eindeutig die beliebtesten Attraktionen.

Corina Orth, Anke Gise und Sabrina Müller, drei Freundinnen aus Deutschland, haben den langen Flug nicht gescheut, um einmal ihren Lieblingstieren nah zu sein. Und es hat sich gelohnt. Im Februar 2002 hatten sie eine »Begegnung der besonderen Art«. Sie beobachteten gerade in der Nähe der Straße zwei Wölfe, die an einem Hirschkadaver fraßen. Plötzlich interessierten sich die noch jungen Tiere für die Beobachter und näherten sich den Frauen bis auf wenige Meter.

»Wir konnten es nicht fassen«, erzählen sie mit glänzenden Augen. »Nie hätte ich gedacht, einmal einem wilden Wolf gegenüberzustehen«, schwärmt Sabrina Müller. Aber so faszinierend die Begegnung auch war, so traurig war sie auch. »Wir wussten, dass es nicht gut für die Wölfe war, uns so weit zu nähern«, fürchtet Corina Orth, die eine Hundeschule auf Sylt betreibt und sich im Verhalten von Kaniden auskennt. »Hier im Park sind sie geschützt, aber was, wenn sie aus dem Park herauskommen und Menschen nicht fürchten? Das wird ihr sicherer Tod sein.« Und so hat die atemberaubende Begegnung auch ein wenig Trauer und Angst um die Wölfe hinterlassen.

Solche Erlebnisse wünschen sich alle, die aus der ganzen Welt in den Yellowstone-Park kommen, um die Wölfe zu sehen. Die Beutegreifer zu finden, ist nicht schwer. Man fährt einfach nur die Straße durch das Lamar Valley auf und ab und hält Ausschau nach einer Parkbucht voller Autos und einer Gruppe Menschen, die mit Ferngläsern, Spektiven und telebestückten Kameras alle in dieselbe Richtung schauen.

Nach Auffassung des Managers des Super 8 Hotels in Gardiner, Montana, wächst die Zahl der Wolfsbeobachter ständig. Die Wölfe haben einen völlig neuen Markt für den Tourismus erschlossen, ganz besonders für die Geschäfte in dem kleinen Ort am Nordeingang des Parks.

»Wir rechnen in den nächsten Jahren mit steigendem Umsatz«, freut sich Elton Taft, dessen Hotel ein »Wolfsjournal« in der Lobby ausgelegt hat. Die Besucher können ihre Wolfsbeobachtungen aufschreiben und die anderer Gäste lesen. »Die Wölfe hier begeistern die Menschen auf jeden Fall«, meint Taft. »Es ist schon eine Art Kult geworden. Die Wolfsfans kommen aus Kalifornien und von der Ostküste, um einmal einen Blick auf ihre Lieblinge zu werfen. Ökotourismus liegt im Trend, und dafür werben wir auch hier.«

Das Hotel gibt Wolfsbeobachtern sogar eine Ermäßigung. »Wolfwatchers Welcome« steht auf der großen Anzeigetafel vor dem Eingang. Man sollte die Begeisterung jedoch nicht überbewerten. Im Herbst zu Beginn der Jagdzeit steht auf der Tafel »Hunters Welcome«.

Die Wölfe haben sich wirtschaftlich positiv für den Park und die umliegenden Ortschaften ausgewirkt; viele Outfitter und Veranstalter haben inzwischen das ökonomische Potenzial von Wolfsbeobachtungen erkannt. Sie bieten immer mehr Wolfstrips an, um die Wünsche der Wildtierliebhaber zu erfüllen.

Carl Swoboda zum Beispiel von »Yellowstone Safari« fährt regelmäßig Interessierte in seinen Kleinbussen durch den Park. Seine Klienten zahlen 1.600 Dollar für zwei Tage, um einen Blick auf die berühmten Vierbeiner zu werfen.

James Halfpenny, Autor und Spurenspezialist, leitet »A Naturalist's World«, ein Informations- und Aufklärungsprogramm in Gardiner, Montana. Ab 300 Dollar pro Person und Tag unterrichtet er in seinen Kursen Wolfsbiologie, Ökologie, Fährtenlesen und die komplexen Themen, die mit der Rückkehr der Wölfe zusammenhängen.

Und die im Park ansässige Yellowstone-Association bietet zahlreiche Seminare an, die speziell auf Wolfsliebhaber zugeschnitten sind.

Für die, die kommen, um Wölfe zu sehen, ist es eine einzigartige Gelegenheit, sie in ihrem natürlichen Lebensraum zu beobachten. Für die Guides ist es eine Chance, die Naturwunder mit ihren Kunden zu teilen und sie über die Stellung der Wölfe im Ökosystem aufzuklären. Denn die Touristen kommen nicht nur wegen der Wölfe, sondern auch, weil gerade diese Tiere Wildnis und ein perfektes Ökosystem repräsentieren.

Bei aller Euphorie sollte man jedoch auch die Nachteile des Wolfstourismus nicht vergessen. Denn schon Goethes Faust wusste, dass dort wo viel Licht auch viel Schatten ist. Und so wird auch der Schatten des Wolfstourismus im Park immer dunkler. Ich spreche aus eigener Erfahrung, weil ich seit der Rückkehr der Wölfe regelmäßig mehrmals im Jahr Wolfsbeobachtungsreisen organisiert und geleitet und auch als Guide Individualreisende betreut habe. Seit 1995 hat sich Vieles verändert. Waren wir einst noch ganz Hartgesottene, die bei bitterer Kälte ausharrten, bis sich die Wölfe blicken ließen, so wurden es im Laufe der Jahre immer mehr. Selbst die von uns allen so geschätzten (weil menschenleeren) Wintermonate werden voller. Inzwischen kommen auch im Februar Busladungen von Touristen und Schülern und wollen die Wölfe auf dem Tablett serviert bekommen. Immer noch ist es befriedigend, wenn ich jemanden bei meinen Exkursionen dabei habe, der zum ersten Mal einen Wolf sieht. Aber die Liebe zum Wolf kann auch zur Last für die Tiere werden.

So habe ich mit einer Gruppe im Januar 2003 beobachtet, wie etwa 20 Autos einer Splittergruppe der Druids folgten, die im Lamar Valley auf der Jagd waren. Statt damit zufrieden zu sein, dieses aufregende Erlebnis aus der Ferne zu beobachten, wollten die Menschen hautnah dabei sein, einschließlich der Wildfotografen (von denen einige diesen Titel aufgrund ihres Verhaltens wirklich nicht verdienen). Wann immer die Wölfe einen Versuch machten, die Hirsche zu jagen, sprangen die Besucher in ihre Autos und folgten ihnen. Zweimal brachen die Kaniden ihre Jagd ab (wer einmal eine Strecke in tiefem Schnee gerannt ist, weiß, wie viel wertvolle Energie das kostet) und gaben schließlich ganz auf.

Im Februar 2002 sah ich, wie Menschen aus einem fahrenden Auto heraus den Wölfen Essen zuwarfen. Natürlich habe ich den Fall den Rangern gemeldet.

Und in einem anderen Winter hatten die Druids in der Nacht einen Hirsch dicht an der Straße gerissen. Als sie im Laufe des Tages zu dem Kadaver zurückwollten, um zu fressen, wurden sie von Fotografen gestört, die sich mit ihren riesigen Objektiven vor dem Kadaver aufgebaut hatten, um ein gutes Foto zu bekommen.

Im April 2003 machten es die Wolfsbeobachter einem Wolf, der von einem Kadaver Futter in die Wolfshöhle transportieren wollte, unmöglich, die Straße zu überqueren und zur Höhle zu kommen, weil sie ihm immer wieder folgten.

Im Sommer scheint den Wölfen inzwischen der Trubel auch zu viel zu werden, sie ziehen sich ins menschenleere Hinterland zurück.

Ich verstehe die Begeisterung beim Anblick eines Wolfes, und ich schreibe es einer Art »Massenhysterie« zu, die die Leute in ihre Autos springen und den Wölfen folgen lässt. Ich verstehe auch, dass jemand, der sehr viel Geld dafür bezahlt, die Tiere zu sehen, dann auch eine Nahaufnahme mit nach Hause nehmen möchte. Fakt ist jedoch, dass auch wir Wolfsbeobachter ein Teil des Problems sind.

Ich für meinen Teil habe die Konsequenzen gezogen und meine Gruppengröße auf vier Personen begrenzt. Interessierte Einzelpersonen können mich als Guide tageweise buchen.

Gleichwohl werden in Zukunft mehr und mehr Wolfsbegeisterte in den Park kommen. Wenn sich die scheuen Wölfe dann in das Hinterland des Parks zurückziehen, wird vielleicht wieder die Zeit kommen, wo wir uns – wie 1995/96 – glücklich schätzen dürfen, wenn wir sie aus der Ferne mit dem Spektiv beobachten können.

Vielleicht bin ich zu egoistisch geworden, die Wölfe mit anderen zu teilen. Vielleicht ertrage ich es auch einfach nicht mehr, inmitten von lärmenden Menschenmassen zu stehen oder im »Wolfsstau« im Auto zu sitzen und in die Augen eines Wolfes zu schauen, der verzweifelt versucht, einen Weg über die Straße zu seiner Familie zu finden. Wir haben sie gegen ihren Willen hierher gebracht und ihnen ein Zuhause gegeben. Jetzt sollten wir ihnen den Raum geben, in diesem Zuhause ungestört zu leben.

 

Lieben wir die Wölfe zu Tode?

Es war am 25. Februar 2002, vier Tage nach meinem Geburtstag, als wir (vier Wolfsbeobachter aus Deutschland) ein Wolfserlebnis der besonderen Art hatten, das uns in ein Wechselbad der Gefühle schicken sollte.

Die Druids hatten am Morgen nur etwa 20 Meter von der Straße entfernt im Wald einen Hirsch getötet. Einzelne Wölfe kehrten den ganzen Tag immer wieder zur Beute zurück, um daran zu fressen. Entsprechend voll war es auf der Straße mit Fotografen und »Wolfs-Paparazzi«.

Am Abend kurz vor der Dämmerung stießen auch wir dazu. Zu diesem Zeitpunkt fraßen noch zwei Jungwölfe an dem Kadaver, die sich nicht im geringsten weder von den Zuschauern noch den Fotografen stören ließen.

Einmal tauchte kurz einer der erwachsenen Druids oberhalb des Kadavers auf. Ein Blick auf uns sagte ihm »zu viele Zweibeiner«, und er zog wieder ab, nicht ohne vorher noch einmal einen Seitenblick auf seine zwei gefräßigen Familienmitgliedern zu werfen.

Als die beiden satt waren, gingen wir davon aus, dass sie ihrem Kollegen folgen würden. Aber weit gefehlt. Schon beim Fressen hatten sie uns ständig aus den Augenwinkeln gemustert. Ihnen war klar, dass wir ihnen weder ihr Fressen wegnehmen würden noch sie bedrohten. Neugierig geworden kamen sie zaghaft näher – Nackenhaare gesträubt, Ohren aufmerksam nach vorne, aber Schwanz eingeklemmt, was ein Zeichen ihrer Neugier aber auch ihrer Unsicherheit war. Erst kam der eine Wolf, vorsichtig eine Pfote vor die andere setzend. An einem Baum, der direkt an der Straße stand, machte er Halt. Dann näherte sich der andere. Ihr weiches, graues Fell war so nah, dass wir es fast hätten berühren können. Die gelben Augen ließen uns nicht aus dem Blick.

Mir schossen tausend Gedanken durch den Kopf. Obwohl ich da schon seit über zwölf Jahren Wolfsaufklärung betrieb und auch des Öfteren nahen Kontakt mit Gehegewölfen hatte, empfand ich einen Hauch von Furcht. Die Tiere reichten mir bis zur Taille. Sie waren jung und kräftig mit überproportional großen Pfoten, ihre Schnauzen rot verschmiert vom Blut des Hirschen. Ich musste feststellen, dass trotz aller Aufklärung und Liebe zu den Wölfen immer noch ein Hauch von Mittelalter tief in meinen Genen verwurzelt ist.

Gleichzeitig empfand ich eine unbändige Freude. Tränen stiegen mir in die Augen, weil mir die Natur die einmalige Gelegenheit gegeben hatte, die Nähe eines wilden und so schönen Tieres zu erleben.

An Fotografieren war schon lange nicht mehr zu denken. Zum einen war es jetzt zu dunkel, zum anderen zitterten wir alle zu sehr, um unsere Kameras ruhig zu halten – ob von den 20 Grad Kälte oder der Anspannung und Aufregung mag dahingestellt bleiben.

Während wir zu Salzsäulen erstarrten, um ja durch keine unbedachte Bewegung die Wölfe zu verscheuchen, schauten uns die beiden Jungwölfe weiterhin intensiv und aufmerksam zugleich an. Offensichtlich versuchten sie herauszufinden, was für merkwürdige Wesen diese Zweibeiner waren. Der stumme Austausch schien eine Ewigkeit zu dauern. Dann, nachdem sie beschlossen hatten, dass wir keine Gefahr bedeuteten, trabten sie langsam die Straße entlang, nicht ohne zwischendurch noch an unseren Autos zu schnuppern und gelegentlich auch das eine oder andere Fahrzeug mit einem kräftigen Urinstrahl zu markieren.

Es herrschte eine merkwürdige Stimmung unter den Wolfsbeobachtern. Alle Hektik hielt inne. Die sonst so lauten Fotografen stiegen stumm in ihre Wagen und fuhren davon – weg von den Wölfen, als ob sie Angst hätten, durch ein erneutes Verfolgen der Tiere den Zauber zu zerstören, der entstanden war. Auch wir machten uns still auf den Heimweg.

Wir wussten alle, dass das, was wir gerade erlebt hatten, nicht sein durfte. Und wenngleich wir überaus glücklich waren, einem wilden Wolf so nah begegnen zu dürfen, so waren wir zur selben Zeit traurig, weil wir ahnten, dass so wenig Scheu vor Menschen eines Tages ihren Tod bedeuten könnte.

Am nächsten Morgen sprach ich mit dem zuständigen Biologen Rick McIntyre über das Erlebte. Das wenig zurückhaltende Verhalten der Wölfe war ihm in letzter Zeit schon mehrfach gemeldet worden. Gelegentlich hatte er gemeinsam mit einem Park-Ranger versucht, die Wölfe mit Feuerwerkskörpern und Gummikugeln zu verscheuchen. Dies schien jedoch nur wenig Eindruck auf die Teenager zu machen.

Das Verhalten der beiden Jungwölfe war einzigartig und ihrer jugendlichen Neugier zuzuschreiben. Sie waren uns nahe gekommen – zu nahe.

Wir hatten in unserer Faszination und Unsicherheit falsch reagiert. Wir hätten sie zu ihrem eigenen Besten verjagen müssen. Aber wer kann schon klar denken, wenn er einem wunderschönen, wilden Wolf gegenübersteht?

Ich fürchte, dass sich derartige Zwischenfälle gerade in Nationalparks mehren werden. Wölfe gehören zu den scheuesten Wildtieren und sind normalerweise dem Menschen gegenüber äußerst misstrauisch. Problemwölfe sind selten, und in der Wolfsszene wird immer wieder darauf hingewiesen, dass noch kein wilder Wolf einen Menschen angegriffen habe. Das ist jedoch so nicht richtig. (Ich gehe auf das Problem der Angriffe von Wölfen auf Menschen ausführlich in meinem Buch »Wolfsangriffe. Fakt oder Fiktion?« ein.)

 

Um in Yellowstone die wilde Wolfspopulation zu erhalten, darf es nicht so weit kommen, dass Menschen und Wölfe interagieren. Die Parkverwaltung muss also quasi an zwei Fronten arbeiten: Sie muss zum einen die Wölfe »wild« halten, das heißt bei Problemwölfen (beispielsweise »Bettelwölfe«) entsprechende Maßnahmen ergreifen und sie gegebenenfalls aus dem Park entfernen oder sogar töten. Zum anderen muss sie die Menschen »kontrollieren« und erziehen, damit sie sich nicht den Wölfen nähern. Sollten sie es dennoch tun, muss dies drastische Strafen zur Folge haben.

Fast alle Wölfe, die bisher Menschen angegriffen haben, hatten ihre natürliche Scheu verloren.

Ein wichtiger Faktor bei der Gewöhnung von Wölfen an Menschen ist das Alter des Wolfes. Die meisten Wölfe, die sich Touristen nähern, sind jung, neugierig und auch oft gelangweilt, weil sie noch nicht in vollem Umfang bei den Rudelaktivitäten mitmachen können. Wird dieses Verhalten mit Futter »belohnt«, dann lernen sie schnell, dass die Zweibeiner Nahrung bedeuten.

Neuere Studien bestätigen, dass Wölfe für ihre Größe und ihr Beutegreiferpotenzial die für Menschen am wenigsten gefährliche Wildtierart sind.

 

In Yellowstone stellte man die erste Annäherung von Wölfen an Menschen 1999 im Lamar Valley fest. Ein Druid-Jährling zeigte nur wenig Angst und näherte sich mehrmals Touristen. Außerdem durchsuchte er Mülltonnen und fraß eine Plastiktüte.

2001 näherte sich ein weiterer Druid-Jährling mehrmals Beobachtern. Während seine Rudelmitglieder im Eiltempo fortrannten, lief der Jungwolf dicht an den Menschen vorbei. Einmal rannte ein Biologe auf den Wolf zu und schrie ihn an, woraufhin das Tier floh. Als die Wölfe Ende des Sommers weiterzogen, verschwand mit ihnen auch das Problem. Der Jährling wanderte Anfang 2002 von seinem Rudel ab und wurde später außerhalb des Parks erschossen. Ohne die nötige Furcht vor den Menschen hatte er sich zu weit auf das Gebiet einer Ranch gewagt.

 

Wolfsbeobachtungen in Yellowstone werden populärer. Die Tiere sind täglich zu sehen. Wenn sie die Straße überqueren, folgen ihnen Touristen und Fotografen oft mit waghalsigen Fahrmanövern, weil die Besucher möglichst nahe an die Wölfe heran wollen. Inzwischen hat die Parkverwaltung im Sommer zwei Leute angestellt, die versuchen, die Touristen in Zaum zu halten und die zur Not auch die Straße blockieren, damit ein Tier ungestört zur Höhle kann.

Zusätzlich zum Management von Wölfen muss der Park Service nun auch Touristen managen.

 

Klassenzimmer Yellowstone

Es ist Mitte Mai 2001. Ich sitze in dem wohl abenteuerlichsten Klassenzimmer der Welt: in einer Blockhütte auf der Buffalo Ranch, mitten in Yellowstones Lamar Valley. Unsere Klasse besteht aus 14 bunt zusammengewürfelten Menschen aus aller Welt. Da ist eine Lehrerin aus Quebec, eine Journalistin aus Oslo, die für das British Airways Magazin einen Bericht schreiben soll, ein Student aus der Schweiz und ein Programmierer aus Mexiko. Wir alle sind hierher gekommen, um an dem Seminar »Ökologie von Wölfen und Bären« teilzunehmen, das von der Yellowstone Association veranstaltet wird. Unsere Lehrer sind Brian Beck, ein Bärenspezialist, der für den Park Service im Glacier-Nationalpark arbeitet, David Gaillard von der Predator Alliance sowie Norman Bishop, der 36 Jahre beim Park Service gearbeitet hat, davon 17 in Yellowstone. Norm, wie ihn alle nennen, war von 1985 bis 1997 leitend bei der Aufklärungskampagne für die Wiederansiedlung der Wölfe tätig. Er hat für seine Arbeit mehrere Auszeichnungen bekommen.

Im Augenblick jedoch kommen wir mit dem Unterricht nicht weiter. Gerade als sich unsere Lehrer vorstellen wollen, werden wir durch einen Blick aus dem Fenster abgelenkt. Dort draußen – quasi im Panoramabild – spielt sich ein Drama ab. Eine kleine Gruppe Wapiti-Hirsche hat sich eng zusammengeschlossen und rennt plötzlich los, gefolgt von drei Wölfen. Nach einer kurzen Hetzjagd geben die Wölfe auf, und wir erfahren hautnah etwas über das Jagdverhalten der Beutegreifer.

Wenige Zeit später »stört« erneut ein Wolf den Unterricht, weil er mit einem Raben spielt. Schmunzelnd beobachten wir die Interaktion. Konzentrieren können wir uns erst wieder, als die Sonnenblenden vor den Fenstern heruntergezogen werden und Norm mit der Dia-Show beginnt. Im Laufe des Tages haben die Wölfe ein Einsehen und lassen sich – vorerst – nicht mehr blicken, sodass wir uns in Ruhe auf den Stoff konzentrieren können.

Dies ist eines von vielen Seminaren des Yellowstone-Institutes, die ich hier besucht habe. Ich komme gerne hierher. Die Atmosphäre ist international und doch familiär, die Lehrer sind erstklassige und bekannte Spezialisten in ihrem Fach, und die Lage des Klassenzimmers ist ohne Übertreibung spektakulär.

Die meisten Kurse finden auf der historischen Buffalo Ranch in einer Hütte statt, die aus dicken Holzstämmen gebaut ist. Hier herrscht eine entspannte, gemütliche Stimmung. In der großen Küche bereiten die Studenten ihre eigenen Mahlzeiten zu oder bringen unterschiedlichste Gerichte zum Potluck-Dinner mit. In der Kaffeemaschine brodelt stets ein Vorrat an dünnem Kaffee. Im Winter und bei Schlamm lautet die strickte Anweisung im Schulungsraum »Shoes off«. In dieser Zeit mischt sich in den Geruch des Kaffees gelegentlich der von verschwitzten Socken, was aber niemanden sonderlich zu stören scheint. Der Abendunterricht findet im Sommer am Lagerfeuer statt.

Das Beste an diesem Klassenraum ist natürlich der Ausblick auf das Lamar Valley. An fast jedem Fenster steht ein Spektiv oder liegt ein Fernglas, damit man möglichst schnell sehen kann, was im Tal so vor sich geht. Die Konzentration fällt schwer, wenn draußen Bär und Wolf steppen. Da dies die Veranstalter auch wissen, haben sie wohlweislich den Unterricht in die »tierfreie« Zeit gelegt, also meist von 9 bis 12 und von 15 bis 16 Uhr. Davor, dazwischen und danach gibt es jede Menge Feldexkursionen. Morgens bei Sonnenauf- und abends bis zum Sonnenuntergang stehen Wolfs- und Bärenbeobachtungen auf dem Programm, mittags wandern wir und studieren die Landschaft, die Tiere oder die Pflanzen. Wir beobachten Grizzlys, kriechen in eine verlassene Wolfshöhle oder picknicken im Rose-Creek-Gehege, dem einstigen Wolfsgehege des Rose-Creek-Rudels von 1995. Im Winter wird mit Schneeschuhen oder Langlaufski gewandert und das Überleben bei Eis und Schnee geübt.

Die Yellowstone Association ist eine gemeinnützige Organisation, die Informations- und Aufklärungsprogramme über den Nationalpark finanziert und organisiert. Die Idee dazu entstand im Yosemite-Nationalpark. 1920 erkannte ein Ranger, dass der neu entstandene National Park Service mit seiner begrenzten Anzahl von Angestellten nicht das Bedürfnis nach Informationen erfüllen konnte. Dieser Ranger gründete zusammen mit anderen Interessierten die »Yosemite Museum Association«, die private Spenden sammelte, um ein Museum und ein Besucherzentrum zu bauen.

Aus dieser ersten Organisation entstanden über sechzig weitere Nationalpark-Gesellschaften. Jede von ihnen ist eine eigenständige gemeinnützige Organisation, die sich zum Ziel gesetzt hat, Parkbesuchern Aufklärungsmaterial zur Verfügung zu stellen und historische und wissenschaftliche Projekte innerhalb des jeweiligen Parks zu unterstützen.

Die »Yellowstone Association for Natural Science, History, and Education, Inc.« (kurz: Yellowstone Association) wurde 1933 gegründet – ursprünglich mit dem Ziel der Errichtung einer Forschungsbibliothek. Seitdem hat sie ihre Rolle ausgeweitet und bietet Parkbesuchern ein erstklassiges Informationsprogramm und Broschüren an. Mit ihren Verkäufen und Seminaren sowie den Spenden ihrer Mitglieder unterstützt sie den Nationalpark und das »Yellowstone Institute«, das jährlich mehr als 200 Kurse anbietet. Die Seminare, die von zwei bis fünf Tagen dauern, konzentrieren sich auf die Wildtiere des Parks, seine geothermischen Aktivitäten, seine Geschichte und die Wildnis. Da gibt es Kurse über: Wildblumen, Vögel, Naturfotografie und kreatives Schreiben, Kunst, Fliegenfischen, Kajak fahren, Philosophie und die Geschichte der Indianer, um nur einige wenige zu nennen. Fast 3.000 Teilnehmer jährlich lernen so die natürliche Schönheit des Parks und seine Geschichte aus erster Hand kennen. Das Institut hat inzwischen den Ruf, eine der besten Wildnisschulen Amerikas mit höchsten Ansprüchen für seine Lehrer zu sein.

Ein erstklassiger Lehrer ist auch Brian, unser Bärenspezialist. Wir lernen in dieser Woche viel über das Verhalten von Grizzlys und Schwarzbären. Und immer wieder erzählt Brian seine zahlreichen Bärenanekdoten.

Das Yellowstone Institute begrenzt die Zahl der Teilnehmer bei den Kursen auf 12 bis 15. So bleibt eine private Atmosphäre erhalten, die optimales Lernen garantiert. Norm Bishop, der den Park wie seine Westentasche kennt, nimmt uns abends zur Wolfsbeobachtung mit.

Wenn es dunkel wird, treffen wir uns am Lagerfeuer, bevor wir uns in unsere kleinen Blockhütten zurückziehen. Wer es schafft, nach all der Aufregung des Tages und den langen Wanderungen noch die Augen – und Ohren – offen zu halten, kann sich dann der Stille hingeben, für die Yellowstone so berühmt ist und die gelegentlich nur von dem Rufen einer Eule oder dem Heulen der Wölfe unterbrochen wird.

Die Blockhütten stehen auf historischem Grund und sind Zeugen für eine lange Episode in der Geschichte des Wildtiermanagements. Die Buffalo Ranch hat ihren Namen von den Bisons, die 1902 hierher gebracht wurden, um die letzten dieser braunen Riesen vor dem gigantischen Abschlachtungsfeldzug zu retten, den die weißen Siedler Ende des 19. Jahrhunderts begonnen hatten. 28 Bisons und einige Tiere von halb domestizierten Privatherden fanden hier eine Bleibe. Bis 1952 lebten die auf der Ranch. Nach der Sommersaison im Park arbeiteten die Ranger auf der Ranch. Sie mähten Heu, trieben die Tiere in die Gehege und schlachteten überzählige Bisons. Ursprünglich hielt man die Bisons in Gehegen und fügte vereinzelt Kälber von der wilden Herde des Parks hinzu. Aber nach und nach löste sich diese strikte Trennung auf. Bisons von der Ranch wurden in andere Gebiete von Yellowstone gebracht, damit sich diese Herden ebenfalls vergrößern konnten.

Heute lebt im Park die einzige wilde und genetisch reine Bisonherde Nordamerikas. Inzwischen gibt es wieder fast 4.500 Bisons (2012) in Yellowstone.

Die Gebäude, die damals auf der Buffalo Ranch gebaut wurden, dienen heute als Ranger-Station und als Schulungsraum. Die kleinen Blockhütten, in denen die Studenten während der Seminare wohnen, wurden 1981 aus einem anderen Teil Yellowstones hierher gebracht.

Nach fünf Tagen Intensivunterricht über die Ökologie von Yellowstone und ihre Bedeutung für Bären und Wölfe, nach täglichen Wanderungen, Wolfs- und Bärenbeobachtungen und langen abendlichen Gesprächen sind wir alle Freunde geworden und tauschen vor dem Abschied noch unsere Anschriften und E-Mail-Adressen aus. Fast alle wollen wiederkommen und andere Kurse belegen. Auch das ist es, wofür viele Teilnehmer hierher kommen, neben den interessanten Schulungen und der unglaublichen Lage des Institutes: Gleichgesinnte treffen, die das »wahre« Yellowstone erleben wollen, fern von Hotels und Souvenirläden.