Einleitung
Es ist ein kalter Junimorgen. Nur langsam erscheint ein Lichtstreifen am Horizont. Ich bin allein im Lamar Valley – noch. Bald schon werden die ersten Wolfsbeobachter eintreffen. Ich parke mein Auto am »Hitching Post«, wo ich einen guten Überblick über das Tal und das Wäldchen habe, in dem sich die Höhle des Druid-Peak-Rudels befindet. Einen Moment lang schließe ich die Augen und lausche der Stille, die nur unterbrochen wird vom entfernten Chorheulen einiger Kojoten. Am Ende der Straße tauchen Autoscheinwerfer auf. Die Wolfsgemeinde trifft ein. Rick McIntyre, der Biologe, ist wie immer der Erste. Er holt seine Telemetrie-Ausrüstung aus dem Auto und kontrolliert die Radiofrequenzen der Wölfe, indem er sich langsam mit der Handantenne in alle Himmelsrichtungen dreht. Plötzlich höre ich laut und deutlich ein klares »Piep, Piep« aus dem Empfänger. Ein Wolf! Rick macht sich Notizen und packt die Antenne wieder ein. Dann kommt er auf mich zu: »Good Morning, Elli.« Er erklärt mir, dass er Signale der Leitwölfe Nummer 21M und 42F hat, die auf dem Weg in Richtung Höhle sind und in Kürze sichtbar sein dürften. Mit einem eiligen »See you!« ist er schon wieder fort.
Der nächste der »ständigen Beobachter«, der auftaucht, ist Bob Landis, ein Tierfilmer von National Geographic, der in Gardiner lebt. Er winkt kurz zu mir herüber und fährt weiter, immer auf der Suche nach den spektakulären Aufnahmen, die wir in seinen Filmen bewundern dürfen. Ich habe größte Hochachtung vor dem Mann, der bei jedem Wetter tagein, tagaus im Park ist, um die Wölfe zu finden. Seine Werke bringen uns die Wölfe nah und berühren uns.
Nach und nach tauchen die ersten einheimischen Fotografen auf: Dan und Cindy Hartman, die in Silver Gate, an der Parkgrenze, in einem kleinen Blockhaus leben, in dem sie auch ihre Fotogalerie haben. Wir sind inzwischen gute Freunde geworden, von ihnen stammt das Titel- und Rückbild für dieses Buch. Dann trifft Bob Weselmann ein. Seine Leidenschaft für die Wölfe ist so groß, dass er im Sommer schlecht bezahlte Saisonjobs beim National Park Service annimmt, um im Park zu leben. In jeder freien Minute ist »Bison-Bob« – so genannt, weil seine Aufgabe darin besteht, die Bisons zu zählen – im Park und fotografiert. Bob hat ein erstaunliches Gespür für die Wölfe und ist meist schon am Ort, noch bevor die Tiere selbst auftauchen. Bobs großem, rotem Allrad zu folgen ist fast eine Garantie für Wolfssichtungen.
Und so versammelt sich Tag für Tag bei Sonnenauf- und Sonnenuntergang die verschworene Wolfsgemeinde im Lamar Valley. Mein persönlicher »Herr der Wölfe« ist Rick McIntyre, der Mann, der die Yellowstone-Wölfe in- und auswendig kennt, besser als jeder andere, und der dennoch nicht im Licht der Öffentlichkeit steht wie zum Beispiel Doug Smith, der Leiter des Wolfsprojektes. Obwohl ich seit vielen Jahren die Beutegreifer beobachte, habe ich es immer noch nicht geschafft, Rick »einzuordnen«. In gewisser Weise ist er wie die Wölfe. Hat man sich endlich einmal entschlossen, eine Aussage über ihn zu treffen, so wirft er am nächsten Tag alles wieder um. Ist er heute äußerst gesprächig und gesellig, kann es sein, dass er morgen allzu lästige Fotografen in die den Wölfen entgegengesetzte Richtung schickt oder nur stumm in sein Fahrzeug steigt und wegfährt, oft gefolgt von einer langen Kolonne Autos, deren Insassen hoffen, so einen Blick auf die berühmten Beutegreifer zu erhaschen (nach dem Motto: Wo Rick ist, sind auch die Wölfe). Ich habe es inzwischen aufgegeben, ihn verstehen zu wollen. Ich freue mich, wenn er »gut drauf« ist, und nütze die Situation dann schamlos aus. Ansonsten nähere ich mich ihm respektvoll wie ein niederrangiger Wolf mit eingekniffenem Schwanz, angelegten Ohren und freundlichem Grinsen.
Mein wahrer Held aber wird er in den Sommermonaten, wenn er mit engelsgleicher Geduld und stoischer Ruhe die Fragen der vielen Parkbesucher beantwortet. Einen Beweis dafür darf ich kurze Zeit später erleben, als Rick zurückkehrt. Inzwischen ist es hell geworden, und die ersten »normalen« Touristen fallen ins Lamar Valley ein. Sie sehen uns mit unseren Hochleistungsspektiven warten, halten kurz an, während die lauten Motoren ihrer benzinfressenden Autos aufheulen, lassen das Fenster runter und schreien: »Irgendwas los da draußen?« Wenn wir verneinen, brausen sie weiter. Einige wollen uns nicht so recht glauben. Sie parken ihr Auto, steigen aus und gesellen sich zu uns. Rick wird wie immer von seiner Fangemeinde umlagert. Eine blonde Dame mit rosa Sweatshirt über den Jeans und mit paillettenbesetzten Schuhen fragt ihn mit tiefem Augenaufschlag aus getuschten Wimpern: »Wann werden die Wölfe rausgelassen?« Ich halte die Luft an, um nicht laut loszuprusten, und kann daher Ricks Antwort leider nicht verstehen, sehe aber, wie er freundlich und mit unbewegtem Gesicht der Dame etwas erklärt, woraufhin sie befriedigt wieder zu ihrem Wagen tippelt und weiterfährt. In diesen Augenblicken steigt Rick auf dem Monument, auf das wir Wolfsgroupies ihn gesetzt haben, in schwindelnde Höhen.
Es ist morgens nach neun Uhr. Die Wölfe haben einen Umweg gemacht und sich heute nicht mehr blicken lassen. In den Parkhotels ist jetzt das Frühstück beendet, und die Touristen brechen zur Rundfahrt auf. Die ersten Busse mit japanischen, koreanischen und europäischen Besuchern treffen im Lamar Valley ein. Sie alle hoffen, einen Wolf oder Grizzly vor die Kamera zu bekommen, möglichst so dicht, dass sie ihn mühelos und mit der normalen Brennweite ablichten können. Kaum einer von ihnen hat die Zeit, sich abseits der Wege und Geysire umzusehen. Ihr Zeitplan lässt keine Verzögerungen zu: eine halbe Stunde Norris Geysir Bassin, eine halbe Stunde Lower Falls, eine Stunde Mammoth Hot Springs und eine Stunde Old Faithful. Auf dem Weg dorthin können sie – wenn sie Glück haben – einen Bären, einen Wolf, einen Kojoten oder einen Elch »mitnehmen«.
Ich weiß, wovon ich rede, denn ich habe selbst – lange vor der Rückkehr der Wölfe – im Sommer als Reiseleiterin in Yellowstone gearbeitet. Das Lamar Valley war dabei nie auf meinem Reiseplan. 1980 geriet ich eher durch Zufall in dieses Tal. Unsere normale Route von Cody, Wyoming, durch den Ost-Eingang war wegen Straßenarbeiten gesperrt. So fuhren wir über den spektakulären Chief Joseph Highway nach Cooke City und von dort durch das nordöstliche Tor in den Park.
Schon beim ersten Anblick des Lamar Valley hat mich die Magie dieses Ortes erfasst – und von da an nie mehr losgelassen. Noch im selben Jahr kam ich zurück, diesmal allein und ohne Touristen. Seit dieser Zeit fahre ich immer wieder in die »Serengeti Amerikas«, mehrmals im Jahr und – wenn es sich privat und beruflich einrichten lässt – auch für längere Zeit. In den ersten Jahren fanden nur wenige Besucher ihren Weg in diese entlegene Ecke. Lediglich die »Bärenfans« waren im Sommer hier und ein paar Biologiestudenten, die das Verhalten der Kojoten erforschten. Ansonsten wurde die Straße durch das Hochtal nur als Durchgangsstraße benutzt.
Aber seit die Wölfe zurück sind, ist auch dieser Ort nicht mehr geheim. Im Jahr 2002 wurde der hunderttausendste Besucher im Lamar Valley willkommen geheißen.
Ich habe eine geteilte Meinung zu dem Thema. Auf der einen Seite verdiene auch ich an dem Trubel um die Wölfe mit, denn ich organisiere Wolfsbeobachtungstouren und führe als Guide Einzelpersonen oder kleine Gruppen zu den Wölfen. Auf der anderen Seite stelle ich immer mehr fest, wie sehr das Lamar Valley durch die ansteigenden Besucherzahlen zu einer der vielen weiteren Attraktionen von Yellowstone »degradiert« wird – zumindest in der Hochsaison in den Sommermonaten.
Aber es gibt ihn noch, den Zauber dieses Tals. Es gibt ihn an kalten Wintertagen, wenn der Frost mit Temperaturen um minus 40 Grad Celsius den Atem der Bisons gefrieren lässt und nur noch die hartgesottensten Wolfsfans draußen stehen. Es gibt ihn sogar im Sommer, wenn man nur ein wenig abseits der Straßen ins Hinterland wandert. Dort begegnet man Gleichgesinnten, die ebenfalls die Stille suchen.
Oft, wenn ich dem Wolfstrubel entrinnen will, wandere ich zu einem meiner Lieblingsplätze im Backcountry und warte. Es dauert nicht lange, dann kommen die Tiere. Nach so vielen Jahren der Wolfsbeobachtung »brauche« ich keine Wölfe mehr zu meiner persönlichen Glückseligkeit. Ich muss noch nicht einmal Kojoten, Bären oder Elche sehen. Ich habe die kleine Welt von Yellowstone entdeckt, die, an der die meisten Touristen achtlos vorbeigehen. Die pummeligen Biber, die flinken Antilopen, die stolzen Hirsche und die mächtigen Bisons, die Vögel, Insekten, Blumen. Es ist ein ganzes Universum da draußen, das wir viel zu oft nicht beachten, weil es nicht »groß« oder nicht »spektakulär« genug ist. Und hier finde ich sie auch noch – die Ruhe. Die allumfassende, umgreifende Stille, die mich einhüllt wie ein weicher, zarter Mantel und die mich eins werden lässt mit dieser Welt.
Wenn ich dann irgendwo auf einem Baumstumpf sitze und in den Zauber von Yellowstone eintauche, dann geschieht es manchmal: eine Bewegung, ein Schatten – ein Wolf, der mich beobachtet. Dann gibt es nur noch den Wolf und mich.
Das sind Momente, die mich süchtig machen und die mich immer wieder an diesen Ort zurückkehren lassen.
Im vorliegenden Buch erzähle ich die Geschichte der Wölfe von Yellowstone während der ersten zehn Jahre seit ihrer Rückkehr und die der Menschen, die sie berührt haben. Das Buch erhebt nicht den Anspruch einer wissenschaftlichen Abhandlung. Vielmehr schildere ich die Ereignisse der Wiederansiedlung und die ökologischen Folgen aus der Sicht vieler, die daran beteiligt waren, und auch aus meinem eigenen persönlichen Blickwinkel und meinen Beobachtungen. Wenn ich dabei gelegentlich sentimental oder emotional werde, dann möge mir der Leser das verzeihen. Niemand, der die Wölfe von Yellowstone kennt und ihren Spuren gefolgt ist, kann sich dieser Gefühle erwehren. Sie berühren tief in uns etwas, das in unserem hektischen Alltag so oft verschüttet ist. Und sie machen uns ein Geschenk. Dadurch, dass wir sie beobachten und an ihrem Leben, Jagen und Sterben teilhaben dürfen, schenken sie uns ein Stück Wildnis und geben uns damit etwas von uns selbst zurück.
Darum widme ich dieses Buch den Wölfen von Yellowstone und den Menschen, die für ihre Rückkehr gearbeitet haben.
Elli H. Radinger