Ein Jahr als Wolf in Yellowstone
Mai 2001
In gleichförmigen Tropfen prasselt der Regen an mein Fenster. Ich sitze zuhause an meinem Computer und hänge meinen Träumen nach. Gerade habe ich eine E-Mail von Freunden aus Yellowstone bekommen. Die Welpen der Druids sind zum ersten Mal gesehen worden!
Es ist keine zwei Monate her, dass ich aus dem Park zurückgekommen bin, und schon werde ich wieder unruhig. Jetzt, wo ich vom Nachwuchs weiß, packt mich die Sehnsucht. Kurz entschlossen rufe ich meine Eltern an und frage, ob ich meinen Hund zu ihnen bringen kann. Dann packe ich all meine Vielflieger-Meilen zusammen und buche bei Delta Airlines einen Freiflug nach Bozeman. Die Maschinen in die USA sind ziemlich voll und ich werde voraussichtlich nur noch einen Mittelplatz bekommen, aber das ist mir egal. Schnell wird der kleine Koffer gepackt (in den 30 Jahren, in denen ich schon unterwegs bin, wird mein Gepäck zum Glück immer weniger) und ein Haufen Filme in die Kameratasche geworfen. Vorsichtig lege ich noch mein Zeiss-Spektiv ins Handgepäck. Eher würde ich auf meine Kleidung als auf dieses heiß geliebte Gerät verzichten. Es ist ein unersetzliches Werkzeug bei meinen Wolfsbeobachtungen geworden. Mit seiner 20- bis 60-fachen Vergrößerung kann ich einen Wolf auch noch auf fünf Kilometer Entfernung beobachten. Dagegen bin ich bei der Kameraausrüstung bescheidener. Hier reicht mir meine Canon EOS 300 mit einem 300er Objektiv. Um die Wölfe gut zu fotografieren, müsste ich mir ein Teleobjektiv mit einer Brennweite von mindestens 500 oder 600 kaufen, was ich mir nicht leisten kann. Also überlasse ich die Nahaufnahmen den zahlreichen Wildtierfotografen im Park, die mit ihren geschützähnlichen Objektiven das Weiße im Auge eines Bären einfangen können. Ich beschränke mich darauf, mit meinem Spektiv den Wölfen quasi »auf Distanz« ungestört nahe zu sein.
Das und das dazu gehörige stabile Stativ erregen am Flughafen das Misstrauen der Sicherheitsbeamten. Aber ich bin es gewohnt und lasse geduldig die Kontrollen über mich ergehen.
Nach einem langen Flug mit zwei Zwischenstopps in Atlanta und Salt Lake City lande ich endlich kurz vor Mitternacht in Bozeman. Ich hole mein Auto ab und fahre ins Hotel, um mich am nächsten Morgen, nach einer kurzen Jetlag-Nacht und einem kräftigen amerikanischen Frühstück, so schnell wie möglich auf den Weg nach Yellowstone zu machen.
Diesmal kann ich - im Gegensatz zum Winter - die kürzere Route über West Yellowstone nehmen. Die Straße von West Yellowstone nach Mammoth Hot Springs ist erst vor einer Woche für den Autoverkehr geöffnet worden. Der Schnee türmt sich am Straßenrand hoch auf. Im Winter dürfen hier nur Schneemobile fahren.
Jetzt haben sich der Lärm und der Gestank der lauten Motorräder auf Kufen verzogen, und es herrscht eine beruhigende Stille.
Der geschmolzene Schnee bringt überall frisches Wachstum hervor. Deutlich sind die Auswirkungen der Brände von Yellowstone zu sehen. Beim großen Feuer von 1988 verbrannte ein Drittel der Bäume des Parks. Ich war in dieser Zeit mit einer Reisegruppe in Yellowstone. Mein Organisationstalent war gefragt, da viele Straßen und Hotels gesperrt waren. So schrecklich so ein Feuer aussieht, so wichtig ist es für die Ökologie. Nur durch starke Hitze öffnen sich die Zapfen der Drehkiefern und lassen ihren Samen frei, der dann im Frühjahr - genährt von Asche und Schnee - neues Leben hervorbringt. Andere Bäume, wie die Douglastannen, haben eine feuerresistente Rinde, die sie vor kleineren Bränden schützt.
Jeden Sommer gibt es zahlreiche natürliche Feuer in Yellowstone; etwa 22 von ihnen werden jährlich durch Blitze entzündet. Der National Park Service hat mehrmals seine Politik zur Bekämpfung von Waldbränden geändert: von »alles löschen« zu »brennen lassen«. Zurzeit wird »modifiziert« bekämpft, das heißt, dass Feuer, die bis zum 15. Juli entstehen, brennen dürfen, während größere Brände, die im heißen, trockenen Sommer entstehen, bekämpft werden.
Ich fahre durch die verbrannte Landschaft von West Yellowstone und sehe die positiven Auswirkungen des Feuers. Überall treiben zwischen verkohlten Stämmen frische, kleine Tannenbäumchen aus. Wie Phoenix steigen sie aus der Asche, bereit für neues Leben. Dies wiederum lockt die Hirsche und Rehe an, die sich von dem schmackhaften Grün ernähren.
In den flachen Tälern wächst auch das Sumpfgras neu - ein wahres Schlaraffenland für die Elche. Von denen sehe ich mehr als genug. Schon kurz hinter dem Parkeingang stehen drei der langbeinigen Gesellen direkt neben der Straße, etwa drei Meter von mir entfernt, und fressen sich satt. Nachdem sie im Herbst ihre Schaufeln abgeworfen haben, sehen sie jetzt reichlich komisch aus mit den kurzen Stoppeln, die ihnen aus der Stirn wachsen.
Ich fahre weiter, vorbei am Old Faithful, der pünktlich wie ein Uhrwerk seine Fontäne in die Luft schießt, nach Mammoth Hot Springs.
Noch sind relativ wenige Touristen unterwegs, und so kann ich ganz allein einen hungrigen Grizzly in der Nähe vom Roaring Mountain beobachten, der eifrig die Erde umgräbt und Steine wegrollt, um an die saftigen Wurzeln zu kommen.
Heute scheint ein »Elchtag« zu sein, ein mächtiger Elchbulle überquert vor mir die Straße. Schwarzer Elch von links nach rechts - das kann doch nur Glück bedeuten. Wenig später sehe ich noch eines der pferdegroßen Tiere im Gras stehen. Fünf Elche innerhalb von einer Stunde, so kann es weitergehen.
In Mammoth Hot Springs halte ich mich diesmal nicht auf, biege auf die Straße nach Tower Junction ab und fahre weiter zum Ziel meiner Sehnsucht, dem Lamar Valley.
Ich kann es kaum erwarten, die ersten Wolfswelpen zu sehen – und werde auch nicht enttäuscht. Einige Familienmitglieder der Druids haben einen Kurzausflug unternommen und halten im Tal ihre Siesta. Bei ihnen befinden sich fünf Welpen, die ihre äußerst geduldigen Eltern und Geschwister mit zahlreichen Streichen so lange nerven, bis diese sie mit einem wohl platzierten Schnauzengriff in ihre Schranken weisen. Dann verschwindet die Familie mit dem Nachwuchs wieder in dem kleinen Wäldchen, in dem sich die Höhle befindet.
Bei den Druids hat in diesem Jahr neben der Leitwölfin noch eine weitere Wölfin Junge bekommen. Insgesamt gibt es acht Welpen. Schon im letzten Jahr hatten die Druids 20 (!) Welpen. Mit dem diesjährigen Nachwuchs ist das Rudel nun auf 35 Wölfe angewachsen, eine gigantische Zahl.
Rick McIntyre teilt mir in den nächsten Tagen eine Aufgabe zu: Ich soll Wölfin Nummer 105 und ihre drei Welpen an der Höhle beobachten und Aufzeichnungen machen. Diese Ehre habe ich vermutlich auch meinem Spektiv zu verdanken, da sich die Höhle von Nummer 105 etwa fünf Kilometer entfernt in einem Berghang befindet, der zwar einsehbar, aber für »normale« Ferngläser zu weit entfernt ist. Nach anfänglichen Schwierigkeiten, die Höhle zu finden – inmitten von Felsen und Salbeibüschen ist sie gut getarnt – entdecke ich die aufgeworfene Erde vor dem Eingang. In den nächsten Tagen beobachte ich nun das Familienleben von Nummer 105 und ihrer Kinder, notiere die Zeiten, in denen die Wölfin unterwegs ist, wann sie zurückkommt oder wann die Welpen aus der Höhle kommen. Gleichzeitig beantworte ich zahlreiche Fragen von Touristen und lasse sie durch mein Spektiv einen Blick auf die Wölfe werfen. Fast immer erlebe ich als Reaktion ein »Wow« und ein verzücktes Lächeln, manchmal auch ein paar Tränen in den Augen der Beobachter.
Als ich nach zehn Tagen schweren Herzens »meine Familie« verlasse, ist sie mir ans Herz gewachsen, und ich frage mich, wie es ihnen wohl weiter ergehen wird.
Aufzuwachsen als Wolf ist ein harter Job! Als Teil einer sozialen Einheit, dem Rudel oder dem Familienverband, wie wir es jetzt nennen, gilt es viele Dinge zu lernen und viele Gefahren zu meiden. Das Leben von Beutegreifern ist schwierig und oft nur kurz. Ein Wolf muss schnell lernen und schon früh selbstständig werden.
Ein typisches Jahr im Leben eines Wolfes beginnt im tiefen Winter.
Der Winter in Yellowstone ist ein aufregender Kontrast von unglaublicher Schönheit und reiner, ursprünglicher Kraft und Macht. Weiße Berggipfel blenden vor indigoblauem Himmel. Aus heißen Quellen steigt dichter Wasserdampf auf und verwandelt die nahegelegenen Bäume in eine Märchenwelt aus Eiskristallen.
Aber es gibt auch die Macht und den Zorn der gewaltigen Blizzards. Millionen von Schneekristallen werden mit kräftigen Winden über verschwommene Formen gewirbelt. Die Temperaturen fallen in kürzester Zeit um 20 Grad auf eiskalte minus 40 Grad Celsius. Dann kommt der Morgen mit einer Decke frisch gefallenen Schnees, jungfräulich, ohne Spuren von Mensch und Tier ... bis einer der weißen Schneehügel sich bewegt und ein Wolf aufsteht und sich die glitzernde Pracht aus dem Fell schüttelt.
Der Winter ist eine gute Jahreszeit für die Wölfe. Die großen Wapiti-Hirsche sind geschwächt durch die anstrengende Brunftzeit im Herbst und den vielen Schnee. Sie bieten reichlich Nahrung für die Beutegreifer.
Touristen gibt es jetzt kaum. Nur wenige abgehärtete Gestalten stehen dick vermummt in geräumten Parkbuchten entlang der einzigen geöffneten Straße und beobachten das Tiertreiben. Andere ziehen auf Langlaufski oder Schneeschuhen ihre Bahn. In dieser Jahreszeit gehört Yellowstone fast ausschließlich den Tieren.
Im Februar, wenn die Sonne länger und wärmer scheint, erwacht der Park aus seiner Winterstarre. Ein Hauch von Anspannung und Aufregung liegt in der Luft. Die Paarungszeit beginnt. Die Kojoten sind die Ersten, die man an jeder Ecke beim Liebesspiel überraschen kann. Dann wechselt Amor zu den größeren Kaniden. Der Leitwolf verbringt jetzt mehr Zeit mit seinem Weibchen, das für seine Annäherungen empfänglich wird. Das Leitpaar verstärkt seine territorialen Aktivitäten und verdoppelt seine Urin- und Geruchsmarkierungen. Zum Markieren hebt ein Leitwolf ein Hinterbein und uriniert auf möglichst hohe und bedeutende Objekte. Beide, Rüde und Weibchen, urinieren mit erhobenem Bein. Durch den hoch angesetzten Urin kann der Geruch über größere Entfernungen zirkulieren und den Status des Paares bekannt geben. Im Allgemeinen kauern sich die niederrangigen Wölfe zum Urinieren hin; sie heben kein Bein.
Ungefähr Mitte Februar ist es soweit: Die Fähe wird heiß. Etwa zehn Tage lang zeigen die Urinmarkierungen der Wölfin Zeichen von Blut und riechen nach Pheromonen. Gegen Ende des zehnten Tages der Läufigkeit ist der Eisprung und sie verpaart sich mit ihrem Gefährten. Ein typischer Kanidenknoten dauert etwa 15 Minuten.
In Yellowstone konnte in den letzten Jahren beobachtet werden, dass sich in einer Wolfsfamilie nicht nur die Leitwölfe paarten, sondern dass sehr häufig auch noch ein oder zwei andere Weibchen trächtig wurden – und das nicht nur vom Leitwolf. So hatte zum Beispiel das berühmte Druid-Peak-Rudel mehrere Jahre hintereinander mindestens zwei oder drei Würfe. Dies führte im Jahr 2000 dazu, dass auf einen Schlag 20 neue Welpen zu versorgen waren, die das Rudel auf 27 Wölfe vergrößerten; zwei Jahre später war es mit 37 Wölfen eines der größten Wolfsrudel Nordamerikas. Im Winter 2003 wurde eine Tochter der Leitwölfin an einem Tag gleich von drei Rüden gedeckt: von zwei ihrer Rudelgefährten und von einem zufällig daher kommenden stattlichen schwarzen Rüden. Diese Beobachtungen werfen sämtliche bisherigen Theorien über das Paarungsverhalten von Wölfen über Bord und verblüffen die Biologen immer wieder.
Die Trächtigkeit bei Wölfinnen dauert etwa sechzig Tage. Von Mitte bis Ende April beginnt das Weibchen, einen geeigneten Ort für eine Geburtshöhle zu suchen. Eine passende Höhle muss ungestört sein, einen guten Überblick über das Gebiet haben und in der Nähe von Wasser gelegen sein. Hat die Fähe einen solchen Ort gefunden, gräbt sie eine Höhle. In Yellowstone verwenden viele Wölfinnen immer wieder dieselben, traditionellen Höhlen. Manchmal aber gräbt eine Wölfin auch mehrere Höhlen. 1995 grub Nummer Fünf fünf Höhlen, brachte aber keine Jungen zur Welt. Solche Höhlen haben drei Gründe: 1) Sie sind Quartiere für einen Notfall, 2) die Wölfin hat nach der Geburt saubere Ersatzhöhlen und kann 3) die Welpen mit mehr als ihrer Heimathöhle vertraut machen.
Während die angehende Mutter ihr Heim einrichtet, wird das Revier insbesondere um den Höhlenkomplex herum von den restlichen Rudelmitgliedern verschärft kontrolliert. Die Wölfe schnuppern viel, frischen ihre eigenen Markierungen immer wieder auf und überprüfen die von anderen, besonders die von anderen Kaniden. Wenn sie auf einen gelben Punkt im Schnee treffen, der ihnen sagt, dass ein Kojote, ein Fuchs oder ein anderer Wolf hier war, dann urinieren sie intensiv darüber, um die andere Spur auszulöschen.
Ende April beginnt auch in Yellowstone endlich der Frühling. Bis auf die höher gelegenen Gebiete schmilzt der Schnee und die ersten grünen Halme schieben sich vorsichtig nach oben. Dies ist die Jahreszeit, in der sich das Wetter nicht zwischen Sommer und Winter entscheiden kann. Es gibt warme, sonnige Tage, aber manchmal legt auch überraschend ein Sturm eine schwere Schicht nassen Schnees über den Park. An anderen Tagen wiederum fühlt es sich wie Sommer an mit Temperaturen um 20 Grad Celsius.
Die Murmeltiere erwachen aus dem Winterschlaf und die ersten Bären lassen sich blicken. Abgemagerte und schlecht gelaunte Grizzlymütter kommen aus den Höhlen, im Schlepptau ihre während der langen Winterruhe geborenen Babys. Sie sind hungrig und graben nach Wurzeln oder nutzen die Reste von Kadavern, die die Wölfe hinterlassen haben.
Frühling ist Babyzeit in Yellowstone. Orangefarbene Bisonkälber staksen auf dünnen Beinchen ihrer Mutter hinterher. Ende April werden die Wolfswelpen geboren, im Durchschnitt etwa sechs pro Wurf. Die Kleinen wachsen und entwickeln sich schnell. Bei ihrer Geburt wiegen sie weniger als 400 Gramm und ihre (zunächst blauen) Augen und Ohren sind geschlossen. Mit etwa zwei Wochen öffnen sich ihre Augen, mit drei Wochen die Ohren. Dann verlassen die Welpen zum ersten Mal die Höhle; zu diesem Zeitpunkt wiegen sie etwa drei Kilogramm. Im Alter von vier Wochen wird der Nachwuchs von der Mutter meist in eine zweite Höhle gebracht – zu ihrer eigenen Sicherheit und um Parasiten zu vermeiden – wo sie weitere vier Wochen bleiben.
Schon einen Monat nach ihrer Geburt fangen die kleinen Wölfchen an, durch heftige, spielerische Kämpfe die für sie im Sozialleben so wichtige Beißhemmung zu lernen. Sie brummen, beißen, knurren, schneiden Grimassen und drohen. Sie imitieren Schlachten und Gefechte, ernennen Führer und Nachfolger und tauschen immer wieder die Rollen von Überlegenen und Unterlegenen. Wolfswelpen haben noch keine etablierte Rangordnung. Das Spiel hilft ihnen, Muskeln und Koordination zu entwickeln, was später wichtig ist, um Beute zu fangen und zu töten. Rennen, Klettern und Springen helfen ihnen, Nahrung zu fangen, angreifenden Hirschen auszuweichen und größere Beutegreifer wie den Grizzly zu meiden.
Der Schutz der Welpen und ihrer Mutter ist die Hauptfunktion einer Wolfsfamilie. Immer wieder legen sie ihre Reviergrenzen fest und erlauben niemandem, sie zu übertreten; dies sichert eine maximale Überlebensrate für den Nachwuchs.
Der Prozess des Erwachsenwerdens ist gefährlich. Statistisch gesehen beträgt die durchschnittliche Lebensspanne eines wilden Wolfes nur sechs Monate. Das liegt an der hohen Sterblichkeit der Welpen während des ersten Jahres. Bären, Berglöwen und Greifvögel töten die Kleinen. Klippen, Krankheiten, Hunger, Überflutungen, Flussüberquerungen – sie alle fordern ihren Preis. In der Wildnis leben nur etwa zwanzig Prozent der Beutegreifer länger als zwei Jahre. Bei den erwachsenen Wölfen im Alter von zwei Jahren und älter beträgt die Lebenserwartung fünf Jahre und einige wenige werden älter als zehn.
Mit fünf Wochen, also Mitte Juni, wiegen die Welpen etwa fünf Kilogramm und ihre Mutter hört auf, sie zu säugen. Über kurze Entfernungen laufen sie hinter ihren Eltern her und gewinnen so Kraft in ihren kleinen Beinchen. Mit zehn bis zwölf Wochen, wenn sie etwas länger laufen können, werden sie zu einem Treffpunkt, dem sogenannten »Rendezvousplatz«, gebracht, der etwa ein bis zwei Kilometer von der Höhle entfernt liegt. Jetzt sind die kleinen Rüden schon schwerer als die Weibchen. Der Größenunterschied ist deutlich zu sehen. Fähen können jetzt bis zu sechs und Rüden bis zu neun Kilo schwer sein.
Manchmal verlegt die Mutter die Welpen noch einmal an einen anderen Rendezvousplatz. Ob damit die Kleinen als »bewegliches Ziel« sicherer sind, oder ob ihnen so nur eine vielfältigere geografische Orientierung ermöglicht werden soll, ist nicht bekannt. Mehrmals am Tag versammelt sich die Familie an diesem Ort und ruft durch ein allgemeines Heulen die fehlenden Mitglieder nach Hause zurück.
Im Yellowstone-Park sind nun wieder alle Straßen von Eis und Schnee befreit und für den Autoverkehr freigegeben. Noch hält sich der Besucherstrom in Grenzen, wenngleich jetzt deutlich mehr Touristen zu sehen sind als im Winter. Die Tierbabys und die Bären locken besonders am Wochenende viele Besucher in den Park. Auch die Hotels im Park öffnen ihre Pforten, und auf dem Yellowstone Lake, dem größten Hochgebirgssee Nordamerikas, taut das Eis. Auf den im Mai fast überall eisfreien Seen und Flüssen kann man den Trompeterschwan mit seinen Jungen entdecken. Dieser große Vogel ist mit seinem typischen schwarzen Schnabel leicht zu erkennen. Er gehört zu den seltensten Vögeln der Erde und steht unter strengem Naturschutz.
Im Juli ergießen sich wahre Ströme bunter Frühlingsblumen in die Täler, wie geheimnisvolle Farbgeysire, die ihre Pracht unkontrolliert über die Wiesen laufen lassen. Kolibris fliegen verwirrt umher, als ob sie sich nicht entscheiden können, wo sie zuerst trinken sollen. Und auch die anderen zahlreichen Vogelarten treffen aus ihren südlichen Winterquartieren ein.
Das Leben der Wolfsfamilie konzentriert sich jetzt auf die Erziehung ihres Nachwuchses. Die Welpen müssen lernen, sozial verantwortliche Rudelmitglieder zu sein, und enge Bande mit den anderen zu knüpfen. Sie heulen und spielen miteinander, und wenn Familienmitglieder von der Jagd zurückkommen, werden sie begeistert begrüßt. Die Nahrung der Welpen wechselt von Milch zu Fleisch. Die Erwachsenen fressen von einem getöteten Tier und kehren zum Rendezvousplatz zurück, wo ihnen die Welpen die Mundwinkel lecken und sie damit zum Hervorwürgen des vorverdauten Futters animieren. Daraus entwickelt sich automatisch aktive Unterwerfung, was wiederum mit dazu beiträgt, das familiäre Band zu festigen.
Im August ist Hochsaison in Yellowstone. Vier Millionen Besucher kommen jährlich in den Park, die meisten davon in diesem Monat. Überall stehen Touristenbusse und Wohnmobile im Stau. An der Länge des Staus lässt sich erkennen, welche Tierart zu sehen ist. Drei bis fünf Autos: Bisons. Vier bis acht Autos: Kojoten (wobei viele Touristen Kojoten für Wölfe halten). 20 und mehr Autos, Busse etc. in doppelter Breite auf der Fahrbahn: Wölfe oder Bären. Diese Staus kann jeder vermeiden, der nur ein paar Meter abseits der Straße wandert oder in der Dämmerung bei Sonnenauf- und Sonnenuntergang unterwegs ist. Dann sind die Touristen in den Hotels beim Frühstück oder Abendessen und der Park gehört wieder den »Wolf-Groupies«.
Das Wetter ist jetzt meist warm. Anfangs kommt es an den späten Nachmittagen noch zu heftigen Gewitterstürmen, die aber dann im Laufe des Sommers nachlassen. Überall blühen Wildblumen, und in trockenen Jahren fallen gelegentlich Schwärme von Heuschrecken ein.
Jetzt machen sich die Hirsche auf Wanderschaft. Auf uralten Wanderrouten ziehen sie aus den warmen Tälern in höhere, kühlere Gebiete, gefolgt von den Wölfen.
Die kleinen Wölfe gehen ab Mitte August durch eine juvenile Phase, wo sie funktionelles Jagen lernen. In dieser Phase, die bis zu zwei Jahre dauern kann, beginnen die jugendlichen Wölfe, sich zu Beutegreifern zu entwickeln und zu lernen, wie sie erfolgreiche Jäger werden. Die, die es nicht lernen, leben nicht lange. Nachdem die Juvenilen erst einmal hervorgewürgtes Fleisch kennengelernt haben, fressen sie nun feste Nahrung. Als Nächstes müssen sie lernen, Fressen mit Töten zu assoziieren. Biologen haben beobachtet, wie erwachsene Wölfe verwundete Beute zu ihren Welpen brachten, damit sie mit der Beute spielen und lernen, sie zu töten. Das Spiel imitiert das Tötungsverhalten.
Die Welpen beginnen, Mäuse zu jagen; sie üben Anschleichen und Töten. Schließlich kommt der Tag, wo die Jungwölfe die Erwachsenen zum ersten Mal bei der Jagd begleiten. Vielleicht ist es nur ein Kaninchen nicht weit von Zuhause entfernt, aber die Kleinen müssen lernen, wann, wo und wie sie jagen. Sie müssen wissen, wann es wichtig ist, leise zu sein, wie man sich anschleicht, wann man eine Herde auf schwache Tiere testet, wann man jagt und wie man tötet. Dies lernen sie vorwiegend, indem sie die Erwachsenen beobachten und kopieren.
Rick McIntyre beschreibt in James Halfpennys Buch »Yellowstone Wolves. In the Wild« ein solches »Lerntraining«, das er im Sommer 1995 beobachtet hat: Wolf Nummer 8M, der später Leitwolf des Rose-Creek-Rudels und ein ausgezeichneter Jäger werden sollte, war gerade ein Jahr alt, voller Neugier und begierig zu lernen. Rick sah, wie sich der kleine Wolf auf etwas konzentrierte und plötzlich begann, sich mit langsamen, steifen Bewegungen an dieses Etwas heranzuschleichen. McIntyre versuchte mit dem Fernglas herauszufinden, wen der Wolf im Blick hatte, sah aber weiter nichts außer einem etwa 700 Kilo schweren Bisonbullen. Mit großer Vorsicht schlich der Kleine näher, bis er nur noch etwa einen halben Meter vom Hinterteil des Bisons entfernt stehen blieb. Der Bison sah in die andere Richtung und war sich noch nicht seines »drohenden Schicksals« bewusst.
Verwirrt hielt der Jungwolf plötzlich mit dem Anschleichen inne, als ob er keine Ahnung hätte, was nun zu tun sei. Er hatte sich an die Beute herangeschlichen und wusste auf einmal nicht weiter. So stand er einfach nur da.
Vielleicht roch der Bison den Wolf oder der Kleine bewegte sich; aber der Bison schwang langsam seinen mächtigen Kopf nach hinten und schaute den Jährling an. Dann drehte er unbeeindruckt seinen Kopf zurück und fraß ruhig weiter.
Kurz darauf störte den Bison eine Fliege und er wedelte mit seinem Schwanz. Das war zu viel für den kleinen Wolf. Er machte vor Schreck einen Satz um die eigene Achse, klemmte den Schwanz ein und gab Fersengeld.
Instinktiv oder auch im Spiel erlernt wusste Nummer Acht, wie man sich heranschleicht. Aber er wusste nicht, was dann zu tun ist. Erst durch vielerlei Übungen, Spiel und vor allem durch das Beispiel der Eltern trainieren die kleinen Wölfe die Jagd.
Es dauert eine Weile, bis sie alles anwenden können, und manche Jagd misslingt. Junge Wölfe würden oft hungrig bleiben, wenn sie nicht erfahrene Eltern hätten.
Mit dem Herbst kommt die Brunftzeit. Die großen Wapitibullen haben jetzt Dauerstress, um ihre Hirschkühe zusammenzuhalten und gleichzeitig Konkurrenten abzuwehren. Sie sind gleichermaßen blind für Wölfe, Grizzlys oder Autos und am Ende der langen Paarungszeit oft so erschöpft, dass sie sich kaum noch auf den Beinen halten können. Das heisere Fiepen ihrer Brunftrufe klingt wie eine Mischung aus quietschender Tür und Eselsgeschrei und ist aus dem Maul eines so imposanten Tieres derart ungewöhnlich, dass besonders Touristen aus europäischen und asiatischen Ländern fasziniert und mit offenen Mündern lauschen. Die Brunftzeit ist auch die Zeit, in der die Hirsche am aggressivsten sind und gelegentlich auch einmal ein Auto als vermeintlichen Konkurrenten angreifen.
Die Bergwelt Wyomings und Montanas explodiert im Herbst in einem wahren Farbenrausch von goldenen Espen und blutrotem Ahorn. Der erste Schnee überzuckert die Bergspitzen, und die Touristen werden merklich weniger. Nachtfröste bedecken bereits die Rücken der Bisons mit einer Raureifschicht, und an klaren, frostigen Herbstmorgen kann man die Weißkopfadler in den Lüften zirkulieren sehen. In den höher gelegenen Gebieten beginnen die Elche mit dem Liebeswerben, und die Bären schlagen sich vor dem langen Winterschlaf noch einmal die Bäuche voll. Die Tiere des Parks bereiten sich auf den Winter vor.
Sommer und Herbst sind für die Wölfe die härteste Zeit des Jahres. Die Kleinen sind noch keine vollwertigen Jagdmitglieder und daher eher eine Belastung für das Rudel. Die Beutetiere sind kräftig und gesund. Jetzt hat die Wolfsfamilie alle Pfoten voll zu tun, um den Nachwuchs zu ernähren. Je größer das Wolfsrudel, um so schwieriger wird diese Aufgabe. Gleichzeitig wird es eng in den Familien, darum wandern jetzt viele geschlechtsreife Tiere aus dem Heimatterritorium ab.
Die Wolfswelpen haben inzwischen ihre dauernden Zähne bekommen und entwickeln das erste Winterfell. Für die Kälte von Yellowstone brauchen sie ein sehr dickes Fell. Wenn sie 30 Wochen alt sind, fangen die Kleinen an, mit dem Rudel auf kurze Jagdausflüge zu gehen. Die Wölfe wiegen dann etwa 14 bis 36 Kilogramm.
Mit etwa eineinhalb Jahren haben die Jungwölfe ihr optimales Wachstum erreicht. Die Wachstumsfugen an den Knochenenden schließen sich. Danach gewinnen die Tiere nur noch an Muskel- und Körpermasse. Am Ende ihres zweiten Jahres können die großen Rüden 45 Kilo und mehr wiegen, die kleineren Weibchen etwa 30 Kilo.
Zwischen zwei und zweieinhalb Jahren erreichen die Wölfe ihre sexuelle Reife. Die meisten von ihnen werden es dann vorziehen, die Familie zu verlassen, um eine eigene zu gründen. Andere bleiben zuhause und helfen, den nächsten Nachwuchs großzuziehen. Ihre Loyalität zum Leitpaar stellt sicher, dass die Gene der Eltern, die sie in sich tragen, an künftige Generationen weitergegeben werden.