Geschichte der Wölfe von Yellowstone
Februar 2003
Die Luft ist kalt an diesem Wintermorgen in Montana. Der fahle Schein der aufgehenden Sonne umhüllt die zarten Konturen der Berge von Cooke City, während das Thermometer langsam aus den unwirtlichen Tiefen von minus dreißig Grad Celsius nach oben klettert. Mein Allrad schnurrt warm und sicher im frischen Schnee. Noch ist kein Schneepflug unterwegs, und ich ziehe eine jungfräuliche Spur auf der Straße. Als ich durch das noch tief schlafende Silver Gate fahre, sehe ich im Rückspiegel die ersten Scheinwerfer. So früh kann nur einer der Biologen unterwegs sein. Ich lasse ihn überholen. Wir werden uns heute noch öfter sehen.
Ich habe es nicht eilig. In der Ferne sehe ich den Lichtschein der Ranger-Station am Parkeingang, die unter einer dicken Schneehaube liegt. Im Winter ist das Kassenhäuschen am Eingang nicht besetzt. Jeder, der es bis hierhin schafft, hat bereits seinen Eintritt in Gardiner bezahlt. Die Straße endet hinter Cooke City an meterdicken Schneewänden. In dieser kalten Jahreszeit ist der nördliche Teil des Parks für Autos gesperrt. Nur die lebensnotwendige Verbindungsstraße durch das Lamar Valley ist für den Verkehr geöffnet. Sonst gehört der Park den Tieren und den wenigen Touristen, die sich hierher verirren.
Während ich meinen heißen Kaffee aus dem Thermobecher schlürfe, fahre ich langsam die Straße aus der höher gelegenen Bergregion hinunter ins weite Lamar Valley, das wegen seiner Artenvielfalt auch die »Serengeti Amerikas« genannt wird. Selbst die Elche lassen sich an diesem Morgen noch nicht blicken. Die Bisons schieben unbeeindruckt von der Kälte den Schnee mit ihren mächtigen Schädeln zur Seite, um an die spärlichen Grashalme zu kommen. Sie haben einen zarten Schneemantel angelegt und ihr Atem bläst dicke weiße Wolken in den jungen Tag wie der Old Faithful kurz vor einer Eruption. Der beißende Geruch von faulen Eiern weist darauf hin, dass ich mich dem Soda Butte nähere, einem Kegel aus Kalkablagerungen. Hier treffe ich auch wie jeden Morgen meine Gruppe »Junggesellen«. Ich habe sie so getauft, weil es eine kleine Herde von Wapiti-Hirschbullen ist, die unzertrennlich zu sein scheinen und mit ihren stolz erhobenen Häuptern und ihren stattlichen Geweihen sicherlich das Herz einer jeden Hirschkuh erwärmen. Als ich näherkomme, werfen sie den Kopf zurück und laufen in langsamem Trab davon. Noch vor einigen Jahren wären sie unbeeindruckt stehen geblieben. Seit der Rückkehr der Wölfe sind sie sehr viel scheuer geworden.
Plötzlich sehe ich aus dem linken Augenwinkel einen Schatten. Während ich automatisch auf die Bremse trete und der Wagen im Schnee leicht ins Rutschen kommt, springt von einer Anhöhe neben mir ein dunkler Wolf auf die Straße, direkt vor mein Auto. Ein weiterer Sprung und er ist auf der anderen Seite. Dort bleibt er stehen und schaut mich an. Es ist ein junges Tier, vielleicht ein Jahr alt, und er hat kein Radiohalsband. Ich vergesse Zeit und Raum, während er mich neugierig mustert. Meine Kamera liegt schussbereit auf dem Beifahrersitz, aber ich wage nicht, mich zu rühren, um den Zauber nicht zu zerstören. Der Wolf setzt sich hin, kratzt sich hinter dem Ohr, gähnt, schüttelt sich und läuft gemächlich auf ein kleines Espen-Wäldchen zu, in dem er verschwindet. Noch immer sitze ich tief berührt und unbeweglich in meinem Auto. Erst langsam kann ich mich aus meiner Verzückung lösen.
Wenngleich ich in Yellowstone in den letzten Jahren fast täglich Wölfe gesehen habe, ist dieser Augenblick etwas Besonderes für mich. Weder Zuschauer, klickende Kameras noch eine Reihe Spektive. Nur der Wolf und ich, in der klirrenden Einsamkeit des Montana-Winters. Und während ich durch das geöffnete Fenster in den Bergen ein Wolfsrudel heulen höre, denke ich darüber nach, wie es früher hier war, als es noch keine Wölfe gab.
Wölfe lebten einst auf dem gesamten nordamerikanischen Kontinent von der arktischen Tundra bis ins südliche Mexiko. Lange bevor das Eis schmolz, vor 10.000 bis 15.000 Jahren, zogen sie durch das Gebiet der Rocky Mountains. Versteinerungen des Grauwolfes (Canis lupus) wurden in Idaho, Montana, Utah und Wyoming gefunden und stammen vom Ende der letzten Eiszeit. In der Natural-Trap-Höhle östlich von Yellowstone gibt es Fossilien, die auf die Präsenz von Wölfen seit über 4.000 Jahren hinweisen. In der Lamar-Höhle fand man 1.300 Jahre alte Wolfsknochen. Die Funde bestätigen auch, dass es seit der letzten Eiszeit hier Bisons und Hirsche gab.
Der Nördliche Rocky-Mountain-Wolf (Canis lupus irremotus), einer von 23 anerkannten Unterarten, durchstreifte das Land vom südlichen Idaho und Wyoming bis zum südöstlichen British Columbia und südlichen Alberta in Kanada.
Auch das Gebiet des heutigen Yellowstone-Nationalparks war die Heimat der Grauröcke. Die frühen Trapper und Forscher sahen und hörten schon 1836 Wölfe im Lamar Valley.
Als 1872 der amerikanische Kongress Yellowstone zum ersten Nationalpark Amerikas ernannte, wollte er ursprünglich nur die Landschaft schützen, an die Tiere dachte damals noch niemand. Man ging davon aus, dass die natürlichen Ressourcen den Menschen dienen sollten und entsprechend ausgebeutet werden durften. Besonders Beutegreifer wie Wölfe und Bären galten als gefährlich, sie galt es, zu vernichten.
Mitte des 19. Jahrhunderts zogen die großen Einwandererströme in den Westen der USA. Die neuen Siedler – die meisten von ihnen aus Europa – kamen zum ersten Mal in ihrem Leben in Kontakt mit riesigen Herden von Wildtieren, die sie auch prompt dezimierten. Insbesondere um Bisonfelle und -zungen entwickelte sich eine ganze Industrie, die manchen geschickten Jäger sehr reich machte. So wurden schließlich zwischen 1850 und 1870 über 75 Millionen Bisons getötet, die meisten wegen ihres Fells. Der dramatische Anstieg von felllosen Bisonkadavern führte zu einer Explosion der Beutegreiferpopulation. Die Siedler ersetzten die ausgerotteten Wildtierherden durch Nutztiere, vor allem Rinder und Schafe. Die Wölfe waren mangels natürlicher Beute gezwungen, sich Alternativen zu suchen, um zu überleben. Damit begann der Krieg der Rancher gegen die Beutegreifer.
In den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts wurden Wölfe in einem Umfang vergiftet, wie man es sich heute nur schwer vorstellen kann. Es entstand der Beruf des »Wolfers«, ein Jäger, der auf das Töten von Wölfen spezialisiert war. Er konnte von der Prämie, die für jeden getöteten Wolf ausgelobt wurde, gleich zweimal profitieren: durch den Verkauf des Fells und die Einnahmen von drei Dollar für jeden toten Wolf. Wenn er in der Wintersaison hart arbeitete, verdiente er bis zu 2.000 Dollar – für damalige Verhältnisse eine riesige Summe.
Zu Beginn des Winters stellten die Wolfer Fallen auf oder sie trieben die Tiere mithilfe von Hunden in die Enge und erschossen sie. Am besten tötete jedoch Strychnin, das jeder Wolfer mit sich führte. Ein Kadaver, der mit einer kleinen Priese des hochwirksamen Giftes versetzt war, konnte innerhalb kürzester Zeit mehrere Dutzend Wölfe töten.
Später wurde eine zusätzliche Prämie von fünf Dollar für jeden getöteten Wolfswelpen ausgelobt. Die Wolfer fügten daraufhin ihrer Ausrüstung eine Ladung Dynamit hinzu und jagten einfach die Wolfshöhlen mit Müttern und Welpen in die Luft.
Allein in Montana wurden so zwischen 1870 und 1877 bei der ersten Vernichtungswelle 55.000 Beutegreifer getötet. Wölfe zu töten war eine »Bürgerpflicht, mit Stolz getan«, wie man in einer örtlichen Zeitung lesen konnte. 1880 schrieb Nationalparkdirektor Norris in seinem jährlichen Bericht, dass »der Wert ihrer [Wölfe und Kojoten] Felle und ihr leichtes Abschlachten mit Hilfe von vergifteten Kadavern fast zu ihrer Ausrottung geführt habe«.
Anfang des 20. Jahrhunderts gab es fast keine Wölfe mehr in Amerika. Der Rest wurde zwischen 1914 und 1926 erledigt.
1915 gründete der Kongress die »US Biological Survey«, eine Überwachungsbehörde, die alle Beutegreifer auf öffentlichem Land ausrotten sollte. In dieser Zeit stand Yellowstone noch unter dem Kommando des Militärs. Dieses lehnte die Tötung der Beutegreifer ab – mit Ausnahme von Notfällen. Die Schonfrist für Isegrim endete, als der Park 1916 unter zivile Kontrolle gestellt wurde. Der neu geschaffene Park Service hatte auch die Lizenz zum Töten. Um möglichst viel jagdbares Wild für betuchte Touristen zu erhalten, mussten die Wölfe vernichtet werden. Unter dem Mantel der Verschwiegenheit stellten die Behörden professionelle Löwenjäger ein, und Ranger verdienten einen Teil ihres Lohnes durch Abschüsse von Wölfen.
Während das Militär in den 32 Jahren, die es im Park herrschte, nur insgesamt 14 Beutegreifer tötete, vernichtete der Park Service allein in den ersten acht Jahren nach seiner Einführung 136 Wölfe (darunter 80 Welpen), 1.300 Kojoten und unzählige Pumas. Mitte 1930 war das letzte Wolfsrudel aus Yellowstone verschwunden.
Während der nächsten Jahrzehnte gab es immer wieder Berichte von wolfsähnlichen Kaniden, die gesehen wurden. Diese Sichtungen verdichteten sich in den Jahren 1968 bis 1971. Ein Saison-Ranger, Marshall Gates, war der Erste, der im Dezember 1967 einen Wolf im Lamar Valley fotografierte. Dies war nach 30 Jahren der erste Beweis der Anwesenheit der großen Kaniden. Bei der Frage, wo die einzelnen Tiere herkamen, schieden sich die Geister. Einige glaubten, sie seien auf dem Weg von Kanada nach Süden, andere dachten an Abwanderer aus Minnesota. Manche behaupteten, es handele sich um gefangene Wölfe, die freigelassen worden waren, wieder andere waren der Auffassung, dass es Wolf-Hund-Mischlinge seien. Die Geschichten gingen so weit, dass man sich von Wagenladungen mit Käfigen erzählte, aus denen nachts im Park die pelzige Fracht freigelassen wurde.
Die Gerüchte erreichten schließlich auch die weltweite Gemeinde der Wolfsbiologen. In seinem Bericht über »den Status des Wolfes in den Vereinigten Staaten« schrieb der bekannte Wolfsexperte Dr. David L. Mech 1973: »Es gibt Gerüchte, dass die Yellowstone-Wölfe aus Kanada importiert und freigelassen worden sind.« Viele Biologen, einschließlich Mech, untersuchten diese Spekulationen, kamen jedoch zu keinem Ergebnis. Dennoch hält sich dieser Verdacht bis zum heutigen Tag.
In den folgenden Jahrzehnten wurde die Bedeutung des Wolfes als Teil eines natürlich funktionierenden Ökosystems besser verstanden. Und so wurde der Grauwolf (Canis lupus) 1973 schließlich fast überall in den USA (mit Ausnahme von Alaska) auf die Liste der vom Aussterben bedrohten Tierarten gesetzt.
Inzwischen war der Yellowstone-Nationalpark ohne seinen wichtigsten Regulator zu einem riesigen Zoo geworden. Ein allgemeines Umdenken und die wachsende Erkenntnis, dass Wölfe ein bedeutender Teil des Ökosystems sind, führten schließlich zu Studien über eine mögliche Wiederansiedlung.
Die Politik des National Park Service verlangt, dass eine einheimische Tierart, die durch Menschen vernichtet worden ist, wieder angesiedelt werden muss, vorausgesetzt, es gibt entsprechenden Lebensraum und die Tierart kann so gemanagt werden, dass sie keine Gefahr für Menschen oder Vermögen außerhalb des Parks ist. Es war offensichtlich, dass Yellowstone wegen seiner Größe und der Vielfalt der Beutetiere bei einer Wiederansiedlung der Wölfe die beste Wahl war und eine Erfolgschance hatte.
Der »Northern Rocky Mountain Wolf Recovery Plan« wurde 1987 verabschiedet. Er empfahl, Wölfe in Yellowstone wieder anzusiedeln. Der US-Senat stellte Mittel zur Verfügung, um die Auswirkungen einer solchen Rückführung zu erkunden. 1990 wurden die ersten beiden Berichte »Wölfe für Yellowstone?« dem Kongress vorgelegt, der 1991 die Vorbereitung eines Environmental Impact Statement (EIS) anordnete (eine Untersuchung darüber, welchen Einfluss neu angesiedelte Beutegreifer auf die Umwelt haben).
Der EIS-Entwurf wurde am 1. Juli 1993 der Öffentlichkeit vorgestellt. Er führte zu einer unerwarteten Anzahl Briefe, Faxe und E-Mails der Bevölkerung – insgesamt 160.000. Nach Berücksichtigung aller Stellungnahmen der Betroffenen und nach Ausarbeitung spezieller Regeln für die Ansiedelung einer »nicht notwendigen experimentellen« Wolfspopulation unterschrieb am 15. November 1994 Innenminister Bruce Babbitt die Genehmigung für das Wiederansiedlungsverfahren. Damit war der Weg frei für die Rückkehr der Wölfe nach Yellowstone.