9. KAPITEL

„Miss Azarov, Sie schweben in Lebensgefahr, solange Tyler Smith nicht festgenommen worden ist.“ Officer Steele baute sich vor ihr in der Küche der Fontaines auf. „Ich kann Ihnen anbieten, Sie unter Polizeischutz zu stellen.“

Mila schüttelte den Kopf. „Nein, danke. Wenn Ty mich hätte töten wollen, hätte er es im Keller getan.“

„Miss Azarov, ich glaube, Sie unterschätzen den Ernst der Lage“, erwiderte Officer Steele verärgert. „Sie haben im Keller einfach nur Glück gehabt. Genauso wie nach Ihrem Date mit Mr Smith im ‚Maggiano‘.“ Der Cop räusperte sich nachdrücklich. „Ich verstehe immer noch nicht, wieso Sie uns diese Verabredung verschwiegen haben. Vielleicht hätte es Ihrer Freundin das Leben gerettet.“

Mila senkte den Kopf. Vermutlich hatte der Mann recht. Aber nun war es zu spät.

Nachdem Felix die Polizei alarmiert und über Tylers Aufenthalt im Keller informiert hatte, waren gleich mehrere Streifenwagen vor der Park Avenue 806 vorgefahren. Polizisten hatten das Gebäude gesichert und die umliegenden Straßen nach Ty abgesucht, jedoch ohne ihn aufzuspüren. Zeitgleich war es zu einer neuerlichen Befragung durch Officer Steele gekommen. Dabei hatte Mila eingeräumt, Ty schon früher verdächtigt zu haben, da zwei tote Mädchen hinter dem italienischen Restaurant gefunden worden waren und er sich nach ihrem Date im „Maggiano“ so seltsam benommen hatte. Als Officer Steele von ihrer Verabredung mit Ty erfahren hatte, hatte sich sein Umgang mit Mila von einfühlsam zu schroff geändert.

„Haben Sie noch etwas Entscheidendes vergessen, mir mitzuteilen?“, fragte Officer Steele.

Mila hob den Kopf. „Nein.“ Es gab nichts mehr zu sagen. Ihre Mutmaßungen, Sebastian oder Iva könnten mit den Au-pair-Morden in Zusammenhang stehen, hatten sich angesichts Tylers Waffenverstecks im Fontainschen Keller in Luft aufgelöst. Auch die Frage, woher er den Kellerschüssel hatte, war geklärt.

Felix hatte zu Protokoll gegeben, dass hinter dem Empfangstresen an einer Leiste Zweitschlüssel hingen. Da sich die Zentralanlagen der Gebäudeheizung sowie des Wasseranschlusses im Keller befanden, ermöglichten die Zweitschlüssel den Handwerkern ungehinderten Zugang, ohne die Mieter zu belästigen.

Officer Steele hakte nach, ob es einen zweiten Eingang ins Gebäude gab. Doch Felix räumte ein, unerlaubterweise seinen Platz am Empfang verlassen zu haben, um zur Toilette zu gehen. Als er von der Toilette gekommen war, sei ihm jedoch sofort aufgefallen, dass einer der Kellerschlüssel fehlte. Woraufhin er in den Keller gegangen war.

„Miss Azarov, irgendwie habe ich das Gefühl, Sie sind nicht aufrichtig zu mir“, forschte Officer Steele nach. „Ich meine, was haben Sie im Keller gemacht? Und vor allem, warum haben Sie sich im Schrank versteckt?“

„Ähm … äh …“, stammelte sie unbeholfen und warf Rafael einen schnellen Seitenblick zu.

Als Raf vom Joggen heimgekehrt war, hatte er das Polizeiaufgebot vor der Haustür gesehen. Er war sofort zu Mila gerannt und hatte seine Hilfe angeboten, nachdem er gehört hatte, dass sie verhört wurde. Sie war froh gewesen, dass er nicht nachtragend war. Doch jetzt kam ihr seine Anwesenheit äußerst ungelegen. Denn wenn sie die Wahrheit über ihren Kelleraufenthalt verriet, würde Rafael Seb erzählen, dass sie im Abstellraum spioniert hatte. Und selbst wenn Sebastian nicht kapierte, dass sie ihn verdächtigt hatte, würde er einige unangenehme Fragen an sie richten und sein Vertrauen in sie wäre zerstört.

„Nun machen Sie es sich und mir doch nicht so schwer!“ Officer Steele war offensichtlich am Ende seiner Geduld. „Raus mit der Sprache!“

„Lass Mila in Ruhe! Ich bin schuld!“ Trevor rannte zu Officer Steele und zog an seiner Jacke.

„Trevor, geh sofort in dein Zimmer!“, befahl Mila. „Was machst du überhaupt hier?“

„Ich habe gelauscht“, erklärte der Junge. „Und ich will nicht, dass der Polizist mit dir böse ist, weil ich in den Keller gegangen bin und Nellys Sachen hochgeholt habe.“ Und schon sprudelte alles aus dem Kleinen heraus. „Mila wollte mir nur helfen. Ich darf nämlich nicht allein in den Keller. Und da hat sie Nellys Sachen für mich runtergebracht.“

„Ist das wahr?“ Officer Steele musterte Mila skeptisch.

Sie nickte. Mist! Nun war es raus. Aber vielleicht stellte Rafael gar keinen Zusammenhang zwischen Nellys Zeug und Milas Nachforschungen im Keller her.

„Und das konnten Sie mir nicht sagen?“ Steele schüttelte ungläubig den Kopf.

„Nun ja, ich weiß nicht, ob ich in den Keller darf“, log sie. „Es kann ja sein, dass Mrs und Mr Fontaine dort private Dinge aufbewahren, die außer ihnen niemanden etwas angehen. Äh … deshalb habe ich mich auch im Schrank versteckt. Ich wollte keinen Ärger bekommen.“

„Sie sind ein komisches Mädchen, Miss Azarov“, stellte Officer Steele fest. „Nun denn.“ Er seufzte. „Ich muss mich jetzt um Tyler Smith kümmern. Gibt es jemanden, bei dem Sie vorübergehend unterkommen können?“

„Bei Rafael … Aber er wohnt hier auf dem Stock.“

„Dann können Sie auch gleich in dieser Wohnung bleiben. Aber ich rate Ihnen, verlassen Sie sie nicht! Und bringen Sie den Jungen bei jemand anderem unter. Wann kommen die älteren Fontainegeschwister aus den Hamptons zurück?“

„Voraussichtlich am kommenden Wochenende“, sagte Mila.

„Gut. Mein Angebot, einen Polizisten zur Bewachung abzustellen, gilt noch.“

Mila schüttelte den Kopf.

„Ich passe auf sie auf, Officer“, erklärte Raf.

„Wie Sie meinen.“ Officer Steele schien von Rafaels Fähigkeiten als Bodyguard wenig überzeugt zu sein. Er strich Trevor, der immer noch neben ihm stand, über den Kopf. Dann wandte er sich noch einmal an Mila. „Ich halte Sie auf dem Laufenden.“ Anschließend verließ er das Penthouse.

„Ich kann gar nicht glauben, was passiert ist“, meinte Raf, nachdem der Cop gegangen war, und schüttelte ungläubig den Kopf. „Pass auf, Mila, warum rufst du nicht Trevors Tante Doris an und sagst ihr, dass ich den Kleinen vorbeibringe? Auf dem Rückweg organisiere ich uns was Leckeres zu essen, das uns aufheitern wird. Okay?“

„Das ist total nett von dir.“ Mila lächelte Rafael dankbar an.

„Na, los! Worauf wartest du?“ Er grinste. „Ich geh kurz rüber und zieh meine Joggingklamotten aus. Und dann geht’s los.“ Rafael ging in sein Apartment.

Währenddessen rief Mila Trevors Tante an. Als Doris Fontaine den Grund für seinen kurzfristigen Ortswechsel erfuhr, geriet sie in helle Panik um ihren Neffen und drängte Mila zur Eile, das Kind vorbeizuschicken – bot dem Au-pair aber nicht die Sicherheit ihres Hauses an.

Der Kleine verfolgte Milas Gespräch mit trauriger Miene.

„Was ist denn los, mein Kleiner?“, fragte Mila nach Beendigung des Telefonats.

„Bist du böse auf mich? Weil ich unser Geheimnis verraten habe?“

„Du meinst die Sache mit dem Keller?“

Trevor nickte.

Mila hob ihn hoch und drückte ihn an sich. „Nein. Du wolltest mir helfen. Und somit hast du das Richtige getan.“

Als es klingelte, trug Mila den Jungen zur Tür. Sie sah sicherheitshalber durchs Guckloch und lächelte, da Raf, jetzt teuer gekleidet, Grimassen für sie schnitt. Mila lachte, öffnete die Tür und übergab ihm den Jungen.

„Bis gleich.“ Raf küsste sie auf die Wange. „Und lass niemanden außer mir rein!“

Nachdem Mila den beiden nachgewinkt hatte, schloss sie die Tür.

Allein im Penthouse, fiel ihr fast die Decke auf den Kopf. Vor ihrem geistigen Auge sah sie immer wieder Tyler im Keller mit dem blutverschmierten Messer in der Hand. Doch irgendwie schaffte sie es nicht, sich ihn als eiskalten Schlächter vorzustellen. Sie überlegte, ob sie wirklich nur Glück gehabt hatte und Tyler zu überrascht gewesen war, um sie umzubringen. Dann dachte sie an seinen Blick. In seinen Augen hatte nichts Böses gelegen. Er konnte kein Mörder sein! Oder?

Sie suchte ihr Handy und rief Tyler an. Kein Rufton. Vermutlich hatte er sein Mobiltelefon längst weggeworfen, damit die Polizei ihn nicht orten konnte. Mila gab es auf und ging auf die Dachterrasse, um tief durchzuatmen. Dort bot sich ihr ein traumhafter Sonnenuntergang über Manhattan. Doch sie konnte die Schönheit nicht genießen. Unruhig lief sie hin und her. Ständig musste sie an Tyler und Rafael denken, daran, was sie für den einen und was sie für den anderen empfand.

„Rafael, wo bleibst du denn?“, murmelte sie ungeduldig. Sie wollte in seinen Armen liegen und beten, dass sie Cops Ty schnell fassten, die Wahrheit ans Licht kam und die Au-pair-Morde ein Ende hatten.

Es dauerte über zwei Stunden, bis Rafael zurückkehrte. Die Nacht hatte sich schon über New York gelegt. Mila saß in einem Loungestuhl auf der Terrasse und starrte mit leerem Blick vor sich hin. Sie wartete nur noch, dass Raf kam und sie aus den kreisenden Gedanken holte. Als es klingelte, rannte sie sofort zur Tür.

„Tut mir leid, in der Stadt herrschte Feierabendverkehr. Mein Taxi hat eine halbe Stunde in Midtown festgesteckt.“ Rafael küsste sie auf die Wange und schleppte eine riesige Tüte ins Penthouse. „Ich hab uns Hummersalat und Weißwein mitgebracht.“

Er ging in die Küche und packte das Essen aus. Sorgfältig arrangierte er es auf dem teuren Geschirr der Fontaines und schenkte Wein in zwei Kristallgläser. Eins reichte er Mila und stieß mit ihr an. „Alles wird gut“, sagte er beruhigend. „Ty wird verhaftet – und das war’s dann.“

Mila nickte. Sie trank einen Schluck Wein und setzte sich zu ihm an den Küchentresen. Lustlos knabberte sie anschließend an dem exzellenten Hummer herum. Sie aß nur Raf zuliebe. Eigentlich war ihr nicht nach Essen zumute.

Rafael schenkte ihr regelmäßig Wein nach, selbst wenn sie nur einen Schluck genommen hatte.

„Willst du mich abfüllen?“, fragte sie scherzhaft.

Er nickte. „Wenn du betrunken bist, kannst du dich vielleicht entspannen.“

Ganz unrecht hatte er nicht. Da Mila kaum etwas gegessen hatte, zeigte der Wein schnell seine Wirkung. Sie fühlte sich matt, und endlich kam das Chaos in ihrem Kopf zur Ruhe. „Ich leg mich ein bisschen hin“, sagte sie und ließ ihr nahezu unberührtes Essen stehen. „Du passt auf mich auf, oder?“

„Das habe ich doch versprochen.“ Rafael legte einen Arm um ihre Hüfte und brachte Mila in ihr Zimmer. „Ruh dich aus. Ich bin im Wohnzimmer und hocke vor dem Fernseher.“

„Danke, Raf.“ Sie kuschelte sich in ihr Bett. „Danke für deine Mühe und für das Essen und dafür, dass du so viel Verständnis mit mir hast und …“

„Hey, hey. Was ist denn los? Ich mache nur, was jeder nette Junge für das Mädchen tun würde, das er gern hat und das gerade eine harte Zeit hat.“ Rafael streichelte ihre Wange, bevor er einen Kuss auf ihre Stirn drückte. „Ich lasse die Tür einen Spalt offen, damit du das Licht vom Wohnzimmer siehst.“ Er grinste und ließ Mila allein in ihrem Zimmer.

Zuerst glaubte sie, nicht schlafen zu können. Aber dann lullte sie das Murmeln des Fernsehens, das aus dem Wohnzimmer zu ihr herüberdrang, ein, und sie fiel in einen traumlosen Schlaf.

Stimmen weckten sie einige Stunden später. Verschlafen griff sie nach ihrem Handy und las die Uhrzeit auf dem Display. Es war kurz nach Mitternacht. Zuerst glaubte Mila, Raf hätte den Fernseher lauter gestellt. Aber dann erkannte sie die Stimmen. Sebastian und Rafael unterhielten sich. Offensichtlich waren die Fontainegeschwister früher von dem Kurztrip in die Hamptons zurückgekehrt. Ob Raf oder Officer Steele sie angerufen und über Ty und den Vorfall im Keller informiert hatten? Rafael hatte nichts in der Richtung erwähnt. Dann musste es wohl der Cop getan haben.

Mila stand auf, um Seb zu begrüßen und sich ihm gegenüber notfalls für ihre Stippvisite im Keller zu rechtfertigen. Als sie das Wohnzimmer betrat, unterhielten Seb und Raf sich angeregt. Sie sahen auf, als Mila vor ihnen stand.

„Hey, du bist wach. Setz dich zu uns!“ Raf klopfte neben sich aufs Sofa.

„Hallo, Sebastian“, meinte Mila. „Was machst du hier?“

„Mörder jagen.“ Er grinste, sagte aber nicht, wer ihn in den Hamptons informiert hatte.

„Ich vermute, Rafael hat dir schon erzählt, was passiert ist?“

„Hat er.“ Er sah sie durchdringend an. „Und Felix hat mich vielleicht zugetextet! Er sollte weniger Schichten übernehmen und mehr schlafen. Er ist völlig überdreht. Allerdings nicht so überdreht wie Tyler. Ich hätte nie gedacht, dass er ein Killer ist. Geht es dir gut? Ich meine, der Typ ist von dir besessen. Wenn ich an seinen Auftritt vor dem Aufzug denke …“

„Mir geht es gut. Du musst dir keine Sorgen machen“, erwiderte Mila.

„Ich mixe uns ein paar Cocktails“, bot Seb an. „Was hältst du davon?“

„Sicher. Warum nicht?“ Mila setzte sich auf das Sofa. „Wo ist Iva?“

„Sie ist den Hamptons geblieben“, erklärte Seb, während er sich an der Hausbar zu schaffen machte. „Ihr neuer Lover ist in unserem Haus dort eingetroffen. Rate mal, wer er ist!“

„Ich hab keine Ahnung“, erwiderte Mila und lächelte erleichtert, weil Seb sie nicht mit Fragen zu Ty, Nelly oder dem Keller löcherte.

„Justin.“ Seb sah sie breit grinsend an, als erwarte er, dass sie wüsste, von wem er sprach.

„Justin?“

„Ich sag nur: Nummer drei.“

„Du sprichst von dem Trio?“ Mila sah ihn erstaunt an. „Moment! Wie …?“

„Ja, ja, du liegst schon richtig. Erst war Nick dran, dann Evan und jetzt Justin“, beendete Sebastian ihren Satz, und beide Jungs lachten.

„Okay, läster mal weiter über Iva“, meinte Rafael zu Seb. „Ich geh in mein Apartment und hol uns ein paar kubanische Zigarren. Kann etwas dauern, weil ich meine Reservekiste erst finden muss. Amüsiert euch schon mal ohne mich.“ Er küsste Mila lange auf den Mund. „Ich steh echt auf dich“, flüsterte er zum Abschied, stand auf und verließ das Penthouse.

„Dein Drink.“ Seb schlenderte mit zwei Cocktailgläsern zum Sofa und reichte Mila eins. „Auf die Polizei!“, meinte er und stieß mit ihr an.

„Was ist es?“, fragte Mila und probierte einen Schluck.

„Eine Eigenkreation. Äußerst hochprozentig.“ Sebastian grinste und beobachtete sie, während sie trank. Er selbst rührte seinen Cocktail nicht an.

Mila lächelte ihn an. Er lächelte zurück. Aber er taxierte sie. Sofort begann Mila, sich unwohl zu fühlen.

„Raf braucht ganz schön lange. Vielleicht sollte ich ihm suchen helfen“, meinte sie nach einer Weile und machte Anstalten aufzustehen.

Seb legte seine Hand auf ihren Oberschenkel und schüttelte den Kopf. „Raf ist doch gerade erst weg. Magst du meine Gesellschaft nicht?“

„Doch, natürlich. Wie kommst du denn darauf?“

Er presste die Lippen aufeinander, dann trat ein irres Funkeln in seine Augen. „Nun, weil du dich gerade genauso unentspannt aufführst wie Nelly, als sie das letzte Mal hier gesessen hat.“

„Bitte?“ Mila zuckte zusammen.

„Ach komm, tu nicht so.“ Seb schlug ihr kumpelhaft gegen die Schulter. „Ich weiß, dass du im Keller gewesen bist und dich im Schrank versteckt hast … Felix tratscht. Ich hab’s dir gesagt.“ Seb seufzte und trank nun doch einen Schluck von seinem Cocktail. Er schmatzte. „Hm, lecker! Tja, meine Liebe, du und ich wissen, dass du nicht damit gerechnet hast, Tyler im Keller zu treffen. Du hast die mausetote Nelly gesucht. Richtig?“ Er wartete ihre Antwort nicht ab. „Ich bin nicht blöd, falls du mich dafür gehalten hast. Ich habe Rafael über den Besuch von Officer Steele ausgefragt. Und er hat mir alles erzählt. Auch was Trevor zu berichten hatte. Wir sind also auf fast demselben Wissensstand, kleine Mila. Nur dass ich dir natürlich noch einiges voraushabe.“

Mila schluckte hart. Panik schnürte ihr die Kehle zu. Jetzt gab es keine Zweifel mehr. Der wahre Au-pair-Mörder saß ihr gegenüber.

Seb lachte. „Du wirst Nelly nicht finden. Für die Morde muss der Idiot Tyler in den Knast. Schnappt sich die Tatwaffe, lässt hundert pro als Einziger Fingerabdrücke dran und ist nun dran. Das nennt man Ironie des Schicksals. Ich konnte diesen Ty noch nie ausstehen. Hat keinen Respekt vor Menschen wie mir.“

Seb lächelte, doch im nächsten Moment funkelten seine Augen wieder böse. „Obwohl ich tausendmal mehr wert bin als dieser Verlierer. Er hat sich ständig eingemischt, hat Nelly ins Gewissen geredet, sich nicht mit mir einzulassen. Doch sie hat mir immer alles erzählt, nach dem Sex. Sie hat mir vertraut, bis ich mir auch noch ihre zweite Freundin geholt habe. Da wurde sie misstrauisch und wollte weg … Dumme, kleine Nelly.“

Er lachte heiser. „Und dummer Wichtigtuer Tyler! Weißt du, wieso er dich ins ‚Maggiano‘ mitgenommen hat? Meine Mom geht da seit ihrer Kindheit essen. Sie hat es ihm für ganz besondere Abende empfohlen. Und ich hab den Laden aus reinem Spaß ausgewählt.“ Sebastian brach in schallendes Gelächter aus.

„Warum hast du die Mädchen umgebracht?“ Milas Stimme kiekste vor Angst. „Und warum Leah?! Du hast gesagt, du magst sie.“

„Wieso redest du von Leah? Ich mochte alle meine Opfer! Aber es gibt Frauen, die spuren nicht, denen muss ich zeigen, wer der Herr ist. Und es gibt Frauen, die nach einer Weile anstrengend werden. Erst sind sie nett und süß … Doch nur so lange, bis sie glauben, sie hätten mich. Dann beginnen sie, Forderungen zu stellen. Wollen die Einzige sein. Machen Theater, wenn ich mit einer anderen schlafe … und halten sich nicht an Regeln. Dabei entscheide ich, was wann wie wo mit welcher Tussi läuft!“ Wut zeichnete seine Züge, und plötzlich schleuderte er das fast volle Cocktailglas auf den Boden. Es zerschellte in tausend Stücke.

Seb warf einen Blick auf die Scherben. „Meine Mom wird mich umbringen, wenn ein Fleck auf ihrem teuren Teppich bleibt.“ Er stand auf, nahm eine Zeitschrift vom Tisch und kehrte die Überreste des Glases damit zusammen. Dann öffnete er die Tür zur Dachterrasse, damit der Alkoholgeruch entwich.

Mila erkannte ihre Chance, sprang auf und rannte aus dem Wohnzimmer in den Vorraum zum Ausgang. Sie hatte es fast bis zur Tür geschafft, als sie Seb hinter sich hörte. Panisch streckte sie die Hand nach dem Türknauf aus. Da packte Seb sie an den Haaren und riss sie zu Boden. Er boxte ihr zweimal ins Gesicht und ließ sie liegen. Er starrte auf sie herab.

„Verdammt! Du blutest alles voll!“, stieß er hervor und verpasste Mila einen Tritt in die Seite.

Sie krümmte sich vor Schmerz. Er zerrte sie an den Haaren zurück ins Wohnzimmer. Dort hob er sie hoch, schulterte sie und schleppte sie auf die Dachterrasse.

„Hier kannst du so viel bluten, wie du willst“, meinte er und stieß sie nahe dem Jacuzzi auf einen der Loungestühle. Er presste sie in den Sitz, dann kletterte er ebenfalls auf die Liege und setzte sich auf sie. Mit den Knien fixierte er Milas Arme, schnappte sich ein Kissen und drückte es ihr aufs Gesicht.

Verzweifelt wand Mila sich. Doch er war stark, und sie konnte sich nicht befreien. Sie rang nach Luft, bekam aber keine.

Ich werde sterben, schoss es ihr durch den Kopf. Und er wird meine Leiche irgendwo entsorgen … am Pond im Central Park oder hinter dem „Maggiano“. Und Officer Steele wird denken, Tyler hat mich erwischt, weil ich den Polizeischutz abgelehnt habe. Während ich unter der Erde verrotte, vegetiert Ty lebenslänglich im Knast seinem Ende entgegen. Nein. Nein! NEIN!!!

Mit all ihrer verbliebenen Kraft hob Mila ruckartig die Hüfte. Und dabei verlor Sebastian das Gleichgewicht. Er fiel nach vorn. Mila nutzte den Raum, riss ihr Bein hoch und rammte ihm das Knie zwischen die Beine.

Seb jaulte auf und kippte wie ein nasser Sack zur Seite. Dabei prallte er mit dem Kopf auf den Steinrand des Jacuzzis. Das dumpfe Geräusch ging Mila durch Mark und Bein. Entsetzt sah sie, wie er bewusstlos in das Becken glitt und unterging. Sein Blut färbte das Wasser rot.

Mila rang nach Atem. Als sie wieder einigermaßen atmen konnte, stand sie auf und kniete sich neben den Jacuzzi. Sie streckte den Arm ins Wasser, packte Sebastian am Hemd und versuchte, ihn hochzuzerren. Doch sein Körper entglitt ihr immer wieder. Allein konnte sie ihn nicht aus dem Becken ziehen.

Eilig rannte sie ins Wohnzimmer zum Telefon und rief den polizeilichen Notruf. Während sie mit der Beamtin sprach und alle wichtigen Informationen durchgab, lief sie aus dem Penthouse zu Rafaels Apartment. Sie bat die Polizistin noch, unbedingt Officer Steele vorbeizuschicken. Dann klingelte sie bei Rafael Sturm und hämmerte wie eine Verrückte gegen seine Tür.

Rafael öffnete und sah Mila fassungslos an. Sprachlos musterte er ihr von Sebs Schlägen anschwellendes Gesicht. „Was ist … passiert?“, stammelte er schließlich.

„Komm mit! Du musst mir helfen!“ Mila packte ihn am Arm und zog ihn mit. „Seb ist der Au-pair-Mörder. Und er wollte mich auch umbringen“, stieß sie hervor, während sie nebeneinander den Flur zum Fontainschen Penthouse entlangliefen.

„Hast du die Polizei informiert?“, fragte Raf.

Mila nickte und zeigte ihm das Telefon, das sie immer noch in der Hand hielt. „Sie müssten jeden Moment hier sein.“

„Gut … gut“, erwiderte Rafael. „Wo ist Seb?“

„Er liegt im Jacuzzi. Ich glaube, er ist tot!“

„Oh wow!“ Rafael legte einen Schritt zu, rannte mit ihr ins Penthouse und hinaus auf die Dachterrasse.

Als Mila ihn einholte, hievte Rafael gerade Sebastians schlaffen Körper aus dem Wasser. Er legte ihn auf den Boden und begann mit Erste-Hilfe-Maßnahmen. Aus den Straßenfluchten tönten die Sirenen von Polizei und Feuerwehr zu ihnen hoch.

Raf versuchte Seb wiederzubeleben, bis der Notarzt eintraf. Doch nachdem der Arzt Sebastians Lebensfunktionen geprüft hatte, schüttelte er den Kopf. Er breitete ein Laken über die Leiche und klopfte Rafael tröstend auf die Schulter.

„Sie haben alles versucht. Mehr konnten Sie nicht tun“, sagte der Arzt. „Er war zu lange bewusstlos unter Wasser und ist ertrunken.“

Rafael nickte geistesabwesend. Er wartete, bis sein Freund in die Gerichtsmedizin abtransportiert wurde. Dann wandte er sich an Mila und fragte: „Wie geht es dir? Hast du Schmerzen?“

Mila saß auf einem der Loungestühle. Ein Sanitäter verarztete ihre Platzwunden. „Ich fühl mich … okay“, murmelte sie.

„Es ist nichts gebrochen, und die Schwellungen und blauen Flecke verheilen wieder“, informierte ihn der Sanitäter.

Raf nickte und strich ihr über die Hand. „Sag mir, wenn ich irgendetwas für dich tun kann.“ Er setzte sich auf den Stuhl neben ihrem und starrte ins Leere.

„Es tut mir leid wegen Seb“, sagte Mila. „Es tut mir leid, dass er tot ist. Aber nur, weil er sich für seine Taten vor Gericht und vor den Angehörigen seiner Opfer hätte verantworten müssen. Und es tut mir leid wegen dir …“

„Ich kann es noch nicht fassen“, erwiderte Raf. „Ich kann nicht glauben, dass er die Mädchen …“ Seine Stimme brach, und er schlug die Hände vors Gesicht. „Ich hätte doch etwas merken müssen!“

„Miss Azarov, Mr St. Clair, wenn Sie in der Lage sind, möchten wir Sie zur Befragung bitten.“ Officer Steele trat neben Milas Sanitäter. Sein Kollege Hobbs hielt sich im Hintergrund.

„Sicher.“ Raf stand von seinem Platz auf. „Wenn Sie möchten, spreche ich zuerst mit Ihnen. Mila wird ja noch versorgt.“

Officer Steele nickte und ließ Rafael den Vortritt. Hobbs folgte ihnen. Mila sah den Männern nach. Rafael schlich mit gesenktem Kopf davon. Sebastians Tod und die furchtbaren Neuigkeiten über sein wahres Ich hatten ihn sichtlich mitgenommen. Mila empfand aufrichtiges Mitleid mit ihm und wünschte, sie könnte irgendetwas tun, damit er sich besser fühlte. Denn sie mochte Raf wirklich sehr. Und genau da lag der Knackpunkt: Sie mochte ihn – aber sie liebte ihn nicht.

Hatte sie erst in Todesangst zittern müssen, bevor sie sich ihre wahren Gefühle eingestehen konnte? Dabei wusste sie im Grunde schon seit ihrem Gespräch mit Ruby, wen sie liebte und wen nicht.

Mila waren ihre Schmerzen egal. Sie saß da, und auf einmal sah sie alles glasklar. Als Ruby ihr Nellys charakterliche Veränderung durch ihre Nähe zu Seb und seinen Jetset-Leuten beschrieben hatte, hatte Mila sich in dem ambitionierten Mädchen wiedererkannt. Sie hatte sich wie das verschwundene Au-pair zu Höherem berufen gefühlt und gesellschaftlichen Erfolg gesucht, indem sie sich an Sebastian und Rafael hielt.

Sie hatte sich vom Reichtum und vom Jetset-Leben blenden lassen und geglaubt, das wäre alles, was zählte. Ihr war sogar gleichgültig gewesen, welcher von beiden Jungs ihr Freund wurde. Hauptsache: High Society. Dafür hatte sie Tyler versetzt und belogen. Mit der Folge, dass er ihretwegen ausgerastet war und seinen Job verloren hatte. Sein Unglück war ganz allein ihre Schuld. Sie hatte ihm Hoffnungen gemacht, seine Liebe benutzt, um ihr Ego aufzubauen, und ihn dann mit Füßen getreten.

Und was genauso schlimm war: Sie hatte sich selbst nicht respektiert und ihre Gefühle unterdrückt. Sie war in Ty verliebt. Und zwar seit sie ihn das erste Mal gesehen hatte. Allein wenn sie an ihre leidenschaftlichen Küsse dachte, hatte sie Schmetterlinge im Bauch.

Ich bin so dumm gewesen, dachte Mila und schüttelte den Kopf.

„Sie müssen stillhalten“, ermahnte der Sanitäter sie. „Sonst kann ich Ihre Wunden nicht versorgen.“

„Schon gut“, meinte Mila. „Ich bin brav. Ach … Haben Sie ein Handy dabei und kann ich es mir vielleicht kurz ausleihen?“

„Sicher.“ Der Sanitäter zog es aus seiner Hosentasche und reichte es ihr.

„Ich werde mich beim Telefonieren auch nicht bewegen“, versprach Mila und gab Tylers Festnetznummer ein. Sie wusste, dass er noch auf der Flucht vor der Polizei war und sich sicher nicht in seinem Apartment aufhielt. Aber sobald er erfuhr, dass der Killer gefasst war, kehrte er bestimmt nach Hause zurück. Und dann würde ihre Nachricht auf ihn warten. Vielleicht konnte er ihr verzeihen und gab ihr eine zweite Chance.

Tylers Anrufbeantworter sprang an. Milas Herz pochte schneller, als sie seine Stimme auf dem Band hörte. „Ty“, sagte sie nach dem Pfeifton. „Ich bin’s, Mila …“