6. KAPITEL

„Mila, du bist gefeuert! Am besten fährst du heute noch zurück nach Yellowfork.“ Im Wohnzimmer der Fontaines baute sich Iva vor Mila auf und verschränkte als Zeichen ihrer Entschlossenheit die Arme vor der Brust.

„Du kündigst niemandem! Mila kann nichts dafür, dass ihre Freundin nach einer Partynacht mit uns verschwindet“, mischte Seb sich ein. „Und ganz nebenbei: Milas Heimatort heißt Yellowknife!“

„Yellowknife, Yellowfork, Yellow Submarine! Das ist mir schnurz-piep-egal“, schimpfte Iva. „Mila ist für unsere Familie ein Fluch! Seit sie hier ist, passieren lauter seltsame Dinge. Erst stürzt diese Agnès von unserer Dachterrasse, und jetzt wird diese Leah vermisst. Das geht doch nicht mit rechten Dingen zu!“ Sie warf Mila einen vorwurfsvollen, hasserfüllten Blick zu. „Außerdem schmeißt Mom sie sowieso raus, wenn sie erfährt, was geschehen ist.“

„Mom erfährt nichts!“, erwiderte Sebastian eindringlich. „Du sagst ihr kein Wort.“

„Muss ich auch nicht“, antwortete Iva schnippisch. „Wenn das Au-pair nicht wieder auftaucht, werden die Zeitungen darüber berichten. Und unsere Eltern haben auf der Jacht Internet!“

„Und wenn schon“, entgegnete Seb. „Mom und Dad haben vorgestern die Jacht verlassen und touren im Wüstenschiff durch die Sahara. Ich bezweifelte, dass es dort ein Handy-Funknetz gibt, über das die beiden via Web die New York Times lesen können.“

„Dann lesen sie die Nachrichten eben, wenn sie von den Kamelen absteigen. So oder so: Mila muss gehen!“, presste Iva zornig hervor. „Oder hast du etwa verdrängt, was Officer Steele zu uns gesagt hat? Ich frische deine Erinnerung gerne auf!“

„Ich weiß, was er gesagt hat“, unterbrach Seb ihren Redeschwall und äffte die autoritäre Stimme des Cops nach: „‚Wie erklären Sie sich, dass erst ein Mädchen von Ihrer Dachterrasse stürzt und kurze Zeit später ein zweites verschwindet? Sie haben vom Au-pair-Killer gehört, oder nicht?‘“

„Vermutlich hält er dich für den Mörder!“, setzte Iva nach.

„Sehr witzig!“, konterte Seb wütend. „Soll er mich oder jemanden aus unserem Freundeskreis verdächtigen. Das ist derart lächerlich!“

„Hört auf, euch zu streiten!“, mischte Rafael sich ein. „Dieser beknackte Polizist hat doch nur sein Wunschdenken geäußert. Er fände es super, wenn ein Mitglied von New Yorks Elite ein perverser Mädchenmörder wäre. Vergesst den Cop! Es gibt doch wichtigere Fragen: Wo ist Leah? Was ist mit ihr geschehen? Können wir irgendetwas tun, um sie zu finden?“

„Die ist mir völlig egal“, zischte Iva.

„Das ist uns allen klar“, erwiderte Rafael und warf Mila einen mitfühlenden Blick zu.

Mila lächelte ihn schwach an. Sie registrierte, dass er und vor allem auch Seb auf ihrer Seite standen. Aber seit sie bei den Ducanes von Leahs Verschwinden erfahren hatte, fühlte sie sich wie betäubt. Sie machte sich Vorwürfe, Leah nicht von ihrem gefährlichen Alleingang zurückgehalten zu haben. Und sie ließ die letzten Stunden mit Leah immer wieder Revue passieren, seit sie auf dem Sofa der Ducanes wieder zu Bewusstsein gekommen war.

Officer Steele und Officer Hobbs hatten sie und Trevor zurück zu den Fontaines gefahren und ins Penthouse begleitet. Mila hatte den verwirrten Kleinen, der nur das Nötigste wusste, aber ständig nach Leah fragte, als habe er einen siebten Sinn für Katastrophen, in sein Zimmer gebracht. Sie hatte ihm versprochen, später alles zu erklären, eine Comic-Serie eingeschaltet und ihn mit Schokolade und Milch versorgt.

In der Zwischenzeit hatten die Polizisten die Fontaines beziehungsweise St. Clair zusammengetrommelt. Rafael war von seinem Apartment zurück zu den Fontaines gekommen. Iva und Evan hatten gemeinsam unter der Dusche gestanden. Seb hatte im Party-Koma auf einem der Loungestühle auf der Dachterrasse gelegen und musste mühsam wach gerüttelt werden, was Mila wunderte. Denn genau dort hatte sie ihn vor ihrem Aufbruch zu den Ducanes gesucht. Aber vielleicht war er im anderen Bad gewesen, so genau hatte sie nicht nachgesehen.

Die Beamten baten alle zur Befragung ins Wohnzimmer. Seb, Raf und Mila gaben an, Leah vor der Park Avenue 806 das letzte Mal gesehen zu haben, und erklärten, dass Leah darauf beharrt hatte, alleine nach Hause zu gehen. Officer Steele hakte nach, ob Leah vielleicht noch eine Verabredung gehabt habe, von der niemand hätte wissen sollen. Aber Mila hielt das für ausgeschlossen. Leah hatte schließlich schon wenige Stunden später Butterbrote für die Kinder schmieren sollen.

Iva und Evan sagten aus, dass sie schon vor Leahs Aufbruch ins Penthouse gegangen und dort bis zum Eintreffen der Polizei geblieben seien. Mila zuckte bei der Aussage kurz zusammen und dachte an Evan, den sie allein und nackt in Ivas Bett gesehen hatte. Doch sie schwieg. Schließlich war das Apartment der Fontaines weitläufig. Möglicherweise hatte Iva sich im Wohnbereich ihrer verreisten Eltern aufgehalten. Den wagte Mila nie zu betreten.

Natürlich gab auch Raf an, wo er die Nacht verbracht hatte. Und als er erklärte, dass er nach ausgiebigem Gelage Seb schlafend im Dachgarten zurückgelassen und Mila aufgesucht hatte, waren die Reaktionen der Anwesenden unterschiedlich.

Iva atmete hörbar ein und sah Rafael an, als habe er sie betrogen.

Seb schaute verblüfft von Raf zu Mila und hob dann die Hand, um Rafael anerkennend abzuklatschen. Er hielt jedoch in der Bewegung inne, als Officer Steele skeptisch die Stirn runzelte. Rafael, der neben Mila saß, war Sebastians Verhalten offenkundig peinlich. Er ergriff ihre Hand, um ihr Rückhalt zu vermitteln.

Evan hatte derweil breit und ein bisschen dämlich gegrinst.

„Von euch glaubt doch niemand wirklich, dass Leah noch lebt, oder?“, tönte Iva jetzt, nachdem die Polizisten gegangen waren.

„Halt ein Mal deine Klappe!“, fuhr Seb seine Schwester an. „Dein Mangel an Mitgefühl ist unfassbar.“

„Heuchler!“, giftete Iva zurück. „Als ob dich das Schicksal des Mädchens interessiert!“

„Hört auf! Beide!“, versuchte Raf erneut, den Geschwisterkrieg zu unterbinden. „Was Leah angeht, sieht es nicht gut aus. Aber wie heißt es? Die Hoffnung stirbt zuletzt.“

In dem Moment klingelte Milas Handy. Sie hatte es vor sich auf dem Tisch liegen, in dem irrigen Glauben, Leah würde anrufen und mit einer albernen Erklärung für ihr Verschwinden und ihr ruiniertes Trägerhemd aufwarten. Mit großen Augen blickte sie auf das Display ihres Mobiltelefons. Die anderen starrten sie an.

„Es ist Officer Steele“, sagte Mila. Sie hatte die Nummer des Cops sofort eingespeichert, nachdem er ihr nach der Befragung seine Visitenkarte gegeben hatte.

„Nun geh schon ran!“, forderte Iva sie ungeduldig auf.

„Officer Steele?“ Mila zitterte die Stimme, als sie den Anruf annahm. Schweigend hörte sie, was er zu sagen hatte. „Danke“, meinte sie schließlich und beendete die Verbindung.

„Was ist?“, fragte Seb.

„Leah ist tot. Die Cops haben ihre Leiche gefunden“, antwortete Mila wie in Trance. Im tiefsten Innern hatte sie gewusst, dass Leah nicht mehr lebte und ermordet worden war. Aber wie sie hatte sterben müssen und wo man sie gefunden hatte, das nahm ihr den Atem.

„Mein Gott, nun lass dir doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen!“, fuhr Iva sie an.

„Leah ist erstochen worden“, fuhr Mila leise fort. „Der Täter hat sie mit 49 Messerstichen zerfetzt und ihr das Gesicht zerschnitten.“

Ein Raunen ging durch die Runde.

„Ihr Körper wurde in einem Müllcontainer auf dem Hinterhof eines Restaurants gefunden“, meinte Mila.

„Krass!“, stieß Seb hervor. „Und welches Restaurant?“

„Das ‚Maggiano‘.“ Milas Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Ihre Gedanken schweiften zu Tyler und dazu, dass er nach dem Essen bei dem berühmten Italiener unbedingt die Abkürzung über den Hinterhof hatte nehmen wollen. Sie dachte an seine Wut im „Kiss & Fly“ und seinen Ausraster danach. „Du machst einen gewaltigen Fehler. Es wird dir wie Nelly und ihren Freundinnen ergehen“, hatte er gesagt.

Mila lief ein Schauer über den Rücken. Hatte Ty ihr gedroht? Die Parallelen zwischen Nelly und ihr waren unübersehbar. Ty war vor ihr in Nelly verliebt gewesen. Doch Nelly hatte Seb vorgezogen. Sie selbst hatte Raf vorgezogen.

Urplötzlich hatte Nelly ihre Au-pair-Familie verlassen. Vielleicht war sie gar nicht wegen Mrs Fontaine und den Problemen, die ihre Affäre mit Seb auslöste, abgehauen, sondern Tyler hatte nachgeholfen. Und wer waren ihre Freundinnen, von denen er sprach? Wie hießen sie? Waren sie etwa Au-pairs … gar die toten Au-pairs? Oh mein Gott! Leah hatte ihr auf dem Schulhof erzählt, dass der Täter das zweite tote Au-pair auf dem Hinterhof eines Restaurants im Müll entsorgt hatte!

Milas Gedanken rasten. Tyler musste Leah noch gesehen haben, bevor er die Park Avenue 806 betreten hatte. War er ihr nach seinem Ausraster gefolgt und hatte seinen Hass auf Mila an ihr ausgelassen? Und war Agnès wirklich durch einen Unfall zu Tode gekommen? Am Abend, als sie von der Dachterrasse gestürzt war, hatte Ty hinter der Bar gearbeitet.

Mila wollte nicht glauben, was ihr durch den Kopf schoss. Schließlich mochte sie Tyler! Aber wenn er ein Verbrecher war … Sollte sie ihr Wissen den Cops mitteilen? Was, wenn sie falschlag und Ty nur aus Eifersucht in der Empfangshalle durchgedreht war? Was, wenn die Übereinstimmung von Leahs Fundort und dem Ort ihres ersten Dates mit ihm ein schrecklicher Zufall war? Hatte Mila ihm durch ihren Verrat nicht schon genug Leid zugefügt? Musste sie ihn dann noch des Mordes bezichtigen? Sie brauchte jemanden, mit dem sie über ihre furchtbaren Vermutungen sprechen konnte. Vielleicht würde ihr ein Gespräch mit Raf oder Seb helfen … Nein, die beiden konnten Ty nicht ausstehen und würden ihn gleich der Polizei ausliefern.

„Tja, dann hat sich das Thema Leah auch erledigt“, bemerkte Iva und stand von ihrem Platz auf. „Ich hab euch gleich gesagt, das Au-pair ist tot.“

„Wer ist tot?“ Trevor stand im Türrahmen des Wohnzimmers und blickte mit großen, ängstlichen Augen in die Runde.

„Jemand Unwichtiges“, sagte Iva und schnippte mit den Fingern. Evan sprang auf und folgte ihr aus dem Raum. Ohne Trevor weiter zu beachten, gingen seine Schwester und ihr Lover an dem geschockten kleinen Jungen vorbei.

Mila hasste Iva für ihre Grausamkeit. Sie drückte Rafaels Hand und stand auf, um sich um Trevor zu kümmern.

„Sagst du mir, wer? Ist es Leah?“, fragte Trevor, als er an ihrer Hand zurück in sein Zimmer ging. „Was ist mit ihr? Ist ihr was Schlimmes passiert?“

„Ich erklär dir alles gleich“, beruhigte Mila den Jungen und hörte unbeabsichtigt das Gespräch zwischen Evan und Iva mit, die auf dem Weg zu ihrem Schlafzimmer waren.

„Schatz, sei mir nicht böse, aber ich wollte es weder vor den Cops noch deinem Bruder und den anderen erwähnen …“, begann Evan. „Aber ich bin heute Morgen wach geworden und du warst verschwunden. Ich habe dich im ganzen Apartment gesucht. Aber du …“

„Halt die Klappe, und nenn mich nicht Schatz!“, fuhr Iva ihn an. „Überhaupt nervst du mich. Wir hatten unseren Spaß, und nun ist es genug. Wir sehen uns! Mach die Eingangstür von draußen hinter dir zu.“

Iva betrat ihr Zimmer und schlug Evan die Tür vor der Nase zu.

Evan blieb unschlüssig vor der geschlossenen Tür stehen und machte Anstalten anzuklopfen. Dann keimte anscheinend ein Rest Selbstachtung in ihm auf, und er drehte sich auf dem Absatz um und verließ das Penthouse.

„Was ist passiert?“ Trevor hielt seinen Teddy im Arm, lehnte sich auf seinem Bett zurück und sah Mila an.

Mila seufzte. Es fiel ihr schwer, die Wahrheit zu sagen, der Kleine hatte schon so verstört auf Agnès’ Tod reagiert. Aber Lügen machten alles nur noch schlimmer. Niemand konnte einem Kind auf Dauer eine irreale heile Welt vorgaukeln.

„Du hast mich nach Leah gefragt“, begann sie und kämpfte mit den Tränen. „Nun, ihr ist etwas Schreckliches zugestoßen. Jemand hat sie überfallen und umgebracht.“

Trevor wandte den Blick ab, fummelte an den Ohren seines Plüschbären herum und versuchte, dem Teddy eine viel zu große, rosa Strickmütze anzuziehen, die auf dem Nachttisch gelegen hatte.

„Du weißt, was umgebracht bedeutet?“, hakte Mila nach.

„Klar! Ich bin doch nicht blöd!“ Trevor runzelte verärgert die Stirn. „Leah ist tot. So wie Agnès.“

Mila nickte. „Ja, aber Agnès hatte einen Unfall. Leah …“

„Leah wurde ermordet“, fiel Trevor ihr ins Wort. Sein Gesicht zu einer grimmigen Maske verzogen, malträtierte er die Ohren seines Bären. „Hat der Mann sie wie Enie und June mit dem Messer totgemacht?“

„Bitte? Was hast du gesagt?“ Mila glaubte, nicht richtig zu hören. Woher kannte Trevor die Namen der toten Au-pairs? Und woher wusste er, wie sie gestorben waren? Aus Zeitung und Fernsehen? Von den Kindern auf dem Schulhof? Dann fiel ihr ein, dass Enie ein Mädchen aus der Hewitt School betreut hatte. Außerdem tratschten die Au-pairs vor den Kids. Sicherlich hatte Trevor etwas aufgeschnappt.

Mila ärgerte sich über ihre Kolleginnen, weil sie die Kinder solchen Schrecken aussetzten und das einfach, weil sie sich keine Gedanken machten.

„Ich will wissen, ob Leah auch aufgeschnitten wurde … so wie Enie und June?“, wiederholte Trevor seine Frage mit Nachdruck.

„Nein“, log Mila. „Aber der Täter hat ein Messer benutzt.“

„Arme Leah.“

„Ja, arme Leah.“ Mila presste die Lippen zusammen, um nicht zu weinen. „Wer hat dir denn erzählt, dass Enie und June ermordet wurden?“ Sie würde der Person die Meinung geigen!

„Nelly.“

„Wie bitte, wer?!“ Mila starrte den Kleinen an. Erneut gingen ihr Tylers Worte durch den Sinn: „Du machst einen gewaltigen Fehler. Es wird dir wie Nelly und ihren Freundinnen ergehen.“

„Na Nelly!“, erwiderte Trevor lauter und ungeduldig, als wäre Mila dumm. „Nelly war ganz traurig, weil sie tot sind.“

„Dann kannte Nelly die Mädchen?“

Trevor nickte. „Hm … Ich kannte sie auch.“

„Woher?“ Milas Herz raste.

„Sie haben uns besucht.“

„Enie und June waren hier?!

„Ja. Oft.“

Mila zuckte zusammen. Die ermordeten Au-pairs waren bei den Fontaines ein- und ausgegangen! Und niemand hatte sie ihr gegenüber jemals erwähnt? Vielleicht spann Trevor sich irgendwelche Hirngespinste zusammen. „Du schwindelst doch!“

„Tu ich nicht!“, antwortete der Kleine empört. „Enie und June waren Nellys Freundinnen. Du weißt aber auch gar nichts!“

„Da hast du recht. Aber dafür weißt du umso mehr. Kannst du mir erklären, woher Nelly und Enie June kannten? Die Zwillinge, die June betreute, gehen nicht zu deiner Schule.“

„Nein, tun sie nicht. Nelly, Enie und June kannten sich durch Ruby.“

„Aha.“ Mila setzte die Puzzlestücke zusammen. „Und die drei Au-pairs waren hier in dieser Wohnung?“, vergewisserte sie sich noch einmal.

Trevor nickte.

„Deine Mom will doch nicht, dass deine Au-pairs ihre Gäste in eurem Apartment empfangen.“

„Das ist Sebs Schuld. Er hat Nelly und ihre Freundinnen zu seinen Partys eingeladen und mit ihnen geflirtet.“ Trevor kicherte. „Iva hat bei Mama gepetzt, dass Seb mit June geknutscht hat.“

„Er hat June geküsst? Bist du sicher, dass es nicht Nelly gewesen ist?“

„Seb hat alle geküsst. Nelly, Enie, June, Agnès …“

„Woher weißt du das?“

„Von Iva. Sie war richtig sauer deswegen.“

„Warum?“

„Sie hasst arme Mädchen.“

„Was soll das heißen: arme Mädchen?“

„Mädchen, die nicht aus solchen Familien kommen wie wir. Mädchen, die Pöbel sind“, erklärte Trevor. „Dich hasst sie auch. Aber das ist mir egal. Ich mag dich!“ Er schmiegte sich an Mila.

„Das freut mich“, erwiderte sie und strich ihm geistesabwesend übers Haar. Durch Trevors Erklärungen kam nicht mehr nur Tyler als Mörder infrage. Auch Iva hatte ein Motiv: Sie wollte ihre Familie vom „Pöbel“ rein halten. Ebenso konnte Seb der Täter sein. Bei seinem Frauenverschleiß war Stress vorprogrammiert. Vielleicht entledigte er sich nerviger Freundinnen auf die harte Tour.

Quatsch, dachte Mila. Die Fontaines sind so reich. Sie können jedes Problem mit Geld aus der Welt schaffen.

Und welchen Grund hätte Seb haben sollen, Leah zu ermorden? Erstreckte sich seine gekränkte Eitelkeit auf jedes Mädchen, das einen anderen vorzog? Musste Leah etwa sterben, weil sie mit Taylor Lautner geflirtet hatte? Der Verdacht war lächerlich! Selbst wenn Sebs Ego angekratzt war, auf der nächsten Party oder beim nächsten Klubbesuch hing ihm ein neues Dutzend Mädchen am Hals.

Außerdem war Seb im Penthouse gewesen, als Leah nach Hause gegangen war. Allein vom Zeitablauf konnte er den Mord unmöglich begangen haben. Aber wo hielten er und seine Schwester sich morgens auf? Wirklich im Bad oder im elterlichen Wohnbereich?

Mila musste die ganze Wahrheit herausfinden und dafür zu den Anfängen zurückkehren. „Also, Iva hat Sebastians Knutschereien bei eurer Mom gepetzt. Und dann?“

„Mom hat mit ihm geschimpft und gesagt, dass solche Mädchen kein Umgang für ihn sind. Sie hat verboten, dass Nelly, Enie und June zu Sebs Feiern kommen.“

„Haben Seb, Nelly und ihre Freundinnen sich an das Verbot gehalten?“

„Ich weiß nicht. Ich glaub nicht. Einmal hat Seb gefeiert, und Nelly hat bei mir im Zimmer geschlafen. Da ist Raf reingekommen und hat gefragt, ob sie nicht mitfeiern will. Sie hat Nein gesagt. Aber da waren Enie und June schon lange nicht mehr bei uns gewesen.“

„Hat Raf auch mit den Mädchen geknutscht?“ Mila musste wissen, inwieweit er in die Fontainschen Spielchen verwickelt war. Falls Iva oder Seb Frauen töteten, wusste Raf dann Bescheid? Deckte er seine Freunde etwa?

„Frag ihn doch selbst! Ich weiß das nicht.“ Trevor runzelte genervt die Stirn.

„Schon gut. Das mache ich. Aber eine Frage habe ich noch an dich.“

„Oh Mann, was denn?“ Trevor versuchte wieder, die rosa Strickmütze dem Bärenkopf anzupassen.

„Wohin ist Nelly so plötzlich verschwunden? Dir hat sie es bestimmt verraten.“

„Nein, hat sie nicht. Dabei hab ich gedacht, sie hat mich lieb.“ Trevor schleuderte die Mütze in die Ecke.

„Hey, hey. Ich bin mir sicher, dass sie dich lieb hat. Vielleicht musste sie dringend weg … weil sie Angst hatte?“ Mila musterte den Kleinen. Aber er zeigte keine Reaktion. „Na ja, überleg mal! Kurz nacheinander sterben ihre Freundinnen. Würdest du da nicht auch abhauen?“

„Hm.“

„Was haben Nelly und June gemacht, als Enie ermordet wurde?“

„Nelly hat geweint und oft mit June telefoniert. June durfte da schon nicht mehr zu Besuch kommen.“

„Meinst du, Nelly wusste, wer Enie …“ Mila beendete den Satz nicht. Sie hatte Trevor schon ziemlich bedrängt. Das war nicht gut für das Kind – und auch nicht für sie. Was, wenn er seinen Geschwistern verriet, worüber sie gesprochen hatten? Wenn eins der erwachsenen Fontainekinder der Killer war, schwebte sie in großer Gefahr.

Trevor grübelte. „June war noch einmal hier, obwohl sie nicht mehr kommen sollte“, sagte er schließlich. „Sie hat unten am Empfang bei Felix gewartet. Ich weiß das, weil Nelly mich mit runtergenommen hat. Das musste sie. Sie durfte mich nicht allein im Apartment lassen. Und außer uns war niemand da. Nelly und June waren aufgeregt und haben getuschelt.“

„Worüber?“

„June hatte einen neuen Freund, mit dem sie an dem Abend verabredet war.“

„Kennst du seinen Namen?“

Trevor schüttelte den Kopf. „June wollte seinen Namen sagen. Aber Nelly hat Pst gemacht. Ich sollte nicht wissen, wer er ist. Nelly meinte: ‚Trevor quatscht alles aus.‘ Das fand ich so gemein! Ich kann Geheimnisse behalten! June hat dann in Nellys Ohr geflüstert. Ich habe nichts verstanden. Und am nächsten Tag war June tot! Und dann war Nelly fort.“ Trevor kullerten Tränen über die Wangen. „Du hast mir jetzt aber mehr als nur eine Frage gestellt! Warum bist du so komisch? Willst du auch weglaufen?“

„Nein, mein Schatz! Mach dir keine Sorgen. Ich bleibe bei dir.“ Mila nahm ihn in die Arme und wiegte den schluchzenden Jungen sanft hin und her. Doch in ihr tobte förmlich ein Sturm.

Nelly, Enie, June, Agnès und Leah – das vermisste und die toten Mädchen standen alle in Verbindung zu den Fontaines und Tyler. Das konnte kein Zufall sein! Der Mörder stammte aus der Park Avenue 806. Daran gab es für sie keinen Zweifel. Alles sprach dafür.

Warum hätte Nelly sonst verhindern wollen, dass June vor Trevor den Namen ihres neuen Freundes nannte? Trevor kannte ihn! Und niemand sollte erfahren, wer er war.

Aber warum? Bestand die Gefahr, dass Iva ausrastete? Oder Seb – weil er mal wieder zweite Wahl war?

Oder war Sebastian Junes Date? Schließlich hatten sie schon geknutscht … Doch wenn ja, wieso war Nelly nicht eifersüchtig? Weil der Kuss nie etwas bedeutet hatte und June Tyler traf? Oder gar Rafael?

Mila atmete tief durch. Sie musste den großen Unbekannten enttarnen. Dann hatte sie bestimmt einen Hinweis auf den Mörder, falls er oder sie aus Eifersucht oder ähnlich niederen Motiven getötet hatte. Oder der große Unbekannte war der Killer …

Und sie musste herausfinden, was mit Nelly geschehen war. Wohin war sie verschwunden und warum? Lebte sie überhaupt noch?

Mit einem Mal bekam Mila Angst vor der eigenen Courage. Denn sie würde die Nachforschungen alleine durchziehen müssen. Ihren vermeintlichen Freunden konnte sie nicht trauen. Entweder gehörten sie zu den Verdächtigen oder zu deren Freunden. Und um mit Officer Steele und Hobbs zu sprechen, waren ihre Verdachtsmomente noch viel zu konfus. Ihre Vermutungen beruhten ja größtenteils auf den Behauptungen eines Siebenjährigen, von echten Beweisen und Wissen war das alles noch weit entfernt.

Mila musste mutig und stark sein. Aber das würde sie Leah zuliebe gern tun. Sie wollte den Killer ihrer Freundin ans Messer liefern – und somit auch sich selbst retten. Denn nach allem, was sie jetzt erfahren hatte, zweifelte sie nicht daran, dass sie als Nächstes auf der Todesliste des Au-pair-Mörders stand.

„Bist du okay?“, fragte Trevor besorgt. Ohne dass Mila es bemerkt hätte, hatte er sich aus ihrer Umarmung gelöst und musterte sie aufmerksam. Seine Tränen waren getrocknet. Es schien ihm wieder gut zu gehen. „Bist du traurig wegen Leah?“

„Sehr“, erwiderte Mila. „Aber ich … äh … Die Polizei wird den Mann finden, der ihr und den anderen Mädchen wehgetan hat.“ Sie streichelte die Wange des Kleinen. „Hör mal! Im Gegensatz zu Nelly bin ich felsenfest überzeugt, dass du Geheimnisse für dich behalten kannst. Deshalb möchte ich dich bitten, dass du niemandem verrätst, worüber wir gesprochen haben.“

„Geht klar!“ Trevor hob seine Hand und legte sie sich feierlich auf die Brust. „Ich schwöre, dass ich kein Sterbenswörtchen verrate.“

Lächelnd gab Mila ihm einen Kuss auf die Stirn. „Danke. Ich vertraue dir.“ Sie stand auf, bückte sich nach der rosa Strickmütze und warf sie auf Trevors Bett. „Und räum mal auf, du Schlampi-König! Eure Putzfrau Maria hat schon genug zu tun.“

„Was ist hier los?“ Seb stand im Türrahmen und steckte den Kopf ins Zimmer.

Mila zuckte zusammen. „Oh mein Gott! Gewöhn dir doch mal an anzuklopfen!“ Sie hielt sich die Hand aufs Herz. Nur eine Minute früher und Sebastian hätte ihr Gespräch mit Trevor gehört.

Sebastian sah sie irritiert an. „Hä? Ich darf ja wohl noch das Zimmer meines kleinen Bruders betreten, ohne daraus einen Staatsakt zu machen. Also: Ist alles klar bei euch? Trevor?“

„Alles gut.“ Er lächelte.

„Na dann.“ Seb atmete tief durch. „Ich bestell Kaviar-Pizza. Wie sieht’s aus, welche wollt ihr?“