3. KAPITEL

„Haben die Cops Ivas Dreier-Action gestört? Nun sag schon?“ Leah, ein rothaariges Au-pair aus Irland und Milas neue beste Freundin, schien vor Neugier fast zu platzen.

„Nein. Sie haben erst die Absturzstelle gesichert und die Leute auf dem Dachgarten befragt. Seb hat Iva und die Jungs schließlich geholt“, erwiderte Mila und blickte auf die Uhr am Eingang der Hewitt School. Noch fünf Minuten, dann läutete die Schulglocke das Ende des Unterrichts ein und Trevor würde wie ein Blitz losrennen, um als erstes Kind aus dem Gebäude zu stürmen und sich in ihre Arme zu werfen. Es handelte sich dabei um ein kleines Ritual, das sich zwischen ihnen in der kurzen Zeit, die Mila sein Au-pair war, entwickelt hatte.

„Dann war’s wohl nur ein Quickie“, stellte Leah fest und kicherte.

„Wie bitte?“ Mila hatte nicht zugehört. Sie machte sich Sorgen um Trevor. Seit Agnès vor zwei Tagen gestorben war, wirkte er sehr bedrückt. Zwar hatte er die Tote nicht gesehen, aber Sebastian hatte ihm am Abend danach erklärt, was geschehen war. Mila fragte sich, ob er das nicht lieber hätte lassen sollen.

„Ich rede von dem Sex zwischen Iva und wem auch immer … nach dem tödlichen Unfall … Ach, vergiss es.“ Leah winkte ab. „Was ist mit dir los? Hat dich der Tod dieser Agnès so mitgenommen? Oder bist du sauer, weil Rafael mit Iva …“

„Ach, Quatsch! Raf ist süß, aber ich kenne ihn kaum“, unterbrach Mila sie abrupt und spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. Natürlich nervte es sie, dass Rafael mit Zicke Iva schlief. Aber sie mochte es nicht zugeben.

Schnell wechselte sie das Thema, bevor Leah mit ihrem Talent, wunde Punkte auszuspüren, weiterbohrte. „Agnès kann mir theoretisch ebenfalls egal sein. Ich habe sie insgesamt vielleicht zehn Minuten gesehen. Aber es tut mir unendlich leid, dass sie so jung und unter solchen Umständen sterben musste.“

„Was denn für Umstände? Sie ist selbst schuld.“ Leah zuckte mit den Achseln. „Wer hackebreit auf einem Geländer herumturnt, muss damit rechnen, dass es schiefgeht.“

„Niemand weiß, ob sie betrunken auf der Absperrung herumgeklettert ist“, wandte Mila ein. „Das ist lediglich eine Vermutung der Polizei. Es gibt keine Augenzeugen. Und die Obduktion der Leiche steht noch aus.“

„Vielleicht hat Iva Agnès vom Dach gestoßen“, sann Leah über den Fall nach. „Ach nee, die lag ja mit Rafael und Nick in der Kiste. Aber nach dem, was du mir über sie erzählt hast, traue ich ihr alles zu.“

„Ich habe dir offensichtlich zu viel erzählt“, stellte Mila fest und verschwieg, dass sie denselben Gedanken gehabt hatte. Auch als sie von der Polizei befragt worden war, hatte sie keinen Verdacht geäußert beziehungsweise Ivas Auseinandersetzung mit Agnès nicht erwähnt. Es gab genug Zeugen. Sollten die den Beamten von dem Streit erzählen. Mila wollte nicht ins Fettnäpfchen treten und ihren Job verlieren. „Erzähl nichts davon weiter!“

„Natürlich nicht! Was denkst du von mir?“ Leah schien gekränkt.

„Nur das Beste. Ich habe es nicht so gemeint.“

„Na, ich weiß nicht“, erwiderte Leah. „Du hörst mir nicht zu. Und du hast noch gar nichts zu meinem neuen T-Shirt gesagt.“ Sie warf sich in Pose. Das grüne, eng anliegende Trägerhemdchen brachte ihre schlanke Figur perfekt zur Geltung.

„Ziemlich grün“, kommentierte Mila.

„Das ist St.-Patrick’s-Grün, die Farbe des irischen Nationalfeiertags!“ Trotzig hob Leah das Kinn.

„Du bist komplett durchgedreht.“ Mila lachte und drückte Leah. Sie mochte die freche Irin sehr. Sie hatten sich auf dem Schulhof der Hewitt School kennengelernt und festgestellt, dass sie ziemlich ähnliche Gewohnheiten hatten. Oft trafen sie sich eine halbe Stunde früher als nötig vor der Schule, um im nahegelegenen „Gorilla Café“ einen Kaffee zu trinken und zu plaudern. Allein in der Fremde, waren sie schnell Freundinnen geworden und kannten jedes Details aus dem Au-pair-Alltag der anderen.

Leah betreute seit sechs Monaten die kleine Jasmin, eine Klassenkameradin von Trevor und das einzige Kind eines Wall-Street-Analysten namens Rusty Ducane. Das Mädchen war verwöhnt, aber erträglich. Leah musste sich rund um die Uhr um die Kleine kümmern, da die Eltern ein reges Arbeits- und Sozialleben führten. Allerdings hatte sie jede Woche zwei Abende frei. Bisher waren sie noch nicht dazu gekommen, aber demnächst wollten sie an einem freien Abend das New Yorker Nachtleben erkunden.

„Ach, Mila. Bei dir passieren lauter aufregende Dinge“, murmelte Leah. „All die Leute, die du kennenlernst, und die heißen Typen! Ich spiele dagegen tagein und tagaus Barbie und Ken mit einer Siebenjährigen. Nimm mich mit, wenn du das nächste Mal was mit Raf und Seb unternimmst. Bitte!“

„Ich weiß nicht, ob es überhaupt jemals wieder dazu kommt. Mrs und Mr Fontaine sind ausgeflippt, als sie von Agnès’ Tod und der Party erfahren haben. Sie hätten fast ihren Trip abgebrochen. Vor allem Mrs Fontaine befürchtet, dass ihr guter Name mit einer alkoholisierten Selbstmörderin in Zusammenhang gebracht wird. Jedenfalls hat sie das gesagt und ihren Kindern bis zu ihrer Rückkehr verboten, Partys zu geben.“

„Das ist nicht dein Ernst! Woher weißt du das?“

„Trevor hat mir von dem gestrigen Telefonat zwischen Seb und seinen Eltern erzählt.“

„Hm … aber die alten Fontaines brechen ihren Luxusurlaub offensichtlich nicht ab“, stellte Leah fest und fügte spitz hinzu: „Doch nicht für eine tote französische Dienstbotin, die nicht mal direkt zu ihrem Haushalt gehörte! Mrs Fontaine macht sich nur Sorgen um sich und ihre Brut. Sie wird von ihrer schicken Jacht aus per Handy oder E-Mail bei der New Yorker Staatsanwaltschaft die richtigen Strippen ziehen, und der Fall Agnès wird blitzschnell unter den Teppich gekehrt. Ich wette, Seb und Iva fangen dann sofort wieder an zu feiern. Ach, was sage ich: Sie toben sich schon am kommenden Wochenende wieder aus.“

„Tun sie nicht. Sie sind heute Morgen in das Familienanwesen in den Hamptons gefahren, um den neugierigen Reportern zu entgehen, die seit dem Todessturz das Haus belagern.“

„Und in den Hamptons kann man nicht feiern?“, meinte Leah ironisch. „Das ist doch der Spielplatz der New Yorker High Society. Aber egal. Wenn sie zurückkommen, gehen sie auch hier wieder aus. Und glaub mir, die Jungs wollen dich dabeihaben. Also: Nimm mich mit!“

Lachend verdrehte Mila die Augen. „Du kannst ganz schön nerven. Aber okay. Wir müssen uns ja nicht auf eigene Faust ins New Yorker Nachtleben werfen. Wenn sie mich also einladen, bist du dabei.“

„Super!“ Leah umarmte ihre Freundin. „Und denk bitte nicht, dass ich herzlos bin, weil ich dich um die Mordsparty beneide. Mir tut diese Agnès echt leid. Aber auch wenn ihr Sturz vom Gebäude garantiert ein Horrortrip war, ist sie wenigstens sofort gestorben und hat nicht endlos gelitten wie diese anderen toten Au-pairs.“

Mila horchte auf. Tote Au-pairs? Moment, das erinnerte sie doch an etwas … Der Taxifahrer, der sie vom Flughafen zu den Fontaines gefahren hatte! Der Inder hatte auch irgendetwas von ermordeten Au-pairs erzählt. „Welche toten Au-pairs?“

Leah konnte die Frage nicht beantworten, da die Schulglocke in diesem Moment ertönte. Gleichzeitig wandten sie sich der Eingangstür zu und warteten lächelnd auf ihre Schützlinge.

„Welche toten Au-pairs?“, hakte Mila dennoch nach.

„Das weißt du nicht?“ Leah sah sie ungläubig an. „Ach stimmt, zu dem Zeitpunkt warst du noch nicht in New York.“

„Nun mach es nicht so spannend! Die Kleinen sind gleich da“, drängte Mila. Sie wollte wissen, wovon Leah sprach, bevor Trevor angerannt kam. Nach dem Trauma vom vergangenen Wochenende musste er nicht noch mehr über tote junge Frauen hören.

„Anfang des Jahres sind kurz nacheinander zwei Au-pairs ermordet worden“, erzählte Leah. „Das erste Opfer hieß Enie, eine Holländerin. Ich kannte sie vom Sehen.“

Die Eingangstür flog auf. Doch nicht Trevor kam als Erster herausgerannt, sondern ein hübsches kleines Mädchen, das sich laut „Mommy“ rufend in die Arme einer lachenden jungen Frau warf, die es auffing und durch die Luft wirbelte.

Leah deutete mit einem Nicken auf die Kleine. „Enie war Jacquelines Au-pair. Seit sie ermordet wurde, hat die Familie keine neue Nanny angeheuert. Ich glaube, sie haben Angst, dass ihnen noch mal etwas so Schreckliches widerfährt. Enie kam nach einem Neujahrs-Konzert im Central Park nicht mehr nach Hause. Sie wurde am nächsten Morgen mit aufgeschnittenem Bauch und durchtrennter Kehle in einem Gebüsch nahe dem Pond gefunden.“

Mila nickte und beobachtete, wie Jacqueline von ihrer Mommy davongetragen wurde. „Und das zweite tote Au-pair?“

„Von ihr habe ich nur in der Zeitung gelesen. Ihr Mörder hat sie brutal verprügelt, bevor er sie erstochen hat. Die Leiche ist im Müllcontainer hinter einem Restaurant in Little Italy gefunden worden. Ich glaube, sie hieß June. Aber sicher bin ich nicht. Sie hat Zwillinge betreut, die zur katholischen St. Mary’s School gehen. Jedenfalls grassierte unter uns Au-pairs die volle Panik. Jede hat befürchtet, dass ein kranker Serientäter es speziell auf uns abgesehen hat. Aber es blieb bei den zwei Mordopfern. Bisher wurde kein Tatverdächtiger geschnappt. Ist vielleicht doch Zufall, dass ausgerechnet Au-pairs sterben mussten.“

Plötzlich grinste Leah. „Außer du kannst beweisen, dass Iva die Killer Queen ist, die Mädchen mordend durch die Upper East Side streift und im Blut ihrer Opfer badet, um ihre Schönheit und Jugend auf ewig zu bewahren und die Konkurrenz auszumerzen. Vielleicht musste Agnès zum Aderlass, bevor sie aus dem 46. Stock gestoßen wurde.“

„Bah, wie eklig! Du bist so doof!“ Mila boxte Leah gegen die Schulter. „Du liest definitiv zu viele Romane.“

„Schön wär’s! Stattdessen lese ich Kinderbücher von glücklichen Schweinchen und unartigen Entchen … Hey, Jasmin, da ist ja mein Schatz!“ Leah begrüßte das Mädchen, das auf sie zurannte.

Fröhlich rief Jasmin: „Ich hab keine Hausaufgaben! Gehen wir in den Zoo?“

Leah warf Mila einen Seitenblick zu und seufzte. „Zoo? Na ja, besser als Barbie und Ken.“

„Darf Trevor am Samstagnachmittag zu meiner Geburtstagsparty kommen und später bei mir übernachten?“, wandte Jasmin sich an Mila.

„Sicher“, stimmte Mila zu. „Wo steckt er überhaupt?“

„Weiß nicht.“ Das kleine Mädchen zuckte mit den Schultern und rief im nächsten Moment wieder laut: „Zoo!“

„Wir sehen uns“, meinte Leah zu Mila und nahm Jasmin an die Hand. „Ach, und was Jasmins Geburtstag angeht: Du musst Trevor nur vorbeibringen. Mrs Ducane und ich kümmern uns um die Kleinen.“

„Na dann viel Spaß!“, meinte Mila mitleidig.

„Ich darf gar nicht dran denken. Lauter kreischende, herumwuselnde Kinder.“ Leah seufzte. „Halt mich auf dem Laufenden, was Agnès und vor allem Raf und Seb angeht.“

„Mach ich!“ Mila grinste und winkte ihrer Freundin zum Abschied zu. Dann wandte sie sich wieder dem Schuleingang zu. Wo blieb Trevor? Es sah ihm gar nicht ähnlich zu trödeln. Im gleichen Moment verließ er das Gebäude. Als er sie zwischen den Eltern und Kindern nicht sofort sah, bekam sein Gesicht einen panischen Ausdruck.

„Trevor! Hier bin ich!“ Mila eilte auf ihn zu.

Als er sie sah, lächelte er erleichtert und lief ihr entgegen. Als sie sich trafen, schlang er beide Arme um ihre Beine und murmelte: „Ich hatte Angst, du wärst für immer weggegangen.“

Mila kniete sich vor ihn und drückte ihn an sich. „Das würde ich doch nie tun. Und wenn ich wegmüsste, würde ich dir vorher Bescheid sagen.“

„Oder mich mitnehmen, ja?“

„Sicher.“ Mila strich über seinen Blondschopf und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. Seit Agnès’ Tod war der Junge verändert. Das bildete sie sich nicht ein. „Wie kommt es, dass du heute nicht als Erster rausgerannt bist? Musstest du nachsitzen?“

„Ich doch nicht!“ Er sah sie erstaunt an. „Ich mach keinen Blödsinn.“

Mila lachte. „Stimmt. Wie konnte ich so was nur annehmen.“

„Ich musste nachdenken“, sagte Trevor.

„Worüber?“ Mila nahm seine Hand und schlenderte mit ihm vom Schulgelände auf die 75th Street Richtung Park Avenue.

„Ist geheim.“

„Aber deiner Nanny kannst du dein Geheimnis doch anvertrauen. Ich schwöre, dass ich es niemandem verrate.“

Trevor blieb stehen und musterte sie ernst. „Wenn ich es dir sage, kann ich nicht mehr für deine Sicherheit garantieren.“

Mila blieb auch stehen und sah den Jungen in einer Mischung aus Erstaunen und Sorge an. Was hatte Seb seinem Bruder erzählt, dass der Kleine sich so seltsam benahm? Hatte Trevor etwas nicht verkraftet? Oder lag sie völlig falsch, und er durchlief nur eine der vielen kindlichen Phasen?

„Ich bin nämlich als Geheimagent in verdeckter Mission unterwegs und kann keine hilflosen Frauen bei meiner Spionagetätigkeit gebrauchen“, verkündete Trevor und grinste Mila schief an.

„Dann ist dein Geheimnis Teil eines Spiels?“, hakte Mila nach.

„Klar. Aber das Spiel dürfen nur Jungs spielen.“ Er hüpfte nun fröhlich neben ihr her. „Das kannst du auch bei 007 sehen. Er ist mein Lieblingsagent. Und ich sag dir auch, warum …“

Mila atmete erleichtert auf. Sie musste sich nicht den Kopf zerbrechen. Trevor ging es gut. Seine Fantasie ging nur mal wieder mit ihm durch.

Lächelnd lauschte sie Trevors Ausführungen darüber, welcher James Bond der beste war, und wunderte sich, wieso der Knirps auf den Agenten abfuhr. Vielleicht hatte er mit seinen großen Geschwistern zu viele Erwachsenenfilme gesehen. Ob sie deswegen mit Seb sprechen sollte? Ach Quatsch!

Sie genoss lieber den herrlichen Frühlingstag und dachte daran, dass ihr zum vollständigen Glück nur noch ein Freund fehlte. Sie sehnte sich nach der großen Liebe, wie sie in Hollywood-Schmachtfetzen zelebriert wurde, und hatte gehofft, Rafael oder Sebastian würden den männlichen Part in ihrem persönlichen Liebesfilm spielen. Aber nach ihren Erfahrungen vom Wochenende hatte sie den Eindruck gewonnen, dass Seb statt einer Beziehung den fliegenden Wechsel seiner Mädchen bevorzugte und Raf fest in Ivas Fängen hing, auch wenn er sie mit anderen Jungs teilen musste.

Mila seufzte. Ihre Gedanken an Seb und Raf bereiteten ihr schlechte Laune und brachten die Ernüchterung zurück, die sie nach der Party gefühlt hatte. Vielleicht verrannte sie sich in etwas, wenn sie sich unbedingt einen Jetset-Typen zum Freund wünschte. Denn allem Anschein nach spielte sie nicht in deren Liga. Vielleicht sollte sie sich einfach woanders umsehen. Zwischen den Dorftrampeln in Yellowknife und den New Yorker Schnöseln lagen schließlich Welten – und in einer davon lebte hoffentlich ihr Traumprinz.

Plötzlich berührte sie jemand an der Schulter. Erschrocken fuhr Mila fuhr herum und blickte in Tylers Gesicht. Er radelte auf seinem Mountainbike neben ihr her.

„Hi. Ist deine Frühschicht zu Ende?“, fragte Mila. Sie hatte ihn am Morgen am Empfang gesehen, als sie mit Trevor das Haus verlassen hatte und gerade ein Paket angeliefert worden war. Seit der verhängnisvollen Party hatten sie keine Gelegenheit gehabt, sich zu unterhalten. Dabei wollte Mila zu gern hören, was Tyler über Agnès’ Tod dachte.

„Ja, für heute ist Schluss mit Arbeiten“, antwortete Ty. „Ich bin auf dem Heimweg. Als ich euch um die Ecke biegen sah, bin ich noch mal zurückgeradelt, um Hallo zu sagen. Ähm … also: Hallo.“ Er räusperte sich verlegen und zögerte. Zweifellos war er unentschlossen, ob er es bei dem Gruß belassen und weiterfahren oder sie begleiten sollte.

„Hallo … hallo … hallo“, äffte Trevor ihn nach und machte die befangene Situation nicht einfacher.

„Gehst du ein Stück mit uns?“, überbrückte Mila das peinliche Schweigen.

„Gern.“ Tyler stieg von seinem Fahrrad ab und lief neben ihr und Trevor her.

Mila lächelte verstohlen. Es schmeichelte ihr, dass Tyler in ihrer Gegenwart nervös war. Sie fand seine Unsicherheit richtig süß und wunderte sich, wo der forsche Ty von ihrem ersten Tag in New York geblieben war. Allerdings pochte ihr Herz bei seinem Anblick auch schneller. Denn ohne Barkeeper-Schürze oder alberne Portiersuniform sah Tyler völlig verändert aus. Er trug lässige Jeans und ein hippes Shirt. Auf dem Fahrrad wirkte er wie ein New Yorker Szene-Typ aus einem Trendmagazin.

„Stehen noch Reporter vor unserem Haus?“, fragte Mila, nur um irgendwas zu sagen.

„Ja“, antwortete Ty einsilbig. Er schien mit den Gedanken woanders zu sein.

„Hast du schon was Neues zu Agnès gehört?“, hakte Mila nach. Aus Neugier und weil sie Angst hatte, dass wieder Stille zwischen ihnen herrschte.

„Nein. Und ich wäre auch bestimmt eine der letzten Personen, die darüber was erfährt“, blockte er ein Gespräch über den Vorfall ab.

Mila schwieg und starrte geradeaus auf die Straße. Was hatte sie nur geritten, über eine Tote sprechen zu wollen?

Trevor lief ein Stück vor, um einen Schmetterling zu betrachten, der sich aus dem Central Park in die Park Avenue verirrt hatte. Tyler nutzte die Gelegenheit und fragte, solange der Kleine noch außer Hörweite war: „Wie läuft es zwischen dir und den Fontaines?“

„Ganz gut. Na ja, Iva mag mich nicht. Aber Seb ist okay. Und Trevor ist ein Schatz.“

„Hm“, antwortete Ty knapp und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: „Ich hatte auf der Party auch den Eindruck, dass du dich gut mit Sebastian und seinem Kumpel Rafael verstehst.“

Mila warf ihm einen schnellen Seitenblick zu. Hatte Kritik in seinen Worten mitgeschwungen? Schwer zu sagen. Jedenfalls wollte sie nicht, dass er sie für ein Groupie reicher Jungs hielt. „Die beiden sind nett, aber völlig anders, als ich gedacht habe.“

Tyler blickte sie überrascht an und lächelte verhalten. „Hm“, meinte er erneut und fragte dann unerwartet: „Magst du italienisches Essen?“

„Sehr. Wieso?“

„Weil ich dich dann am Samstag ins ‚Maggiano‘ einladen würde. Das ist die traditionsreichste Pizzeria New Yorks. Vorausgesetzt natürlich, du bekommst frei. Wenn ja, gehen wir nach dem Essen noch in einen Klub. Ich weiß schon in welchen, aber das bleibt eine Überraschung … Ich frage kein drittes Mal, ob du mit mir ausgehst.“

Er sagte es scherzhaft, aber Mila wusste, dass er es ernst meinte. Und warum sollte sie auch nicht mit ihm ausgehen? Lächelnd erwiderte sie: „Ich bin dabei! Ich hab Samstagabend frei. Trevor übernachtet bei einer Schulfreundin. Was hältst du von halb acht?“

„Perfekt!“ Tyler lachte breit. „Punkt halb acht klingle ich bei den Fontaines.“ Er blieb mit seinem Fahrrad stehen. „Also dann. Ich muss in die andere Richtung. Wir sehen uns spätestens Samstag.“ Er machte Anstalten, Mila auf die Wange zu küssen, merkte aber, dass ein Kuss zu diesem Zeitpunkt noch unangebracht war, und wandte sich wieder ab.

Mila grinste verschmitzt. Wie unsagbar niedlich!

„Also dann bis Samstag!“, wiederholte er und schwang sich auf sein Rad. „Mach’s gut, Trevor.“

„Mach’s besser!“, konterte der Kleine, der das Interesse an dem Schmetterling verloren hatte und Milas Hand ergriff.

Mila und Tyler lachten über Trevors Schlagfertigkeit und sahen sich dabei in die Augen. Und für den Bruchteil einer Sekunde funkte es zwischen ihnen. Doch dann sah Mila weg und war sicher, sich das Knistern zwischen ihnen nur eingebildet zu haben. Als sie Tyler wieder anschaute, winkte er ihnen zu und radelte davon.

Mila und Trevor setzten ihren Weg fort, um vor der Park Avenue 806 in eine Meute Medienleute zu rennen. Die Reporter erkannten Trevor, stürzten sich auf ihn und bombardierten das Kind und sein Au-pair mit Fragen zu der Toten.

„In welcher Beziehung stand Agnès Legrand zu den Fontaines?“

„War sie Sebastian Fontaines Freundin?“

„Trevor, war Agnès mal deine Nanny?“

Mila schirmte den Jungen, so gut sie konnte, ab und ignorierte die Fragen der Reporter. Felix, der Portier der Tagesschicht, kam ihr zu Hilfe, verscheuchte die Meute und brachte sie und den Kleinen sicher ins Gebäude.

„Puh! Die nerven. Vielen Dank, Felix“, meinte Mila und trat mit Trevor in die Aufzugskabine. Die Fahrstuhltür schloss sich gerade, als eine Hand zwischen Metall und Lichtschranke glitt, sodass sie sich wieder öffnete.

Rafael stand vor ihr.

„Ich wette, morgen ist dein Bild in der Zeitung, und die Presseaasgeier haben dich entweder zu Sebs’ Geliebten oder zu Agnès’ Schwester gemacht“, meinte er grinsend, stellte sich neben sie und drückte die Taste für den 46. Stock.

„Ich hoffe nicht“, erwiderte Mila einsilbig. Es war das erste Mal, dass sie Rafael seit dem tragischen Zwischenfall begegnete. Und sie hatte keine Lust, der biestigen Fontaine in die Quere zu kommen. Außerdem wollte sie bei Rafael nicht den Eindruck erwecken, sie könnte sein Mädchen für zwischendurch sein. Schweigend standen sie nebeneinander. Mila zählte jedes Stockwerk und tat, als bemerkte sie nicht, dass Raf sie unverwandt ansah.

Plötzlich beugte er sich zu den Schaltknöpfen vor und drückte auf Stopp. Der Aufzug hielt mit einem Ruck an.

„Warum hast du das gemacht?“, wollte Trevor wissen.

Statt zu antworten, legte Rafael seinen Finger an die Lippen. „Pst!“ Dann hielt er Trevor die Ohren zu. „Ich habe nicht mit Iva geschlafen“, sagte er zu Mila.

Mila zuckte zusammen. „Das geht mich gar nichts an“, beeilte sie sich zu sagen, musste aber feststellen, dass sie sich über sein Geständnis sehr freute. Falls es denn stimmte.

„Tu nicht so gleichgültig. Ich habe deinen Blick gesehen, als ich nach der Party aus Ivas Schlafzimmer gekommen bin. Ich hatte mich kurz hingelegt. Ich war geschafft vom Feiern.“

„Du wohnst im Apartment gegenüber. Wieso bist du nicht zu dir gegangen?“, hakte Mila misstrauisch nach.

„Weil ich nach einem Nickerchen weiterfeiern wollte. Aber ich bin tief und fest eingeschlafen. Außerdem sieht es bei mir aus wie Sau! Es ist so unordentlich, dass ich schon völlig genervt bin. Doch ich bin zu faul, um endlich aufzuräumen. Und ich habe keine Putzfrau.“

„Ich will mithören!“, beschwerte sich Trevor.

Aber Rafael schüttelte den Kopf und hielt ihm weiter die Ohren zu. „Iva und ich …“

„Du bist mir keine Rechtfertigung schuldig“, unterbrach ihn Mila. Sie fühlte sich in die Rolle der zickigen Verehrerin gedrängt, die ihren Schwarm mit unangebrachten Forderungen nervte, und der Part gefiel ihr nicht. Sie wollte dafür sorgen, dass der Lift weiterfuhr, aber Raf hielt ihre Hand fest.

„Das ist richtig“, erwiderte er. „Ich muss mich nicht vor dir rechtfertigen. Aber ich möchte dir die Sache zwischen Iva und mir erklären.“

„Warum?“

„Was denkst du denn?“ Er sah ihr tief in die Augen. Prompt wurde Mila rot. Ihr Herz raste. Offenbar hatte Rafael doch Interesse an ihr! Warum sonst sollte er ihr all das erzählen?

„Iva und ich waren als Teenager zwei Jahre ein Paar. Das ist jetzt schon ganz schön lange her. Aber wenn sie was getrunken hat, wird sie … wie soll ich es sagen … rollig?“

Mila lachte auf. Iva wäre sicher sauer, wenn sie wüsste, dass Rafael sie mit einer Katze verglich.

„Na ja, und da muss ich schon mal herhalten“, fuhr er fort. „Aber mehr als Küssen läuft nicht.“

„Du musst es ja nicht tun.“

„Stimmt. Aber sie küsst gut. Und es macht Spaß. Und es bedeutet nichts. Das wissen wir beide.“

„Bist du sicher? So wie sie Agnès angegiftet hat, als sie mit dir tanzen wollte …“

„Du hast ja wirklich alles mitbekommen“, meinte Rafael grinsend. „Du hast mich also beobachtet.“

„Nein“, log Mila und spürte zu ihrem Ärger, dass sie noch röter wurde.

Raf grinste amüsiert. „Iva wird nicht nur scharf, wenn sie betrunken ist, sondern auch sehr besitzergreifend. Und da sie eh stutenbissig ist, zickt sie dann völlig rum.“

„Aber Iva und Nick …“

„… hatten Sex im Jacuzzi“, vollendete Rafael ihren Satz.

„Und anschließend im Schlafzimmer“, fügte Mila hinzu.

„Wirklich? Na ja, überraschen würde es mich nicht.“

„Ich nahm an, du wärst dabei gewesen.“

„Was? Als Zuschauer oder Teilnehmer?“

Mila zuckte die Achseln. Rafael lachte.

„Nein, nein, nein. Das ist nicht mein Ding. Ich dachte, das hätte ich dir schon verklickert. Na ja, offensichtlich traust du uns reichen Jungs wirklich alles zu.“ Er grinste. „Ich muss dich enttäuschen. Wir sind nicht so dekadent, wie du denkst.“

Milas Gesicht schien inzwischen zu glühen. Sie fühlte sich übel ertappt.

„Ich bin mit den beiden gegangen, um mein Hemd und meine Schuhe aus Ivas Schlafzimmer zu holen. Danach habe ich mich in Sebs Zimmer angezogen und ein bisschen frisch gemacht. Bis er gekommen ist und gesagt hat, dass die Cops mit uns allen sprechen wollten.“

Betroffen senkte sie den Blick. „Entschuldige. Das Ganze ist mir ziemlich peinlich.“

„Muss es nicht. Aber ich weiß, wie du es wiedergutmachen kannst.“ Rafael nahm seine Hände von Trevors Ohren und legte sie an Milas Wangen. Im nächsten Moment zog er sie an sich und küsste sie auf den Mund. Ihre Zungen berührten sich. Er biss ihr ganz leicht in die Unterlippe, und Mila lief ein wohliger Schauer der Begierde über den Rücken.

„Wieso küsst ihr euch?“, forschte Trevor nach. „Worüber habt ihr gesprochen?“

Mila hatte den Kleinen im Aufruhr ihrer Gefühle ganz vergessen. Da sie es als unhöflich empfand, vor dem Kind herumzuknutschen, löste sie sich schnell, wenn auch widerwillig von Rafael. Dann wandte sie sich an Trevor. „Du willst wissen, warum wir tun, was wir tun? Na, du bist doch Geheimagent.“ Sie lächelte ihn an. „Finde es heraus!“

Rafael lachte über ihre Antwort, während Trevor genervt die Stirn runzelte.

„Ihr seid blöd!“, rief er und schmollte.

„Sag mal, hast du Lust, am Wochenende mit mir auszugehen?“, fragte Raf sie dann.

„Wohin?“

„Ich habe VIP-Tickets für das ‚Kiss & Fly‘.“

„Noch nie davon gehört.“

„Das ist ein neuer Klub und gilt als das Heißeste, was die New Yorker Szene derzeit zu bieten hat. Soll im Stil eines antiken römischen Badehauses gehalten sein. Und eine Kopie von Michelangelos Deckengemälde aus der Sixtinischen Kapelle ziert angeblich die Kuppel. Derber Stil-Mix. Aber absolut angesagt. Sie haben eine harte Tür, und es ist schier unmöglich reinzukommen. Und ich habe Karten.“ Er grinste breit.

„Ich komme gerne mit.“ Milas Herz machte einen Satz.

„Super! Ich freue mich.“ Rafael lächelte. „Ich hole dich Samstagabend ab. Ich würde sagen, so gegen …“

„Samstag?!“ Mila erstarrte. „Oh Mist! Da hab ich schon was vor.“

„Kein Problem. Wenn’s eine hübsche Freundin ist, bring sie mit. Ich habe sechs Karten.“

„Es ist keine Freundin.“

Rafael sah sie erstaunt an. „Ach so“, sagte er gedehnt.

„Nicht: Ach so! Es ist anders, als es klingt“, begann Mila sich zu rechtfertigen, weil sie nicht den Eindruck erwecken wollte, sie wäre wie Iva und wechselte die Jungs wie ihre Unterwäsche.

Sie bereute, sich mit Tyler verabredet zu haben. So nett er auch war und so gut er aussah – er hätte zu der alten Mila gepasst, nicht zu der neuen. Sie wollte doch ein ganz neues Leben in New York beginnen, nicht mehr in den früheren Verhaltensmustern verhaftet bleiben und endlich einen richtig tollen Typen an ihrer Seite haben. Und das ging nun mal eher mit jemandem wie Rafael als mit Tyler.

„Sag ihm ab“, meinte Rafael.

„Bitte?“

„Erfinde eine Ausrede, verabrede dich zu einem anderen Zeitpunkt mit ihm und geh mit mir aus.“

„Das kann ich nicht machen.“ Mila dachte an Tylers strahlendes Lächeln, als sie ihrem Date zugestimmt hatte. Sie mochte ihn nicht enttäuschen und schon gar nicht anlügen. Das hatte er nicht verdient.

„Ist schon in Ordnung. Wir gehen ein anderes Mal aus.“ Rafael lächelte, aber er wirkte enttäuscht.

„Nein, warte! Ich möchte unbedingt mit dir ins ‚Kiss & Fly‘. Ehrlich! Aber ich habe halt auch … Verpflichtungen. Ähm … wann würdest du denn in den Klub gehen?“

„Vor Mitternacht ist nichts los. Ich dachte, wir starten kurz nach zwölf. Dann sind wir gegen ein Uhr da. Die beste Zeit, um zu feiern.“

Mila lächelte. Sie konnte beide Dates wahrnehmen. Sie würde mit Tyler essen gehen und behaupten, Trevor würde nicht bei Jasmin übernachten, sondern früher zurückgebracht werden, sodass sie spätestens um Mitternacht zu Hause sein müsste. Dann würde sie mit Raf loszuziehen.

„Alles klar. Wir treffen uns um zwölf!“, sagte sie.

„Klasse!“ Rafael lachte. „Ach ja … und du kannst gerne eine Freundin mitbringen, aber keinen Kerl. Okay? Ich bringe auch noch wen mit.“

Mila nickte und ertappte sich dabei, dass sie sich fragte, ob Raf eine weitere Frau einlud, um ihr eins auswischen, weil sie einen anderen Jungen sah.

„Versteh mich nicht falsch“, sagte Raf und legte die Hand unter ihr Kinn, damit sie ihm in die Augen schaute. „Wir haben ein Date. Es wäre nur schade, die anderen Tickets verfallen zu lassen.“

„Alles klar.“ Mila lächelte verlegen. War sie so leicht zu durchschauen?

„Bis Samstag. Ich hole dich um Mitternacht ab.“