7. KAPITEL

„Willst du mir mein Geschäft kaputt machen, Mila? Oder warum rufst du mich an und stellst mir Fragen über Nelly Conolly, Enie und June?“ Ruby klang ziemlich sauer. „Die Polizei hat mich wegen der Fälle schon gelöchert. Und ihnen habe ich dasselbe gesagt wie dir: Ich habe keinen blassen Schimmer, wieso ausgerechnet meine Au-pairs Opfer eines Killers wurden. Die Morde sind sehr rufschädigend für Nanny Inc. Es melden sich 30 Prozent weniger Interessentinnen für eine Vermittlung. Wenn das so weitergeht, bin ich bald pleite. Also lass die Schnüffelei! Ich lege jetzt auf.“

„Nein, warte! Kannst du mir wirklich nicht sagen, wo Nelly ist?“

Ruby atmete hörbar ein. „Wenn ich dir sage, was ich weiß, lässt du mich dann in Ruhe und nervst nicht mehr?“

„Ja.“

„Und keine Polizei!“

„Versprochen.“

„Also gut! Nachdem Enie und June ermordet worden sind, hat Nelly ständig bei mir angerufen und Telefonterror gemacht. Sie wollte, dass ich ihr eine neue Familie besorge.“

„Dann hatte sie einen Fontaine in Verdacht?“

„Das hat sie nicht gesagt. Und ich rate dir, solche Gedanken für dich zu behalten. Die Fontaines sind reich und mächtig, mit denen legt man sich besser nicht an. Nelly hatte das begriffen und deshalb die Klappe gehalten. Aber sie hatte Angst. Das war unüberhörbar. Ich hatte ihr angeboten, mit Mr oder Mrs Fontaine zu sprechen, weil ich annahm, Nelly hätte Streit mit Iva. Zwischen den beiden hat es von Anfang an Reibereien gegeben. Aber Nelly hat mich geradezu angefleht, mit keinem Fontaine zu reden.“

„Also wollte sie nur schnellstmöglich fort?“

„So ist es.“

„Und sie hat wirklich keinen Grund genannt?“

„Nein. Ich habe ihr dann eine neue Familie gesucht und mich gleichzeitig nach jemand Neuem für die Fontaines umgesehen. Als ich eine andere Stelle für Nelly hatte, war sie jedoch nicht mehr unter ihrer Handynummer zu erreichen. Und dann rief mich Mrs Fontaine an, um mir mitzuteilen, dass Nelly über Nacht verschwunden ist.“

„Und das hat dich nicht gewundert? Wieso hast du nicht die Polizei angerufen? Insbesondere, da bereits zwei ihrer Freundinnen ermordet wurden?“

„Ich hab dir doch schon gesagt, dass ich genug Ärger wegen der toten Au-pairs hatte und habe. Da fehlte mir ein durchgeknalltes Huhn wie Nelly gerade noch. Ehrlich gesagt, war ich froh, dass sich mein Problem mit ihr in Luft aufgelöst hatte und sie nicht als Leiche wieder aufgetaucht, sondern einfach weg ist.“

„Du konntest sie nicht leiden?“

„Würde ich so nicht behaupten. Sie ist Waise und hat’s nie leicht gehabt. Ich wollte ihr mit dem Au-pair-Job helfen. Aber ich hatte schon bald von anderen Au-pairs gehört, dass Nelly – vor ihrem Stress mit den Fontaines – mit deren Jetset-Clique gefeiert hat und dadurch unausstehlich und arrogant geworden ist. So was gefällt mir nicht. Ich rate meinen Mädchen stets, nicht zu vergessen, dass sie Angestellte ihrer Gastfamilien sind. Sobald sie nämlich glauben, wie die älteren Kinder zu sein, fangen die Probleme in den Gastfamilien an. Und das endet immer schlecht für die Mädchen.“

„Dann hatte Nelly Probleme mit den Fontainegeschwistern, vornehmlich mit Iva, und ist untergetaucht?“, fasste Mila zusammen.

„Davon gehe ich aus“, erwiderte Ruby. „Hast du auch Probleme mit den Fontaines? Muss ich mir Sorgen um dich machen?“

„Äh … nein. Iva ist wirklich nicht sonderlich nett. Aber es ist alles in Ordnung.“

„Na, dann glaube ich das mal. Wir sprechen uns, wenn sich dein Aufenthaltsjahr dem Ende zuneigt. Ach, bevor ich es vergesse … Kennst du einen Tyler Smith?“

„Ja, warum?“

„Ist er einer aus der Fontaineclique?“

„Nein. Er arbeitet als Portier in der Park Avenue 806.“

„Aha. Na ja, er hat heute Morgen bei mir angerufen und nach Nellys neuer Adresse gefragt.“

„Hat er früher schon mal angerufen?“

„Nein. Ich hätte mich an seinen Namen erinnert. Jungs rufen selten bei einer Au-pair-Vermittlung an.“

„Und was hast du ihm gesagt?“

„Das Gleiche, das ich dir gesagt habe: dass es keine neue Adresse gibt, weil sie verschwunden ist.“

„Wollte er noch was wissen?“

„Nein.“

„Okay. Danke, Ruby.“

„Schon gut. Also, pass auf dich auf. Und es tut mir wirklich leid, was passiert ist. Aber ich bin froh, dass das aktuelle Opfer nicht von meiner Agentur vermittelt wurde. Vielleicht ist das, so bitter es klingt, ein gutes Omen für mein Geschäft.“

„Wer weiß“, erwiderte Mila. Das Klicken in der Leitung verriet ihr, dass Ruby bereits aufgelegt hatte.

Mila legte ihr Handy beiseite und dachte über das Gespräch nach. Anscheinend hatten sich Nellys Probleme auf die Fontaines konzentriert. Was aber nicht bedeutete, dass Ty unschuldig war. Und es war höchst seltsam, dass er bei Nanny Inc. anrief. Warum jetzt?

Ich könnte ihn fragen, dachte Mila. Und das, ohne ein Risiko einzugehen. Ty hat heute die Tagesschicht. Und in unserem Gebäude gehen dauernd Leute ein und aus. Er würde es nicht wagen, mich anzugreifen – falls er der Mädchenmörder ist.

Nachdenklich sah sie auf die Uhr. Sie musste Trevor erst in zwei Stunden von der Schule abholen.

Also gut. Dann jetzt!

Sie verließ das Penthouse und fuhr mit dem Aufzug ins Erdgeschoss. Mit jeder Etage, die sie sich der Empfangshalle näherte, schlug ihr Herz heftiger. Seit dem „Kiss & Fly“ und Tys Ausraster vor dem Aufzug würden sie einander gleich zum ersten Mal wieder gegenüberstehen. Wie würde das Gespräch verlaufen? Würde er überhaupt mit ihr sprechen? Flögen Anschuldigungen hin und her, weil sie ihn verletzt hatte? Wie reagierte er, wenn sie von seinem Telefonat mit Ruby anfing?

Mir ist schlecht, dachte sie und wäre am liebsten ins Penthouse zurückgefahren. Aber da öffnete sich die Aufzugtür schon. Mila gab sich einen Ruck. Sie würde nicht kneifen. Sie atmete tief durch, versuchte ein entspannt-freundliches Lächeln aufzusetzen und marschierte zügig zum Empfangstresen. „Ty… Oh, hallo Felix. Arbeitet Tyler heute nicht?“

„Nein, ich habe seine Schicht übernommen.“

„Wann steht er denn im Plan?“

„Gar nicht mehr. Seine Schichten wurden ersatzlos gestrichen. Er kommt nicht wieder.“

„Was?“ Milas starrte Felix ungläubig an. „Wieso das denn?“

„Wieso wohl? Du warst dabei. Sebastian Fontaine hat sich über Tyler beschwert. Und anschließend ist Ty mit sofortiger Wirkung entlassen worden.“

„Oh nein.“ Mila fühlte sich für seine Entlassung verantwortlich. Gleichzeitig wunderte sie sich darüber, dass Seb ihr gegenüber von einer Beschwerde nichts erwähnt hatte. „Tja dann … Danke für die Info. Dann werde ich Ty anrufen.“

„Viel Glück.“

„Wieso?“

„Haben die Polizisten auch schon versucht. Ty geht nicht an sein Handy und ist auch nicht in seiner Wohnung. Dieser Officer Steele hat mich heute schon richtig genervt, dass ich ihm Bescheid geben soll, falls Ty hier auftaucht. Ursprünglich ging es Steele nur um eine Routinebefragung wegen der Ermordung deiner Freundin. Aber nun, da Tyler untergetaucht ist, verdächtigen ihn die Cops, was mit ihrem Tod zu tun zu haben. Sie haben mich auch nach den anderen toten Au-pairs gefragt. Ich hab ihnen gesagt, was ich weiß. Dass die Mädchen öfter vorbeikamen.“

„Haben die Officer denn Beweise?“ Mila starrte Felix mit offenem Mund an. Mit der Entwicklung hatte sie nicht gerechnet.

Felix zuckte mit den Achseln. „Denkst du, die Cops verraten mir, was abgeht? Ich glaube, dass Ty untergetaucht ist, macht ihn verdächtig. Und dass er die toten Au-pairs kannte, macht es nicht besser. Außerdem ist er nach eurer Auseinandersetzung ziemlich sauer hier rausgerannt. Leider in die Richtung, in die auch deine Freundin gegangen ist. Ich konnte das von meinem Empfangstisch aus sehen und hab das der Polizei gegenüber natürlich nicht verschwiegen. Aber ich habe ihnen auch gesagt, dass ich glaube, Ty ist unschuldig. Ich mag ihn. Ich hab mich immer gut mit ihm verstanden. Er sieht nicht aus wie ein Mädchenmörder.“

„Ach, Felix, wer sieht schon aus wie ein Mörder?“

„Auch wieder richtig. Na ja, jetzt brauchen wir einen neuen Kollegen. Aber erst mal habe ich Tys Schichten. Die Kohle kann ich gut gebrauchen.“

„Ich verstehe …“, murmelte Mila. „Noch mal danke für die Info.“

„Ja, ja …“

Sie ging zurück zum Aufzug und fuhr wieder in den 46. Stock. Als sie durch den Flur zum Penthouse ging, rief sie Ty auf seinem Handy an. Doch sie erreichte nur die Mailbox. Ohne eine Nachricht zu hinterlassen, beendete Mila die Verbindung und grübelte. Tyler suchte Nelly, und er war untergetaucht. Das konnte nur bedeuten: Er wollte das Mädchen umbringen, weil sie wusste, dass er ihre Freundinnen ermordet hatte.

Ich muss Nelly finden, bevor er es tut.

„Mila! So besorgt, was ist los?“ Rafael schlenderte von seiner Flurhälfte zu ihr herüber und nahm sie in den Arm. „Ich hab schon zweimal deinen Namen gerufen. Und du hast mich nicht gehört.“

„Entschuldige. Ich … denke immer wieder an Leah.“

„Armer Schatz!“ Raf legte einen Arm um ihre Taille und küsste Mila hinters Ohrläppchen. „Ich werde dich auf andere Gedanken bringen“, raunte er, strich mit der Hand unter ihr Oberteil und streichelte ihre Brüste. „Wir können da weitermachen, wo wie beim letzten Mal aufgehört haben.“

„Ich kann nicht.“ Sie schob seine Hand weg. „Ich muss Trevor von der Schule abholen.“

„Ach komm, es ist erst Mittag. Vor zwei Uhr ist kein Schulschluss … und Seb und Iva sind in den Hamptons.“ Er unternahm einen zweiten Versuch, ihr Oberteil anzuheben.

Da schlug sie ihm auf die Finger. „Ich hab Nein gesagt!“

„Hey, ist ja gut. Was ist denn in dich gefahren?“ Er verschränkte die Arme vor der Brust.

„Es tut mir leid“, lenkte Mila ein. „Aber ich kann keinen Sex haben, wenn ich ständig an meine tote Freundin denken muss.“

„Ich versteh schon“, meinte Rafael, aber sein Gesicht sagte das Gegenteil. „Ich lass dich in Ruhe. Und du gibst mir Bescheid, wenn du wieder besser drauf bist.“ Er wandte sich beleidigt ab und ging zurück zu seinem Apartment. Dann drehte er sich noch einmal um. „Das wird schon wieder. Glaub mir. Die Polizei findet den Killer … Und ich geh joggen, sonst falle ich doch noch über dich her.“

Er grinste sie an – wieder ganz der Alte.