14
Theo war natürlich nicht direkt aus dem Common Grounds gekommen; er war zu einem der offenen Portale gebracht - er wusste nicht, wo - und von Bishop gezwungen worden hindurchzugehen. »Nein«, sagte er und hielt Michael auf, der versuchte, näher zu kommen. »Nein, nicht du. Er will nur Amelie und das Buch und ich möchte nicht, dass noch mehr unnötiges Blut vergossen wird, weder deines noch meines. Bitte, Myrnin, ich weiß, dass du sie finden kannst. Du hast die Blutsbande, ich nicht. Bitte finde sie und bring sie hierher. Das ist nicht unser Kampf. Sie sind verwandt - Vater und Tochter. Sie sollten das beenden, von Angesicht zu Angesicht.«
Myrnin starrte ihn für einen sehr langen Moment an, dann legte er den Kopf zur Seite. »Du verlangst von mir, dass ich sie verrate«, sagte er. »An ihren Vater ausliefere.«
»Nein, nein das würde ich nicht verlangen. Ich möchte nur... sie soll nur wissen, wie hoch der Preis ist. Amelie wird kommen. Ich weiß, dass sie kommen wird.«
»Wird sie nicht«, sagte Myrnin. »Ich werde es nicht zulassen.«
Theo schrie vor Kummer auf und Claire biss sich auf die Lippen. »Können Sie ihm nicht helfen?«, fragte sie. »Es muss doch eine Lösung geben!«
»Oh, es gibt eine«, sagte Myrnin. »Es gibt eine. Aber die wird dir nicht gefallen, kleine Claire. Sie ist nicht schön und sie ist nicht einfach. Und sie wird dir wieder einmal eine beträchtliche Mut abverlangen.«
»Ich mach es!«
»Nein, wirst du nicht«, sagten Shane und Michael wie aus einem Munde. Shane fuhr fort: »Du bist doch noch kaum wieder auf den Beinen, Claire. Du gehst nirgendwohin, zumindest nicht ohne mich.«
»Und mich«, sagte Michael.
»Zur Hölle«, seufzte Eve. »Ich nehme an, das heißt, ich muss auch mitkommen. Das werde ich dir nie verzeihen, selbst dann nicht, wenn ich nicht auf entsetzliche Art zu Tode komme.«
Myrnin starrte sie reihum an. »Ihr würdet gehen. Ihr alle.« Seine Lippen verzogen sich zu einem wahnsinnigen Gummipuppenlächeln. »Ihr seid die besten Spielzeuge, die es gibt, wisst ihr das? Ich kann mir gar nicht ausmalen, wie viel Spaß es machen wird, mit euch zu spielen.«
Schweigen. Dann sagte Eve: »Okay, das war jetzt extra gruselig, mit einem Klecks Extra-Grusel obendrauf. Und ich habe meine Meinung geändert.«
Das Entzücken wich aus Myrnins Gesicht und wurde durch eine Art verzweifelter Verlorenheit ersetzt, die Claire nur allzu gut kannte. »Es kommt, Claire. Es kommt, fürchte ich. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich kann es fühlen.«
Sie ergriff seine Hand. »Ich weiß. Bitte, versuchen Sie es. Wir brauchen Sie jetzt. Können Sie durchhalten?«
Er nickte, aber es war eher eine krampfartige Reaktion als eine Bestätigung. »In der Schublade bei den Schädeln«, sagte er. »Eine letzte Dosis. Ich habe sie versteckt. Und vergessen.«
Das sah ihm ähnlich; er versteckte etwas und erinnerte sich in den seltsamsten Momenten wieder daran - oder nie mehr. Claire stürzte in die andere Ecke des Raumes, wo Richard schlief, und öffnete eine Schublade nach der anderen unter einer Reihe von Totenköpfen, die er an die Wand genagelt hatte. Er hatte ihr versichert, dass es sich dabei ausschließlich um klinische Proben und nicht um Gewaltopfer handelte. Sie glaubte ihm trotzdem nicht ganz.
In der letzten Schublade fand sie hinter alten Pergamentrollen und dem Skelett einer Fledermaus zwei Phiolen, beide aus braunem Glas. Die eine davon enthielt rote Kristalle, wie sich herausstellte, als sie den Verschluss öffnete.
Die andere enthielt Silberpulver.
Die Phiole mit dem Silberpulver steckte sie sich in die Hosentaschen, wobei sie sorgfältig darauf achtete, nicht die Tasche mit dem Loch zu verwenden. Die roten Kristalle brachte sie Myrnin. Er nickte und steckte die Phiole in seine Westentasche unter seinem Mantel.
»Möchten Sie sie nicht einnehmen?«
»Noch nicht gleich«, sagte er, was ihr, offen gesagt, eine Heidenangst einjagte. »Ich kann noch ein Weilchen konzentriert bleiben. Versprochen.«
»Also«, sagte Michael. »Was ist der Plan?«
»Das hier.«
Claire fühlte, wie das Portal hinter ihr einrastete, so klar und präzise wie ein Blitz, und Myrnin packte sie vorne am T-Shirt, wirbelte sie herum und schleuderte sie kraftvoll durch den Durchgang.
Sie schien sehr, sehr lang zu fallen, aber dann kam sie unten an und rollte sich ab.
Als sie die Augen öffnete, war es um sie herum stockfinster. Es roch nach Verwesung und altem Wein.
Nein.
Sie kannte diesen Ort.
Als sie versuchte aufzustehen, traf sie etwas von hinten - dem wilden Fluchen nach war es Shane. Sie drehte sich um und klatschte ihre Hand auf seinen Mund, woraufhin er mitten in einem Fluch innehielt. »Psssst«, zischte sie, so leise sie konnte. Nicht, dass ihr geräuschvoller Aufprall auf dem Boden das Dinnerglöckchen nicht schon laut genug geläutet hätte.
Der Teufel soll dich holen, Myrnin.
Eine kalte Hand legte sich um ihr Handgelenk und zog sie von Shane weg, aber als sie danach schlug, spürte sie einen Samtärmel.
Myrnin. Shane rappelte sich ebenfalls auf.
»Michael, kannst du sehen?« Myrnins Stimme klang vollkommen ruhig.
»Ja.« Michaels Stimme nicht. Überhaupt nicht.
»Dann lauf, verdammt noch mal! Ich habe sie beide!«
Myrnin befolgte seinen eigenen Rat und hätte Claire fast den Arm ausgekugelt, als er sie mit sich zog. Sie hörte Shane auf seiner anderen Seite keuchen. Ihr Fuß landete auf etwas, das federte wie eine Leiche, und sie schrie auf. Der Schrei erzeugte ein Echo und in der Dunkelheit hörte sie von allen Seiten etwas, das wie Finger klang, die klopften, krabbelten und näher kamen.
Etwas umfasste ihre Fußknöchel und dieses Mal kreischte sie. Es erinnerte sie an eine Drahtschlinge, aber als sie danach schlug, fühlte sie Finger, einen dünnen, knochigen Unterarm und Fingernägel wie Klauen.
Myrnin kam schlitternd zum Stehen, wandte sich um und stampfte auf. Ihr Fußgelenk war wieder frei und in der Dunkelheit kreischte etwas wütend auf.
»Weiter!«, brüllte er - das galt Michael, nicht ihnen, vermutete Claire. Sie sah vor ihnen etwas aufblitzen, was kein richtiges Licht war - das Portal? Es sah aus wie das Schimmern eines Portals, das gerade aktiviert wurde.
Myrnin ließ ihr Handgelenk los und schubste sie nach vorne.
Wieder fiel sie. Dieses Mal landete sie auf Michael.
Shane fiel auf sie drauf und sie schnappte nach Luft, weil aller Sauerstoff aus ihrem Körper wich. Sie entwirrten sich und lösten sich voneinander. Michael zog Eve auf Ihre Füße.
»Ich kenne diesen Ort«, sagte Claire. »Hier hat Myrnin...«
Myrnin trat durch das Portal und schlug es zu, so wie Amelie vor nicht allzu langer Zeit. »Wir werden nicht hierher zurückkommen«, sagte er. »Raus jetzt. Schnell. Wir haben nicht viel Zeit.«
Er ging voran, sein langer schwarzer Mantel flatterte und Claire musste sich anstrengen, Schritt zu halten, obwohl Shane ihr half. Als er langsamer wurde und sie tragen wollte, gab sie ihm atemlos einen Klaps. »Nicht, ich schaffe das schon!«
Er sah aus, als wäre er sich da nicht so sicher.
Am Ende des steinernen Korridors bogen sie links ab und folgten einem dunklen, getäfelten Flur, an den sich Claire erinnerte, aber sie gingen an der Tür vorbei, hinter der sich Myrnins Zelle verbarg, in der er damals angekettet war.
Er verlangsamte nicht einmal seinen Schritt.
»Wohin gehen wir?«, keuchte Eve. »Oh Mann, ich wünschte, ich hätte andere Schuhe angezogen...«
Sie unterbrach sich, als Myrnin am Ende des Flurs anhielt. Dort sahen sie eine massive Holztür im mittelalterlichen Stil, mit dicken, handgeprägten Eisenbändern. Auf dem alten Holz war das Zeichen der Gründerin eingraviert.
Er hatte keinen Tropfen Schweiß verloren. Klar. Claire ruderte mit den Armen, als sie stolpernd zum Stehen kam; ihre Brust hob und senkte sich und sie stützte sich an der Wand ab.
»Sollten wir nicht bewaffnet sein?«, fragte Eve. »Ich meine, die Leute bewaffnen sich, wenn sie auf eine Rettungsmission gehen. Ich meine ja nur.«
»Mir gefällt das alles nicht«, sagte Shane.
Myrnin wandte seinen Blick nicht von Claire ab. Er streckte seine Hand aus und ergriff ihre. »Vertraust du mir?«, fragte er.
»Das werde ich, wenn Sie Ihre Medikamente nehmen«, sagte sie.
Er schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht. Ich habe meine Gründe, Kleines. Bitte. Du musst mir dein Wort geben.«
Shane schüttelte den Kopf. Michael schien diesbezüglich auch nicht besonders überzeugt zu sein und Eve... Eve sah aus, als würde sie am liebsten in die andere Richtung zurückrennen, wenn sie von irgendeiner anderen Möglichkeit gewusst hätte als der, zurück in diesen finsteren Keller zu gehen.
»Ja«, sagte Claire.
Myrnin lächelte. Es war ein erschöpftes, dünnes Lächeln mit einem Hauch von Trauer. »Dann sollte ich mich jetzt entschuldigen«, sagte er. »Denn ich werde dieses Vertrauen jetzt gleich auf das Schwerste missbrauchen.«
Er ließ Claires Hand los, packte Shane am T-Shirt und kickte die Tür auf.
Dann zog er Shane mit sich hindurch und schlug sie hinter sich zu, noch bevor die anderen überhaupt reagieren konnten - selbst Michael, der nur einen Augenblick später gegen das Holz prallte und dagegenhämmerte. Sie war so gebaut, dass sie Vampire fernhielt. bemerkte Claire. Und jemandem wie Michael würde sie eine sehr, sehr lange Zeit widerstehen.
»Shane!« Sie schrie seinen Namen und warf sich gegen das Holz, wobei sie mit der Hand immer wieder gegen das Symbol der Gründerin schlug. »Shane, nein! Myrnin, bringen Sie ihn zurück. Bitte, tun Sie das nicht. Bringen Sie ihn zurück...«
Michael wirbelte herum und schaute in die andere Richtung. »Bleibt hinter mir«, sagte er zu Eve und Claire. Claire schaute über ihre Schulter und sah, dass sich auf der gesamten Länge des Flurs die Türen öffneten, als hätte jemand auf einen Knopf gedrückt.
Vampire und Menschen kamen heraus und füllten den Korridor zwischen ihnen und jedem möglichen Fluchtweg.
Jeder Einzelne von ihnen hatte die Abdrücke von Vampirzähnen am Hals, genau wie Claire.
Genau wie die an Michaels Hals.
Irgendetwas stimmte nicht mit ihnen, wie sie dastanden, so still, so ruhig...
Und dann ging Michael weg, zu den anderen Vampiren.
»Michael!« Eve wollte sich auf ihn stürzen, aber Claire hielt sie auf.
Als Michael den ersten Vampir erreichte, erwartete sie eine Art Kampf - irgendetwas -, aber stattdessen schauten sie sich einfach nur an und dann nickte der Mann.
»Willkommen«, sagte er. »Bruder Michael.«
»Willkommen«, murmelte ein anderer Vampir, danach ein Mensch.
Als sich Michael umwandte, hatten seine Augen die Farbe gewechselt - von Himmelblau zu Blutrot.
»Oh, Shit«, flüsterte Eve. »Das passiert jetzt nicht wirklich. Das kann nicht sein.«
Die Tür hinter ihnen öffnete sich. Auf der anderen Seite war ein großer Saal aus Stein, der aussah, als würde er direkt einer Burg entstammen; außerdem stand dort auf einer Bühne der hölzerne Thron, den Claire von dem Willkommensfest kannte. Er war mit rotem Samt bedeckt.
Auf dem Thron saß Mr Bishop.
»Schließt euch uns an«, sagte Bishop. Claire und Eve schauten einander an.
Auf dem Steinboden lag Shane. Myrnin drückte ihm das Gesicht nach unten. »Kommt herein, Kinder. Es hat keinen Sinn mehr. Ich habe heute Nacht gewonnen.«
Claire kam es so vor, als wäre sie am Ende der Welt in einen Abgrund gestürzt, und alles war einfach... weg. Myrnin schaute sie nicht an. Er hielt seinen Kopf vor Bishop gebeugt.
Nach diesem ersten Blick wandte Eve ihre Aufmerksamkeit wieder Michael zu, der auf sie zukam.
Es war nicht der Michael, den sie kannten - absolut nicht.
»Lassen Sie Shane los«, sagte Claire. Ihre Stimme zitterte, aber es kam deutlich genug heraus. Bishop hob einen Finger und Michael stürzte sich nach vorne, packte Eve an der Kehle und zog sie dicht zu sich heran, die Vampirzähne ausgefahren. »Nein!«
»Wage es nicht, mir zu befehlen, Kind«, sagte Bishop. »Du solltest bereits tot sein. Ich bin beinahe ein wenig beeindruckt. Nun, du kannst jetzt deine Frage umformulieren. Irgendetwas mit einem Bitte.«
Claire fuhr mit der Zunge über die Lippen und schmeckte Schweiß. »Bitte«, sagte sie. »Bitte lassen Sie Shane los. Bitte tun Sie Eve nichts.«
Bishop dachte nach, dann nickte er. »Das Mädchen brauche ich nicht«, sagte er. Er nickte Michael zu, der Eve losließ. Sie wich zurück und starrte ihn fassungslos an, die Hände über ihrem Hals. »Ich habe, was ich will. Nicht wahr, Myrnin?«
Myrnin zog Shanes T-Shirt nach oben. Dort, hinten in seinem Hosenbund, steckte das Buch.
Nein.
Myrnin zog es heraus, ließ Shane aufstehen und ging zu Bishop. Ich werde dieses Vertrauen jetzt gleich auf das Schwerste missbrauchen, hatte er zu Claire gesagt. Bis zu diesem Augenblick hatte sie ihm nicht geglaubt.
»Wartet«, sagte Myrnin, als Bishop die Hand danach ausstreckte. »Der Handel war, das Buch gegen Theo Goldmans Familie einzutauschen.«
»Wen? Oh, ja.« Er lächelte. »Sie werden in Sicherheit sein.«
»Und unversehrt«, sagte Myrnin.
»Willst du jetzt Bedingungen für unser kleines Abkommen aufstellen?«, fragte Bishop. »Na schön. Sie werden unversehrt freigelassen. Alle sollen bezeugen, dass ich und die Meinen Theo Goldman und seiner Familie nichts zuleide tun, aber sie sind in Morganville nicht erwünscht. Ich werde sie hier nicht dulden.«
Myrnin neigte den Kopf. Er ließ sich vor dem Thron auf ein Knie sinken und hob das Buch mit beiden Händen über seinen Kopf - wie eine Opfergabe.
Bishops Finger schlossen sich darum und er stieß einen langen, rasselnden Seufzer aus. »Endlich«, sagte er. »Endlich.«
Myrnin legte die Unterarme auf seinem Knie ab, versuchte aber nicht, sich zu erheben. »Ihr sagtet, dass Ihr auch Amelie bräuchtet. Darf ich eine Alternative vorschlagen?«
»Du darfst, da ihr mich im Moment alle vortrefflich bei Laune haltet.«
»Das Mädchen trägt Amelies Siegel«, sagte er. »Sie ist die Einzige in der Stadt, die es auf die alte Weise trägt, nach den alten Gesetzen. Dadurch ist sie nichts Geringeres als ein Teil von Amelie selbst, Blut gegen Blut..
Claire hörte auf zu atmen. Es schien, als hätten sich alle Köpfe zu ihr umgewandt, als würde sie jedes Augenpaar anstarren. Shane kam auf sie zu.
Er kam nicht weit.
Michael stürzte nach vorne und warf seinen Freund fauchend auf den Steinboden. Dort hielt er ihn fest. Myrnin erhob sich und kam zu Claire; mit einer antiquierten, höfischen Geste bot er ihr seine Hand an.
Seine Augen waren noch immer dunkel, noch immer überwiegend normal.
Und aus diesem Grund wusste sie, dass sie ihm niemals wirklich würde vergeben können. Das war keine krankheitsbedingte Faselei.
Das war einfach Myrnin.
»Komm«, sagte er. »Vertrau mir, Claire. Bitte.«
Sie ignorierte ihn und ging allein zum Fuße des Throns; sie starrte zu ihm hinauf.
»Und?«, fragte sie. »Worauf warten Sie noch? Töten Sie mich.«
»Dich töten?«, wiederholte er verständnislos. »Warum um alles in der Welt sollte ich so etwas Törichtes tun? Myrnin hat ganz recht. Es ergibt keinen Sinn, dich zu töten, absolut keinen. Ich brauche dich, um die Maschinerie von Morganville zu bedienen. Ich habe bereits erklärt, dass Richard Morrell die Menschen beaufsichtigt. Myrnin erteile ich die Ehre, die Vampire zu regieren, die in meinem Königreich zu bleiben wünschen und mir Treue schwören.«
Myrnin verbeugte sich leicht aus der Hüfte heraus. »Ich bin Euch natürlich zutiefst dankbar, mein Herr.«
»Eines noch«, sagte Bishop. »Ich werde Olivers Kopf brauchen.«
Dieses Mal lächelte Myrnin. »Zufällig weiß ich, wo er zu finden ist, mein Herr.«
»Dann mach dich an die Arbeit.«
Myrnin verbeugte sich mit ausschweifenden Armbewegungen und in Claires Augen wirkte es beinahe, als wollte er sich lustig machen.
Beinahe.
Während er sich verbeugte, raunte er ihr zu: »Tu, was er sagt.«
Und dann war er weg, er verschwand einfach, als würde ihn das alles nichts angehen.
Eve versuchte, nach ihm zu treten, aber er wich ihr lachend aus und drohte ihr dabei mit dem Zeigefinger.
Sie sahen ihm nach, wie er durch den Saal davonhüpfte.
Shane sagte: »Lass mich los, Michael, oder beiß mich. Eins von beidem.«
»Nein«, sagte Bishop und schnipste mit den Fingern, um den fauchenden Michael zurückzupfeifen. »Ich brauche den Jungen vielleicht noch, um seinen Vater unter Kontrolle zu halten. Steckt sie zusammen in einen Käfig.«
Shane wurde hochgezerrt und abgeführt, aber zuvor sagte er: »Claire, ich werde dich finden.«
»Ich finde dich zuerst«. sagte sie.
Bishop brach das Schloss an dem Buch auf, das Myrnin ihm gegeben hatte; dann schlug er das Buch auf und blätterte darin herum, als würde er etwas Bestimmtes suchen. Er riss eine Seite heraus und presste die beiden Enden zusammen, um eine Röhre aus dem Papier, das in einer winzigen Schrift dicht beschrieben war, zu bilden. »Leg es um deinen Arm«, sagte er und warf es Claire zu. Sie zögerte und er seufzte. »Leg es an oder eine der vielen Geiseln deines Wohlverhaltens wird darunter leiden. Verstehst du? Mutter, Vater, Freunde, Bekannte, vollkommen Fremde. Du bist nicht Myrnin. Versuch nicht, Spielchen mir zu spielen.«
Claire zog den Ärmel aus Papier über ihren Arm und kam sich dabei bescheuert vor, aber sie sah keine Alternative.
Das Papier fühlte sich seltsam auf ihrer Haut an und dann saugte es sich plötzlich an und klebte wie etwas Lebendiges an ihr. Panik stieg in ihr hoch und sie versuchte, es abzuziehen, aber sie bekam es nicht zu fassen, so fest klebte es an ihrem Arm.
Nach einem Moment schneidenden Schmerzes lockerte es sich und löste sich von allein.
Während es auf den Boden flatterte, sah sie, dass die Seite leer war. Nichts stand mehr darauf. Die dichte Schrift, die dagewesen war, befand sich nun auf ihrem Arm - nein, unter ihrer Haut, als wäre sie damit tätowiert.
Und die Symbole bewegten sich. Das Zuschauen machte sie ganz krank. Sie hatte keine Ahnung, was es bedeutete, aber sie konnte fühlen, wie unter ihrer Haut etwas in Bewegung war, etwas...
Ihre Angst verschwand. Ebenso ihr Zorn.
»Schwör mir dir Treue«, verlangte Bishop. »In der alten Sprache.«
Claire ging in die Knie und schwor in einer Sprache, die sie überhaupt nicht kannte; nicht einen Augenblick lang zweifelte sie daran, ob das richtig war. Im Gegenteil - es machte sie glücklich. Strahlend glücklich. Ein Teil von ihr schrie zwar: Er zwingt dich dazu, das zu tun!, aber den übrigen Teilen war das völlig gleichgültig.
»Was soll ich mit deinen Freunden machen?«, fragte er sie.
»Das ist mir egal.« Es war ihr sogar gleichgültig, dass Eve weinte.
»Irgendwann wird es dir nicht mehr egal sein. Das kann ich dir versichern: Deine Freundin Eve darf gehen. Ich habe absolut keine Verwendung für sie. Ich werde euch zeigen, dass ich gnädig bin.«
Claire zuckte die Achseln. »Mir egal.«
Es war ihr nicht egal, das wusste sie, aber sie konnte es einfach nicht fühlen.
»Geh«, sagte Bishop und lächelte Eve eisig an. »Lauf weg. Such Amelie und richte ihr Folgendes aus: Ich habe ihr die Stadt weggenommen und alles, was ihr lieb und teuer ist. Sag ihr, dass ich das Buch habe. Wenn sie es zurückhaben will, muss sie persönlich zu mir kommen.«
Eve wischte sich ärgerlich die Tränen vom Gesicht und starrte ihn an. »Sie wird kommen. Und ich werde mit ihr kommen. Ein Dreck gehört Ihnen. Das ist unsere Stadt und wir werden Sie hinauswerfen, und wenn es das Letzte ist, was wir tun.«
Die versammelten Vampire lachten. Bishop sagte: »Dann kommt. Wir werden warten. Nicht wahr, Claire?«
»Ja«, sagte sie und setzte sich auf die Stufen zu seinen Füßen.
»Wir werden warten.«
Er schnipste mit den Fingern. »Dann lasst uns feiern und morgen früh werden wir darüber reden, wie Morganville in Zukunft regiert wird. Entsprechend meinen Wünschen.«
Ende - Haus der Vampire 05 - Der Nacht geweiht