11
Sie hatten ihr Zuhause jetzt wieder für sich. Die Leute, die hier Zuflucht gesucht hatten, waren alle weg und hatten ein Haus zurückgelassen, das dringend auf Vordermann gebracht und geputzt werden musste - nicht dass es irgendjemand besonders darauf angelegt hätte, alles zuzumüllen, aber wenn so viele Leute kamen und gingen, passierte das einfach. Claire schnappte sich einen Müllbeutel und begann, Pappteller, alte Styroporbecher, die noch zur Hälfte mit abgestandenem Kaffee gefüllt waren, zerknüllte Verpackungen und Papier einzusammeln. Shane startete ein Videogame, offensichtlich war er wieder in der Stimmung Zombies abzuknallen. Michael hatte seine Gitarre aus dem Koffer genommen und gestimmt, aber er starrte weiterhin unruhig und besorgt aus dem Fenster.
»Was ist?«, fragte Eve. Sie hatte übrig gebliebene Spaghetti aufgewärmt, die noch im Kühlschrank waren, und wollte Michael gerade den ersten Teller davon reichen. »Siehst du irgendetwas?«
»Nein«, sagte er und schenkte ihr ein rasches, angestrengtes Lächeln, als er abwinkte. »Ich bin eigentlich gar nicht hungrig. Tut mir leid.«
»Umso mehr bleibt für mich«, sagte Shane und griff nach dem Teller. Er stellte ihn sich auf den Schoß und schaufelte Spaghetti in sich hinein. »Mal im Ernst. Geht es dir gut? Sonst lehnst du doch nie was zum Essen ab.«
Michael antwortete nicht. Er stierte in die Dunkelheit hinaus.
»Du machst dir Sorgen«, stellte Eve fest. »Um Sam?«
»Sam und alle anderen. Das ist völlig verrückt. Was geht hier eigentlich vor...« Michael überprüfte die Schlösser am Fenster, es war eine Art automatische Bewegung, so als wäre er eigentlich gar nicht bei der Sache. »Warum hat Bishop nicht die Macht übernommen? Was treibt er da draußen? Warum sehen wir keinen Kampf?«
»Vielleicht gibt ihm Amelie irgendwo da draußen in den Schatten einen ordentlichen Arschtritt.« Shane stopfte eine weitere Gabel Spaghetti in sich hinein.
»Nein, tut sie nicht. Das kann ich spüren. Ich glaube... ich glaube, sie versteckt sich. Mit dem Rest ihrer Anhänger, zumindest mit den Vampiren.«
Shane hörte auf zu kauen. »Du weißt, wo sie sind?«
»Nicht wirklich. Ich fühle einfach...« Michael schüttelte den Kopf. »Jetzt ist es weg. Sorry. Aber ich habe das Gefühl, dass sich alles gerade verändert. Es spitzt sich zu.«
Claire hatte gerade einen Teller warme Pasta genommen, als sie im oberen Stock stampfende Schritte hörten. Sie blickten auf und schauten einander schweigend an. Michael deutete auf sich selbst und dann auf die Treppe; die anderen nickten. Eve öffnete die Schublade des Beistelltisches und holte drei spitze Pfähle heraus; einen warf sie Shane zu, einen Claire, den dritten umklammerte sie so fest, dass ihre Knöchel weiß wurden.
Michael stieg lautlos die Treppe hinauf und verschwand.
Er kam nicht wieder herunter. Stattdessen kamen ein wehender schwarzer Mantel und schmutzige weiße Pumphosen, die in schwarzen Stiefeln steckten, in Sicht; dann lehnte sich Myrnin über das Geländer und sagte: »Nach oben, ihr alle. Ich brauche euch.«
»Ähm...« Eve schaute Shane an. Shane blickte zu Claire.
Claire gehorchte Myrnin. »Glaubt mir«, sagte sie. »Es würde nichts bringen, Nein zu sagen.«
Michael wartete im Flur neben der Geheimtür, die offen stand. Er führte sie hinauf.
Was immer Claire erwartet hatte zu sehen, es war bestimmt keine Menschenmenge. Aber genau das fanden sie in dem versteckten Zimmer im dritten Stock vor. Verwirrt schaute sie auf den Raum voller Leute, dann trat sie zur Seite, um Shane, Eve und Michael Platz zu machen.
Myrnin kam als Letzter. »Claire, ich glaube, du kennst Theo Goldman und seine Familie.«
Langsam erkannte sie einzelne Gesichter. Sie hatte sie tatsächlich schon einmal gesehen - in diesem komischen Museum, als sie auf dem Weg waren, Myrnin zu retten. Theo Goldman hatte mit Amelie gesprochen. Er hatte gesagt, dass sie nicht kämpfen würden.
Aber für Claire sah es so aus, als seien sie dennoch in einen Kampf verwickelt gewesen. Vampire bekamen nicht direkt Blutergüsse, aber sie konnte zerrissene Kleider und Blutspuren entdecken; außerdem sahen alle erschöpft und irgendwie - hohl aus. Bei Theo war es am schlimmsten. Sein Gesicht schien jetzt nur noch aus Linien und Falten zu bestehen, als wäre er innerhalb weniger Tage um hundert Jahre gealtert.
»Es tut mir leid«, sagte er, »aber wir konnten nirgendwo anders hin. Amelie... ich hoffte, sie wäre hier, damit sie uns Zuflucht gewähren kann. Wir waren schon überall sonst.«
Claire erinnerte sich daran, dass es eigentlich mehr gewesen waren - ja, es fehlten mindestens zwei Leute. Ein Mensch, ein Vampir. »Was ist passiert? Ich dachte, Sie seien dort, wo Sie gewesen sind, sicher!«
»Das waren wir anfangs auch«, sagte Theo. »Und dann waren wir es nicht mehr. So sind Kriege eben. Die sicheren Orte bleiben nicht sicher. Jemand wusste, wo wir waren, oder vermutete es. Gestern in der Morgendämmerung schlug ein Mob die Türen ein und suchte nach uns. Jochen...« Er schaute seine Frau an und sie neigte den Kopf. »Unser Sohn Jochen, er opferte sein Leben, um sie aufzuhalten. Ebenso unser menschlicher Freund William. Wir haben uns versteckt, zogen von Ort zu Ort und hofften, nicht in die Sonne hinausgetrieben zu werden.«
»Wie kamen Sie hierher?«, fragte Michael. Er schien misstrauisch zu sein, was ihm Claire nicht verübeln konnte.
»Ich habe sie mitgebracht«, sagte Myrnin. »Ich habe versucht, die Vampire zu finden, die übrig geblieben sind.« Er ging neben einem der kleinen Vampirmädchen in die Hocke und strich ihm über das Haar. Das Mädchen lächelte ihn an, aber es war ein zerbrechliches, ängstliches Lächeln. »Sie können erst mal hierbleiben. Dieser Raum ist nicht allgemein bekannt. Ich habe das Portal auf dem Dachboden offen gelassen für den Fall, dass sie fliehen müssen, aber es ist eine Einbahnstraße, es führt nur hinaus. Es ist ein letzter Ausweg.«
»Sind da draußen noch andere?«. fragte Claire.
»Nur sehr wenige sind allein. Die meisten sind entweder bei Bishop oder bei Amelie oder...« - Myrnin streckte die Hände aus - »fort.«
»Was machen sie? Amelie und Bishop?«
»Ihre Truppen bewegen. Sie versuchen, einen Vorteil zu gewinnen, den günstigsten Ort zu finden. Das wird nicht lange dauern.« Myrnin zuckte die Achseln. »Früher oder später, irgendwann heute Nacht, werden sie zusammentreffen und dann werden sie kämpfen. Einer wird gewinnen und einer wird verlieren. Und am Morgen wird sein Schicksal Morganville kennen.«
Das war unheimlich. Echt unheimlich. Claire schauderte und blickte die anderen an, aber niemand schien etwas zu sagen zu haben.
»Claire, komm mit mir«, sagte Myrnin und ging mit ihr in eine Ecke des Raumes. »Hast du mit deinem Freund, diesem Arzt, gesprochen?«
»Ich habe es versucht. Aber ich bin nicht durchgekommen. Myrnin, sind Sie... in Ordnung?«
»Nicht mehr lange«, sagte er auf diese emotionslose Art und Weise, die er an sich hatte, bevor die Wirkung der Medizin nachließ. »Ich werde eine Gefahr für die anderen sein, wenn ich nicht eine weitere Dosis erhalte. Kannst du mir eine besorgen?«
»In Ihrem Labor ist nichts mehr...«
»Ich war dort, aber Bishop war zuerst da. Ich werde eine Menge Laborgläser und eine komplett neue Bibliothek brauchen.« Er sagte das leichthin, aber Claire konnte die Anspannung in seinem Gesicht sehen und die Schatten in seinen dunklen, funkelnden Augen. »Er hat versucht, die Portale zu zerstören und damit Amelies Bewegungen zu stoppen. Ich habe es geschafft, alles wieder zusammenzuflicken, aber ich muss dir Anweisungen geben, wie das gemacht wird. So bald wie möglich. Für den Fall, dass...«
Er brauchte nicht zu Ende zu sprechen. Claire nickte langsam.
»Sie sollten gehen«, sagte sie. »Ist das Gefängnis sicher? Das, in dem die Kränksten sind?«
»Bishop findet dort nichts von Interesse, also ja. Er wird es noch eine Weile ignorieren. Ich werde mich eine Zeit lang einschließen, bis du mit der Medizin kommst.« Myrnin beugte sich über sie und war plötzlich sehr konzentriert und eindringlich.
»Wir müssen das Serum verfeinern, Claire. Wir müssen es verteilen. Der Stress, die Kämpfe - all das wird den Krankheitsverlauf beschleunigen. Ich sehe Anzeichen dafür bei Theo, sogar bei Sam. Ich fürchte, dass wir durch Verwirrung und Angst noch mehr Vampire an den Wahnsinn verlieren, wenn wir nicht schnell handeln. Sie werden nicht mal mehr in der Lage sein, sich selbst zu verteidigen.«
Claire schluckte. »Ich werde mich dranmachen.«
Er nahm ihre Hand und küsste sie leicht. Seine Lippen fühlten sich staubtrocken an, aber sie hinterließen ein Prickeln in ihren Fingern. »Das weiß ich, mein Mädchen. Lass uns jetzt wieder zu deinen Freunden gehen.«
»Wie lange müssen sie hierbleiben?«, fragte Eve, als sie sich näherten. Sie fragte nicht unfreundlich, aber sie schien nervös zu sein. Das war eine enorme Menge so gut wie fremde Vampirgäste im Haus, dachte Claire. »Ich meine, wir haben nicht viel Blut im Haus...«
Theo lächelte. Claire erinnerte sich plötzlich alarmiert daran, was er im Museum zu Amelie gesagt hatte, und dieses Lächeln gefiel ihr gar nicht, nicht einmal, als er sagte: »Wir brauchen nicht viel. Wir können für uns selbst sorgen.«
»Er meint, sie können an ihren menschlichen Freunden herumknabbern wie an Essen zum Mitnehmen«, sagte Claire. »Nein. Nicht in unserem Haus.«
Myrnin runzelte die Stirn. »Das ist jetzt wohl nicht der richtige Zeitpunkt, um...«
»Das ist genau der richtige Zeitpunkt, und das wissen Sie. Hat irgendjemand die beiden dort gefragt, ob sie Lunchpakete sein wollen?« Die beiden übrigen Menschen, beides Frauen, machten entsetzte Gesichter. »Ich glaube kaum.«
Theos Gesichtsausdruck änderte sich nicht. »Was wir tun, ist unsere eigene Angelegenheit. Wir werden sie nicht verletzen, musst du wissen.«
»Wenn Sie Ihr Plasma nicht gerade durch Osmose gewinnen, dann weiß ich wirklich nicht, wie Sie das versprechen können.«
In Theos Augen loderte ein Feuer auf. »Was verlangst du von uns? Dass wir verhungern? Selbst die Jüngsten von uns?«
Eve räusperte sich. »Eigentlich weiß ich, wo es einen großen Vorrat an Blut gibt. Es muss nur jemand mit mir mitgehen, um es zu holen.«
»Oh, zur Hölle, nein«, sagte Shane. »Nicht raus in die Dunkelheit. Außerdem ist dieser Ort abgeschlossen.«
Eve griff in ihre Tasche und zog ihren Schlüsselbund heraus. Sie ging jeden Schlüssel einzeln durch, bis sie einen ganz bestimmten fand, den sie hochhielt. »Ich habe meinen Schlüssel nie abgegeben«, sagte sie. »Ich habe früher immer auf- und wieder abgeschlossen, wisst ihr?«
Myrnin schaute sie gedankenverloren an. »Im Common Grounds gibt es kein Portal. Es ist außerhalb des Netzwerks. Das heißt, jeder Vampir, der dort ist, sitzt in der Falle, solange es draußen hell ist.«
»Nein. Es gibt einen unterirdischen Zugang zu den Tunneln; ich habe es gesehen. Oliver hat auf diese Weise einige Leute rausgeschickt, während ich dort war.« Eve schenkte ihm ein strahlendes, brüchiges Lächeln. »Ich würde sagen, wir bringen Ihre Freunde dort unter. Dort gibt es auch Kaffee. Bestimmt mögen Sie Kaffee, oder? Jeder mag Kaffee.«
Theo ignorierte sie und sah Myrnin abwartend an. »Ist das besser?«
»Es ist besser zu verteidigen«, sagte Myrnin. »Rollgitter aus Stahl. Wenn es einen unterirdischen Zugang gibt - ja. Es würde eine gute Operationsbasis abgeben.« Er wandte sich an Eve. »Wir benötigen deine Fahrdienste.«
Er sagte es, als wäre Eve eine Hilfskraft, und Claire fühlte, wie ihr Gesicht flammend rot wurde. »Entschuldigung? Wie wäre es mit einem Bitte irgendwo dazwischen? Immerhin bitten Sie um einen Gefallen!«
Myrnins Augen verfinsterten sich und wurden sehr kühl. »Du scheinst vergessen zu haben, dass du bei mir angestellt bist, Claire. Das ich dich gewissermaßen besitze. Und es ist keineswegs erforderlich, dass ich zu dir, deinen Freunden oder irgendeinem Menschen, der da draußen auf der Straße herumläuft, Bitte und Danke sage.« Er blinzelte und war wieder der Myrnin, den sie normalerweise sah. »Ich verstehe jedoch, Worauf du hinauswillst. Ja. Bitte fahren Sie uns zum Common Grounds, werte Dame. Ich wäre Ihnen zutiefst und unerhört verbunden.«
Fast hätte er ihr noch die Hand geküsst. So überraschte es nicht, dass Eve außer Ja nichts mehr sagen konnte.
Claire rollte so stark mit den Augen, dass sie Kopfschmerzen bekam. »Sie passen nicht alle hinein«, gab sie zu bedenken. »In Eves Auto, meine ich.«
»Ohnehin fährt sie nicht allein«, sagte Michael. »Mein Auto steht in der Garage. Ich kann die übrigen mitnehmen. Shane, Claire...«
»Wir bleiben hier, ihr werdet den Platz brauchen«, sagte Shane. »Klingt nach einem guten Plan. Hör mal, wenn jemand nach ihnen sucht, sollte man dafür sorgen, dass sie in Bewegung bleiben. Ich werde Richard anrufen. Er kann ein paar Cops dazu verdonnern, das Common Grounds zu bewachen.«
»Nein«, sagte Myrnin. »Keine Polizisten. Wir können ihnen nicht trauen.«
»Nicht?«
»Manche von ihnen haben mit Bishop oder dem menschlichen Mob zusammengearbeitet. Ich habe Beweise dafür. Das Risiko können wir nicht eingehen.«
»Aber Richard...«, sagte Claire und gab klein bei, als Myrnin sie anfunkelte. »Na schön. Okay. Allein, schon verstanden.«
Eve wollte da zwar nicht mit hineingezogen werden, aber sie ging ohne Proteste - vielleicht hatte die Anzahl der Vampirzähne im Raum etwas damit zu tun. Als die Goldmans, Myrnin, Eve und Michael nach unten gingen, hielt Shane Claire zurück und sagte: »Wir müssen uns etwas überlegen, wie wir dieses Haus verrammeln. Nur für den Fall.«
»Du meinst gegen...« Sie machte eine vage Geste zu den Vampiren hin. Er nickte. »Aber wenn Michael hier lebt und wir hier leben, kann das Haus nicht einfach eine der Gruppen - Menschen oder Vampire - aussperren. Es geht immer nur jeweils eine Gruppe - zumindest soweit ich verstanden habe. Und mein, bevor du mich jetzt fragst: Ich weiß nicht, wie es funktioniert. Oder wie man das Haus austrickst. Ich glaube, das kann nur Amelie.«
Er sah enttäuscht aus. »Wie wäre es damit, wenn wir diese verrückten Türen abriegeln würden, durch die Myrnin und Amelie immer auftauchen?«
»Ich kann sie zwar benutzen, aber das heißt nicht, dass ich sie ein- und ausschalten kann.«
»Großartig.« Er schaute sich im Zimmer um und nahm dann auf dem alten viktorianischen Sofa Platz. »Wir sind jetzt also so etwas wie die Grand Central Station der Untoten. Das gefällt mir echt nicht so besonders. Kann Bishop hier durchkommen?«
Das war eine Frage, die Claire auch schon beschäftigt hatte, und es jagte ihr Angst ein, sagen zu müssen: »Ich weiß nicht. Vielleicht. Aber nach allem, was Myrnin gesagt hat, hat er die Portale auf nur Ausgang gestellt. Deshalb... warten wir vielleicht einfach ab.«
Da sie sich im Moment der Gelegenheit beraubt sah, etwas Heldenhaftes oder auch nur Nützliches tun zu können, wärmte sie die Spaghetti wieder auf und Shane und sie aßen, während sie irgendeine Fernsehshow anschauten und bei jedem Geräusch und jedem Knarren zusammenfuhren, die Waffen stets im Anschlag. Als fast eine Stunde später die Küchentür aufgerissen wurde, hätte Claire fast eine Herztransplantation gebraucht - aber da hörte sie Eve rufen: »Wir sind wieder da! Ooooooh, Spaghetti! Ich bin am Verhungern.« Eve kam mit einem Teller herein und schaufelte sich schon unterwegs Pasta in den Mund. Michael war direkt hinter ihr.
»Keine Probleme?«, fragte Shane. Eve schüttelte den Kopf, während sie auf einem Mundvoll Spaghetti herumkaute.
»Dort sollte es ihnen gut gehen. Niemand hat uns gesehen, als wir sie hineingebracht haben. Und wenn nicht gerade Oliver vorbeikommt, sollte eigentlich eine Weile lang niemand dort auftauchen.«
»Was ist mit Myrnin?«
Eve schluckte und wäre beinahe erstickt; Michael klopfte ihr liebevoll auf den Rücken. Sie strahlte ihn an. »Myrnin? Oh, yeah. Er machte einen auf Batman und verschwand in der Nacht. Was hat es mit diesem Typen auf sich, Claire? Wäre er ein Superheld, würde man ihn wahrscheinlich den manisch-depressiven Rächer nennen.«
Das Problem war die Medizin. Claire musste mehr davon besorgen und an diesem Heilmittel weiterarbeiten, das Myrnin gefunden hatte. Das war ebenso wichtig wie alles andere auch... immer vorausgesetzt, es würden überhaupt ein paar Vampire übrig bleiben.
Sie aßen zu Abend, wenigstens waren sie jetzt wieder zu viert; sie saßen um den Tisch herum und plauderten, als wäre die Welt normal, auch wenn sie wussten, dass das nicht stimmte. Shane schien außergewöhnlich schreckhaft zu sein, was ihm gar nicht ähnlich sah..
Was Claire anging, hatte sie einfach nur die Nase gründlich voll vom Angsthaben, und als sie nach oben gegangen und unter die Decke gekrochen war, schlief sie augenblicklich ein.
Das bedeutete aber nicht, dass sie ruhig und friedlich schlief.
Sie träumte, dass Amelie irgendwo Schach spielte und ihre Figuren mit Lichtgeschwindigkeit über das schwarz-weiße Brett schob. Ihr gegenüber saß Bishop und grinste, wobei er zu viele Zähne zeigte. Als er ihren Turm nahm, verwandelte sich dieser in eine Miniaturausgabe von Claire und plötzlich waren die beiden Vampire riesig und sie war so klein, so winzig, und irgendwo auf der freien Fläche gestrandet.
Bishop nahm sie und quetschte sie in seiner weißen Hand aus. Blutstropfen fielen auf die weißen Quadrate des Schachbretts.
Amelie machte ein finsteres Gesicht, während sie zusah, wie Bishop sie auspresste. Dann berührte sie mit einem ihrer feingliedrigen Finger die Blutstropfen. Claire strampelte und schrie.
Amelie kostete von ihrem Blut und lächelte.
Claire wachte mit einem krampfartigen Schaudern und verstrickt in ihre Decken auf. Draußen vor dem Fenster war es noch dunkel, auch wenn es am Himmel schon ein wenig heller wurde; im Haus war es sehr, sehr still.
Auf dem Nachttisch vibrierte ihr Handy. Sie griff danach und las eine SMS vom Meldesystem der Universität.
***
UNTERRICHT FINDET NACH DEM NORMALEN STUNDENPLAN STATT. GÜLTIG AB HEUTE 7 UHR.
***
Es kam ihr vor, als wäre die Universität eine Million Meilen entfernt, in einer anderen Welt, die keine Bedeutung mehr für sie hatte. Aber sie würde auf den Campus kommen, wo sich Dinge befanden, die sie brauchte. Claire scrollte durch ihr Adressbuch und fand Dr. Robert Mills, erhielt aber auf seinem Handy nicht gleich eine Antwort. Sie schaute auf die Uhr und zuckte zusammen, weil es noch so früh war, aber sie schlüpfte aus dem Bett und begann, Wäsche aus ihren Schubladen zusammenzusuchen. Das dauerte nicht lange, denn von allem war nur noch ein letztes Stück übrig. Wäschewaschen erlangte allmählich oberste Priorität.
Als sie sich angezogen hatte, wählte sie noch einmal Mills Nummer.
»Hallo?« Dr. Mills klang, als hätte sie ihn aus einem tiefen, vermutlich seligen Schlummer gerissen. Er hatte wahrscheinlich nicht geträumt, dass er von Mr Bishop ausgepresst wurde.
»Hier ist Claire«, sagte sie. »Tut mir leid, dass ich so früh anrufe ...«
»Ist es noch früh? Oh. Ich war die ganze Nacht wach und bin gerade erst eingeschlafen.« Er gähnte. »Schön, dass es dir gut geht, Claire.«
»Sind Sie im Krankenhaus?«
»Nein, In das Krankenhaus muss eine Menge Arbeit hineingesteckt werden, bevor es auch nur halbwegs für die Art von Arbeit bereit ist, die ich zu erledigen habe.« Ein weiteres herzhaftes Gähnen. »Entschuldige. Ich bin auf dem Campus im Gebäude der Biowissenschaften. Labor siebzehn. Wir haben hier ein paar Rollbetten.«
»Wir?«
»Meine Frau und meine Kinder sind bei mir. Ich wollte sie da draußen nicht allein lassen.«
Das konnte Claire verstehen. »Ich habe Arbeit für Sie und ich brauche etwas von der Droge«, sagte sie. »Es könnte wirklich wichtig sein. Ich bin in etwa zwanzig Minuten an der Uni, okay?«
»Okay. Komm nicht hierher. Die Kinder schlafen gerade. Treffen wir uns irgendwo anders.«
»Die Cafeteria auf dem Campus«, sagte sie. »Sie ist im University Center.«
»Glaub mir, ich weiß, wo sie ist. In zwanzig Minuten.«
Sie war bereits auf dem Weg zur Tür.
Aus den anderen Zimmern war kein Laut zu hören, deshalb nahm Claire an, dass ihre Mitbewohner erschöpft schliefen. Sie wusste auch nicht, warum sie selbst nicht mehr schlief, außer dass sie tief in ihrem Inneren die unterdrückte, vibrierende Angst fühlte, dass etwas Schlimmes passieren würde, wenn sie jetzt noch weiterschliefe.
Nachdem sie geduscht und ihre letzten, nicht mehr ganz so guten Klamotten angezogen hatte, schnappte sie sich ihren Rucksack und packte ihn neu. Ihre Betäubungswaffe hatte ohnehin keine Pfeile mehr, deshalb ließ sie sie zurück. Die Proben, die Myrnin aus Bishops Blut hergestellt hatte, packte sie in eine solide, ausgepolsterte Schachtel und einem Impuls folgend steckte sie auch noch ein paar Pfähle und das Silbermesser ein, das Amelie ihr gegeben hatte.
Und Bücher.
Seit die Unruhen ausgebrochen waren, war dies das erste Mal, dass Claire in Morganville zu Fuß unterwegs war, und es war gespenstisch, Die Stadt war wieder ruhig, aber viele Läden hatten eingeschlagene Fensterscheiben, die teilweise mit Brettern vernagelt waren; von einigen Gebäuden waren nur noch ausgebrannte Gerippe mit blinden, offenen Eingängen übrig geblieben. Auf den Gehwegen lagen zerbrochene Flaschen und man sah Flecken auf dem Beton, die wie Blut aussahen - an manchen Stellen waren es dunkle Spritzer.
Claire eilte an allem vorbei, sogar am Common Grounds, wo die Stahlgitter innerhalb der Fenster heruntergelassen waren. Dahinter war niemand zu sehen. Sie stellte sich vor, dass Theo Goldman dort irgendwo stand und sie aus seinem Versteck heraus beobachtete, und sie winkte ein wenig, eigentlich wackelte sie nur mit den Fingern.
Sie erwartete nicht ernsthaft eine Reaktion.
Die Tore der Universität waren offen, die Wachen waren verschwunden. Claire trabte den Weg entlang den Hügel hinauf und um die Kurve, da sah sie schon die ersten Studenten, die so früh am Morgen bereits aufgestanden und unterwegs waren. Als sie sich der zentralen Gebäudegruppe näherte, sah sie immer mehr Fußgänger und hier und da entdeckte sie wachsame Campuspolizisten, die paarweise umhergingen und nach Problemen Ausschau hielten.
Die Studenten schienen überhaupt nichts zu bemerken. Nicht zum ersten Mal fragte sich Claire, ob Amelies semipsychisches Netzwerk, das Morganville von der Welt abschnitt, auch dafür sorgte, dass die Leute auf dem Campus ahnungslos blieben.
Der Gedanke, sie könnten von Natur aus so dumm sein, gefiel ihr nicht. Andererseits war sie auf einigen Partys gewesen...
Das University Center hatte erst vor ein paar Minuten aufgemacht und der für die Kaffeebar Zuständige war gerade dabei, die Stühle von den Tischen zu nehmen. Normalerweise wäre das Eves Aufgabe gewesen, aber stattdessen war es einer vom Universitätspersonal, höchstwahrscheinlich von der Essensausgabe. Er sah nicht gerade glücklich darüber aus, dass er hier war. Claire versuchte, freundlich zu sein, und schließlich schenkte er ihr ein Lächeln, als er ihr einen Mokka reichte und ihr Geld entgegennahm.
»Ich wäre ja gar nicht hier«, gestand er, »aber sie bezahlen uns für den Rest der Woche das Dreifache.«
»Echt? Wow. Das werde ich Eve sagen. Sie kann das Geld brauchen.«
»Ja, schaff sie hierher. Ich bin nicht so gut mit diesem Kaffee-Krempel. Ich brauche etwas Einfaches. Wasser, Bohnen - das kann man nicht wirklich versauen. Das mit dem Espresso ist schwierig.«
Nachdem Claire den Mokka probiert hatte, wusste sie, dass er recht hatte. Er war wirklich nicht dafür gemacht. Sie nippte trotzdem daran und nahm an einer Stelle Platz, von der aus sie die meisten Zugänge zum UC beobachten konnte, um nach Dr. Mills Ausschau zu halten.
Fast hätte sie ihn nicht erkannt. Natürlich trug er nicht seinen Arztkittel, aber irgendwie hätte sie niemals erwartet, dass er einen Kapuzenpulli mit Reißverschluss, eine Jogginghose und Turnschuhe tragen würde. Eigentlich war er eher der Typ, der Anzug und Krawatte trug. Er bestellte einen normalen Kaffee - gute Wahl - und setzte sich zu ihr an den Tisch.
Dr. Mills war in jeder Hinsicht durchschnittlich und an der Universität fügte er sich ebenso leicht ein wie im Krankenhaus. Er hätte einen guten Spion abgegeben, dachte Claire. Er hatte eines von diesen Gesichtern - aus einem Blickwinkel jung, aus einem anderen älter - und nichts, woran man sich später wirklich erinnern würde.
Aber er hatte ein nettes, beruhigendes Lächeln. Sie nahm an, dass das als Arzt wirklich von Vorteil war.
»Morgen«, sagte er und nahm einen Schluck Kaffee. Seine Augen waren blutunterlaufen und rot gerändert. »Ich gehe später am Tag noch ins Krankenhaus. Die Schäden feststellen. Außerdem haben wir die Unfall- und die Intensivstation bereits wieder geöffnet. Sobald wir hier fertig sind, versuche ich, ein wenig Schlaf zu bekommen, für den Fall dass irgendwelche Unfallopfer eingeliefert werden. Nichts ist schlimmer als ein übermüdeter Unfallchirurg.«
Ihr schlechtes Gewissen, ihn aufgeweckt zu haben, wurde noch größer. »Ich werde mich kurz fassen«, versprach sie. Claire öffnete ihren Rucksack, nahm die ausgepolsterte Schachtel heraus und schob sie ihm über den Tisch zu. »Blutproben von Myrnin.«
Mills runzelte die Stirn. »Ich habe bereits etwa hundert Blutproben von Myrnin. Warum...«
»Diese hier sind anders«, sagte Claire. »Glauben Sie mir. Eine davon ist mit B bezeichnet, das ist wichtig.«
»Inwiefern wichtig?«
»Das möchte ich nicht sagen. Es wäre mir lieber, wenn Sie es sich zuerst anschauen würden.« Wie Claire wusste, war es in der Wissenschaft besser, unvoreingenommen zu einer Beurteilung zu kommen, ohne zu viele Erwartungen. Dr. Mills wusste das auch und nickte, als er die Proben an sich nahm. »Ähm... wenn Sie noch schlafen wollen, sollten Sie das Zeug lieber nicht trinken.«
Dr. Mills lächelte und kippte den Rest seines Kaffees hinunter. »Wenn man Arzt wird, wird man gegen alles Mögliche immun, unter anderem auch Koffein«, sagte er. »Glaub mir. Sobald mein Kopf das Kopfkissen berührt, schlafe ich ein, selbst wenn ich an einer Koffein-Infusion hängen würde.«
»Ich kenne Leute, die dafür sehr viel Geld zahlen würden. Ich meine, für die Tropfinfusion.«
Er schüttelte den Kopf und grinste, wurde aber sofort wieder ernst. »Bei dir scheint ja alles okay zu sein. Ich habe mir Sorgen um dich gemacht. Du bist einfach so... jung, zu jung, um in all das hier verwickelt zu sein.«
»Mir geht es gut. Und ich bin eigentlich...«
»Gar nicht so jung. Ja, ich weiß. Aber trotzdem. Lass einen alten Mann sich ein wenig Sorgen machen. Ich habe zwei Töchter.« Er warf seinen Kaffeebecher nach dem Mülleimer - Volltreffer - und stand auf. »Hier ist alles, was ich von der Droge noch finden konnte. Tut mir leid, es ist nicht gerade viel, aber eine neue Ladung ist in Arbeit. In ein paar Tagen wird sie fertig sein.«
Er reichte ihr eine Tüte, in der Glasfläschchen klirrten. Sie schaute hinein. »Das sollte mehr als genug sein.« Es sei denn natürlich, sie müsste damit ganz Morganville versorgen, aber in diesem Fall wären sie sowieso geliefert.
»Sorry, dass ich meinen Kaffee so hinuntergestürzt habe und gleich wieder verschwinde, aber...«
»Sie sollten gehen«, stimmte Claire zu. »Danke, Dr. Mills.« Sie streckte ihm die Hand hin und er schüttelte sie ernst.
An seinem Handgelenk befand sich ein Silberarmband mit Amelies Symbol. Er schaute darauf hinunter, danach auf ihres und zuckte dann mit den Achseln.
»Ich glaube nicht, dass jetzt die richtige Zeit ist, es abzunehmen«, sagte er. »Noch nicht.«
Wenigstens lässt sich Ihres abnehmen, dachte Claire, aber sie sagte es nicht laut. Dr. Mills hatte Vereinbarungen unterschrieben, Verträge, und all diese Dinge waren in Morganville bindend, aber durch den Vertrag, den sie unterschrieben hatte, war sie mit Leib und Seele zu Amelies Eigentum geworden. Und an ihrem Armband gab es keinen Verschluss, wodurch es eher ein Sklavenhalsband war.
Hin und wieder jagte ihr das Angst ein.
Es war schon fast Zeit für die erste Unterrichtsstunde, und als Claire ihren Rucksack schulterte, fragte sie sich, wie viele Studenten wohl auftauchen würden. Eine ganze Menge wahrscheinlich. Sie kannte die meisten ihrer Professoren nur zu gut und wusste, dass heute ein guter Tag für einen Test war.
Sie wurde nicht enttäuscht. Sie geriet auch nicht in Panik, wie einige ihrer Kommilitonen in der ersten und später in der dritten Stunde. Claire hatte keine Angst vor Prüfungen, außer einmal in einem Traum, als sie einen Holzschuhtanz machen und dazu Stöcke herumwirbeln musste, um eine gute Note zu bekommen. Und diese Tests waren ohnehin nicht so schwierig, nicht einmal die Physiktests.
Was ihr mehr auffiel, je weiter sie auf dem Campus herumkam: Weniger Leute hatten Armbänder an. Die Einheimischen in Morganville waren gewohnt, ihr Armband sieben Tage die Woche vierundzwanzig Stunden lang zu tragen, deshalb konnte sie an der Stelle, an der das Armband gewesen war - und jetzt fehlte -, deutlich die hellen Streifen auf der ansonsten gebräunten Haut erkennen. Es war wie ein umgekehrtes Tattoo.
Gegen Mittag sah sie Monica Morrell, Gina und Jennifer.
Die drei Mädchen gingen schnell und mit gesenktem Kopf, ihre Bücher unter den Arm geklemmt. Vieles an ihnen war jetzt anders; Claire war es gewöhnt, dass die drei auf dem Campus umherstrichen wie selbstsichere und grausame Tigerinnen. Sie hatten immer auf alle herabgeschaut, und ob man sie nun mochte oder nicht - sie waren coole Fashion-Queens, die sich immer extrem aufgedonnert hatten.
Heute nicht.
Monica, die für gewöhnlich im Zentrum stand, sah schrecklich aus. Ihr ansonsten schimmerndes, verführerisches Haar war stumpf und fusselig, als hätte sie sich nicht die Mühe gemacht, eine Bürste in die Hand zu nehmen - ganz zu schweigen von Haarfestiger oder Lockenstab. Das bisschen, was Claire von ihrem Gesicht sehen konnte, war frei von Make-up. Sie trug ein aus der Form geratenes Sweatshirt mit einem unschmeichelhaften und hässlichen Muster und eine schmuddelige Jeans, von der Art, wie Claire sie vielleicht noch zum Putzen aufbewahrt hätte, aber ob Monica solche Arbeiten überhaupt übernahm?
Gina und Jennifer sahen auch nicht viel besser aus - alle wirkten geschlagen.
Claire fühlte trotzdem einen winzig kleinen, unwürdigen Hauch von Zufriedenheit... bis sie die Blicke sah, die ihnen zugeworfen wurden. Einheimische, die ihre Armbänder abgenommen hatten, funkelten Monica und ihre Eskorte unverhohlen an und einige von ihnen gingen noch weiter, als ihnen nur finstere Blicke zuzuwerfen. Claire sah, wie ein kräftiger, taffer Sportler in einer TPU-Jacke mit Jennifer zusammenstieß, sodass ihre Bücher durch die Luft flogen. Sie schaute ihn nicht an, sondern bückte sich einfach, um sie wieder aufzuheben.
»Hey, du schusselige Schlampe, was zum Teufel ist los?« Er schubste sie auf ihren Hintern zurück, als sie gerade aufstehen wollte, aber sie war nicht sein eigentliches Ziel; sie stand einfach nur zwischen ihm und Monica. »Hey, Morrell. Wie geht's deinem Daddy?«
»Gut«, sagte Monica und blickte ihm in die Augen. »Ich würde nach deinem fragen, aber da du keine Ahnung hast, wer er ist...«
Der Sportler trat ganz dicht an sie heran. Sie wich nicht zurück, auch wenn Claire ihr ansehen konnte, dass sie das gern getan hätte. Um ihre Augen und Lippen hatten sich angespannte Linien gebildet und ihre Hände, mit denen sie ihre Bücher umklammerte, bekamen weiße Knöchel.
»Du warst schon immer die Schlampen-Queen«, sagte er. »Erinnerst du dich an Annie? Annie McFariane? Du hast immer >fette Kuh< zu ihr gesagt. Du hast sie in der Schule ausgelacht. Du hast in den Duschen Fotos von ihr gemacht und ins Internet gestellt. Erinnerst du dich?«
Monica antwortete nicht.
Der Sportler lächelte. »Yeah, du erinnerst dich an Annie. Sie war ein nettes Mädchen, ich habe sie gemocht.«
»Nicht genug, um für sie einzutreten«, sagte Monica. »Nicht wahr, Clark? Du wolltest mir in erster Linie an die Wäsche, da war es dir nicht so wichtig, ob ich nett war zu deiner kleinen fetten Freundin oder nicht. Ich kann nichts dafür, dass sie am Ende dieses bescheuerte Auto an der Stadtgrenze zu Schrott gefahren hat. Es könnte aber deine Schuld sein. Vielleicht hat sie es nicht mehr in derselben Stadt mit dir ausgehalten, nachdem du mit ihr Schluss gemacht hattest.«
Clark schlug ihr die Bücher aus der Hand und stieß sie heftig gegen einen Baumstamm in unmittelbarer Nähe.
»Ich habe etwas für dich, du Schlampe.« Er kramte in seiner Tasche und holte etwas Viereckiges heraus, das etwa zehn Zentimeter breit war. Es war ein Aufkleber, der wie ein Namensschildchen aussah, nur dass ein Foto von einer linkisch, aber süß aussehenden Teenagerin darauf abgebildet war, die tapfer versuchte, in die Kamera zu lächeln.
Clark klatschte es Monica an die Brust und rieb darüber, sodass es auf dem Sweatshirt kleben blieb.
»Das trägst du jetzt«, sagte er. »Du trägst Annies Foto. Wenn ich sehe, dass du es heute abnimmst, schwöre ich, dass dir das, was du Annie in der Highschool angetan hast, wie Ferien auf den Bahamas vorkommen wird.«
Unter Annies Bild standen die Worte ERMORDET VON MONICA MORRELL.
Monica schaute an sich herunter, schluckte und ihr Gesicht wurde zuerst feuerrot, danach blass. Sie hob mit einem Ruck wieder ihr Kinn und starrte Clark an. »Bist du jetzt fertig?«
»Vorerst ja. Denk daran, wenn du es abnimmst...«
»Yeah, Clark, du hast dich deutlich genug ausgedrückt. Ich hab's kapiert. Glaubst du, das macht mir was aus?«
Clarks Grinsen wurde noch breiter. »Nein. Noch nicht. Schönen Tag noch, Süße.«
Er ging weg und gab zwei anderen Typen Highfive.
Während Monica total entrüstet auf den Aufkleber an ihrer Brust hinunterstarrte, näherte sich ihr ein Mädchen - ebenfalls eine Einheimische aus Morganville, die ihr Armband abgenommen hatte. Monica bemerkte sie erst, als sie direkt vor ihr stand.
Sie sagte nichts, sondern zog einfach nur die Rückseite eines anderen Aufklebers ab und klebte ihn neben Annie McFarianes Brust.
Auf diesem stand in großen roten Buchstaben einfach nur MÖRDERIN.
Monica ging weiter.
Sie begann, den Aufkleber abzureißen, aber Clark beobachtete sie.
»Steht dir«, sagte er. Dann zeigte er auf seine Augen und danach auf sie. »Wir werden dich den ganzen Tag beobachten. Es kommen noch viel mehr Aufkleber.« Clark hatte recht. Es würde ein sehr, sehr schlechter Tag für Monica Morrell werden. Selbst Gina und Jennifer verdünnisierten sich jetzt, sie gingen in eine andere Richtung und ließen sie die ganze Sache allein ausbaden.
Monicas Blick fiel auf Claire. In ihren Augen blitzte Furcht auf und Scham und echter Kummer.
Doch dann wappnete sie sich plötzlich und blaffte: »Was gibt es zu glotzen, Freak?«
Claire zuckte die Achseln. »Gerechtigkeit, nehme ich an.« Sie runzelte die Stirn. »Warum bist du eigentlich nicht bei deinen Eltern geblieben?«
»Das geht dich nichts an.« Monicas finsterer Blick flackerte. »Dad wollte, dass wir alle ganz normal weitermachen. Damit die Leute sehen, dass wir keine Angst haben.«
»Wie soll das gehen?«
Monica machte einen Schritt auf sie zu, dann presste sie ihre Bücher an die Brust, um die Aufkleber weitgehend zu verdecken, und eilte davon.
Sie war noch keine drei Meter weit gekommen, als ein Fremder zu ihr rannte und ihr einen Aufkleber auf den Rücken klatschte. Darauf waren ein schmales kleines Mädchen und ein älterer, vielleicht fünfzehnjähriger Junge zu sehen. Darunter stand ALYSSAS MÖRDERIN.
Erschrocken wurde Claire bewusst, dass der Junge auf diesem Bild Shane war. Und das andere war seine Schwester, Alyssa, die in dem Feuer ums Leben gekommen war, das Monica gelegt hatte.
»Gerechtigkeit«, wiederholte Claire leise. Eigentlich war ihr ein wenig übel. Gerechtigkeit war nicht das Gleiche wie Barmherzigkeit.
Während sie versuchte zu entscheiden, was sie jetzt tun sollte, klingelte ihr Handy. »Du kommst besser nach Hause«, sagte Michael Glass. »Wir haben aus dem Rathaus ein Notsignal von Richard bekommen.«