7

 

Die Tore der Universität waren zu, abgeschlossen, und gekleidete Männer im paramilitärischen Stil waren dort postiert. Sie waren bewaffnet. Eve fuhr mit ihrem großen Wagen langsam zu ihnen heran und kurbelte das Fenster herunter.

»Lieferung für Michael Glass«, rief sie. »Oder Richard Morrell.«

Der Wachmann, der sich hereinlehnte, war riesig, taff und anfing zu grinsen wie ein kleiner Junge, der einen kleinen Hund bekommen hat. »Hannah Montana!«

Sie sah zutiefst gequält aus. »Nenn mich nie wieder so, Jessup, sonst schlitze ich dir den Bauch auf.«

»Steig aus und versuch es mal, Smiley. Oh ja, ich habe schon gehört, dass du wieder da bist. Wie war es bei den Marines?«

»Besser als bei den verdammten Rangers.«

»Das hättest du wohl gern.« Sein Lächeln erlosch und er wurde wieder ernst. »Sorry, H, Befehl ist Befehl. Wer schickt dich? Wer sind die da?«

»Oliver schickt mich. Du kennst wahrscheinlich Eve Rosser -  und das ist Claire Danvers.«

»Echt? Uuh. Ich dachte, sie sei größer. Hey, Eve. Sorry, ich hab dich nicht gleich erkannt. Lange nicht gesehen.« Jessup nickte dem anderen Wachhabenden zu, der sich das Gewehr umhängte und auf einer Platte an der Steinmauer einen Tastencode eingab. Das große Eisentor öffnete sich langsam. »Pass auf dich auf, Hannah. In dieser Stadt fühlt man sich im Moment, als wäre man wieder im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet.«

Abgesehen von den Wachen, die am Zaun patrouillierten, schien die Texas Prairie University auf gespenstische Weise normal. Die Vögel zwitscherten in der aufgehenden Sonne und man sah Studenten - Studenten! -, die unterwegs zum Unterricht waren, als wäre alles in bester Ordnung. Sie plauderten, lachten und rannten, um es zum frühmorgendlichen Glockenläuten auf den Campus zu schaffen.

»Was soll das, zum Henker?«, sagte Eve. Claire war froh, dass sie nicht die Einzige war, die darüber entsetzt war. »Ich wusste, dass sie den Befehl hatten, sich bedeckt zu halten, aber das hier ist einfach lächerlich, verdammt. Wo ist das Büro des Dekans?«

Claire zeigte mit dem Finger darauf. Eve steuerte den Wagen um die gewundenen Kurven, vorbei an Wohnheimen und Hörsälen, und parkte auf dem ersten freien Parkplatz vor dem Verwaltungsgebäude. Dort standen zwei Polizeiautos und ein paar schwarze Jeeps. Zivile Autos standen nur wenige auf dem Parkplatz.

Während sie die Stufen zu dem Gebäude hinaufgingen, bemerkte Claire zwei weitere Wachleute vor dem Haupteingang. Hannah kannte diese Typen nicht, aber sie wiederholte ihre Namen und weshalb sie gekommen waren und nach einer kurzen, unpersönlichen Durchsuchung durften sie eintreten.

Das letzte Mal, als Claire hier gewesen war, hatte sie Kurse hinzugefügt und abgewählt und das Gebäude hatte nur so gewimmelt von mürrischen Beamten und panischen Studenten, die hektisch von hier nach dort gerannt waren. Nun war es sehr still hier. Einige Leute saßen an ihren Schreibtischen, aber Studenten sah Claire keine und die Angestellten der TPU sahen entweder gelangweilt oder nervös aus. Der Großteil der Aktivitäten schien sich auf den mit Teppichen ausgelegten Gang zu konzentrieren, in dem die offiziellen Porträts früherer Dekane und Würdenträger der Universität hingen.

Ein oder zwei der ehemaligen Dekane könnten ihrer blassen Haut nach Vampire gewesen sein, wie Claire jetzt erst auffiel. Vielleicht waren es aber auch nur alte blasse Kerle. Schwer zu sagen.

Am Ende des Ganges fanden sie keine weitere Wache, sondern eine Sekretärin in einem Büro - die allerdings ebenso taff war wie die bewaffneten Männer draußen. Sie saß hinter einem teuer aussehenden, antiken Schreibtisch, auf dem weder ein Körnchen Staub noch sonst etwas zu sehen war, außer einem Blatt Papier, das genau in der Mitte platziert war, und einem Stift, der im rechten Winkel dazu lag, sowie eine schicke schwarze Telefonanlage. Computer konnte Claire keinen entdecken - doch, da war einer, versteckt in einem ausziehbaren Seitenschrank.

Das Zimmer war mit einem so plüschigen Teppich ausgestattet, dass Claires Füße mindestens zwei Zentimeter tief einsanken; es war, als würde man über Schaum gehen. Solide Täfelung aus dunklem Holz. Gemälde und gedämpfte Lichter. Die Fenster waren mit extravaganten Samtvorhängen zugehängt und man hörte Musik - etwas Klassisches natürlich. Claire konnte sich nicht vorstellen, dass jemals irgendwer auf einen Rocksender umschalten würde. Nicht hier.

»Ich bin Miss Nance«, sagte die Frau und stand auf, um ihnen allen nacheinander die Hand zu schütteln; sie zögerte nicht einmal bei Eve, die die meisten Leute einschüchterte. Sie war eine hochgewachsene, schlanke, grauhaarige Frau in einem maßgeschneiderten grauen Anzug und einer Bluse in einem helleren Grau unter der Jacke. Ihr graues Haar wellte sich zu exakt gleichmäßigen Locken. Claire konnte ihre Schuhe nicht sehen, aber sie wäre jede Wette eingegangen, dass sie grau, modisch und trotzdem irgendwie vernünftig waren. »Ich bin die Sekretärin von Dekan Wallace. Haben Sie einen Termin?«

Eve sagte: »Ich muss Michael sprechen.«

»Pardon? Ich glaube nicht, dass ich diese Person kenne.«

Eves Gesichtszüge erstarrten und Claire konnte die schreckliche Furcht in ihren Augen sehen.

Hannah, die es auch sah, sagte: »Lassen Sie den Quatsch, Miss Nance. Wo ist Michael Glass?«

Miss Nances Augen wurden schmal. Sie waren blassblau, nicht so blass wie Amelies, aber irgendwie ausgebleicht, wie Jeansstoff, der der Sonne ausgesetzt war. »Mr Glass ist in einer Konferenz mit dem Dekan«, sagte sie. »Ich fürchte, Sie müssen...«

Die Tür am anderen Ende ihres Büros öffnete sich und Michael kam heraus. Claires Herz schmolz praktisch vor Erleichterung. Er ist okay. Michael ist okay.

Nur, dass er die Tür hinter sich zumachte und geradewegs an ihnen vorbeiging - ein Mann mit einer Mission.

Er ging schnurstracks an Eve vorbei, die völlig verblüfft mit offenem Mund dastand. Angst keimte in ihrem Gesicht auf.

»Michael!«, schrie Claire auf. Er hielt nicht einmal an. »Wir müssen ihn aufhalten!«

»Na großartig«, sagte Hannah und die drei rannten ihm hinterher.

Es war gut, dass Michael eigentlich nicht rannte, er bewegte sich nur zielgerichtet voran. Claire und Eve drängten sich im Gang an ihm vorbei und stellten sich ihm in den Weg.

Seine blauen Augen waren weit geöffnet, doch er sah sie einfach nicht. Aber wenigstens merkte er, dass da ein Hindernis war, und hielt an.

»Michael«, sagte Claire. Verdammt, warum hatte sie kein Beruhigungsmittel dabei? Warum? »Michael, du kannst da nicht rausgehen. Es ist schon hell. Du wirst sterben.«

»Er hört dich nicht«, sagte Hannah. Und sie hatte recht; er hörte nicht auf sie. Er versuchte, sich zwischen ihnen hindurchzudrängen, aber Eve legte ihre Hand auf seine Brust und hielt ihn zurück.

»Michael? Ich bin's. Du kennst mich, nicht wahr? Bitte?«

Er starrte sie mit völlig ausdruckslosen Augen an und dann schubste er sie heftig aus dem Weg.

Hannah warf Claire einen raschen, befehlenden Blick zu. »Hol Hilfe. Schnell. Ich versuche, ihn aufzuhalten.«

Claire zögerte, aber Hannah war zweifellos besser ausgestattet als sie, wenn es darum ging, mit einem möglicherweise feindselig gestimmten Michael zurechtzukommen. Sie drehte sich um und rannte an erschrockenen Bürohengsten und kaffeetragenden Staatsdienern vorbei. Vor einem der schwarz uniformierten Soldaten kam sie schlitternd zum Stehen. »Richard Morrell«, sprudelte es aus ihr heraus. »Ich brauche ihn. Jetzt!«

Der Soldat zögerte nicht. Er griff nach dem Funkgerät, das an seiner Schulter klemmte, und sagte: »Verwaltung an Morrell, bitte kommen.«

»Morrell, was gibt's?«

Der Soldat löste das Funkgerät von seiner Schulter und reichte es schweigend an Claire weiter. Sie nahm es - es war schwerer als die Walkie-Talkies - und drückte auf die SPRECHEN-Taste. »Richard? Hier ist Claire. Wir haben ein großes Problem. Wir müssen Michael und alle anderen...« Wie konnte man Vampir sagen, ohne es auszusprechen? »Alle anderen mit einer Sonnenallergie davon abhalten rauszugehen.«

»Warum zum Teufel sollten sie...«

»Ich weiß nicht! Sie tun es einfach!« Das Bild des brennenden Officer O'Malley kam ihr wieder in den Sinn und sie sog mit einem Schluchzer die Luft ein. »Helfen Sie uns. Sie gehen hinaus in die Sonne.«

»Gib das Funkgerät zurück«, befahl er. Sie händigte es dem schwarz uniformierten Mann aus. »Sie gehen jetzt mit diesem Mädchen mit und helfen ihm. Keine Fragen.«

»Ja, Sir.« Er knipste das Funkgerät aus und schaute auf Claire hinunter. »Nach dir.«

Sie führte ihn zurück in den Flur. Sie waren kaum dort angekommen, als sie etwas splittern hörten. Hannah kam durch eine Glasscheibe geflogen und landete flach auf dem Rücken. Sie blinzelte.

Michael lief einfach über sie hinweg. Eve zerrte an seinem Arm, um ihn zurückzuhalten, aber er schüttelte sie ab.

»Wir dürfen ihn nicht nach draußen lassen!«, sagte Claire. Sie wollte ihn packen, aber es war, als würde man versuchen, einen Güterzug festzuhalten. Sie hatte ganz vergessen, wie stark er inzwischen war.

»Aus dem Weg«, sagte der Soldat und zog eine Handfeuerwaffe aus einem Halfter an seiner Seite.

»Nein, nicht...«

Die Beamten stoben auseinander, versteckten sich unter Schreibtischen und ließen ihren Kaffee fallen, um sich in den Teppich zu krallen.

Der Soldat zielte auf Michaels Brust und feuerte dreimal schnell hintereinander. Claire hatte lautes Knallen erwartet, aber stattdessen hörte man nur ein druckluftgedämpftes, hustenartiges Geräusch.

Drei gefiederte Pfeile steckten in Michaels Brust, dicht beieinander über seinem Herzen.

Er ging trotzdem noch drei Schritte weiter auf den Soldaten zu, bevor er in Zeitlupe in die Knie ging und dann aufs Gesicht fiel.

»Alles klar«, sagte der Soldat. Er packte Michael, drehte ihn um und zog die Pfeile mit einem Ruck heraus. »Es wird etwa eine Stunde dauern, bis er zu sich kommt, länger wahrscheinlich nicht. Schaffen wir ihn ins Büro des Dekans.«

Hannah wischte sich ein Rinnsal Blut vom Mund, hustete und rollte sich auf die Füße. Sie und Eve halfen Claire, Michael an Schultern und Füßen zu packen. Sie trugen ihn den Gang entlang, vorbei an Gemälden, die jetzt eine gründliche Restaurierung und neue Rahmen brauchen würden, vorbei an gesplitterten und zerbrochenem Glas bis in Miss Nances Büro.

Miss Nance warf einen Blick auf sie und ging blitzschnell zu der Tür mit dem dezenten Messingschild, auf dem DEKAN WALLACE stand. Sie klopfte an und öffnete die Tür weit, damit sie Michael hineintragen konnten.

Dekan Wallace war eine Frau, was Claire irgendwie überraschte. Sie hatte einen pummeligen Mann mittleren Alters erwartet; diese Dekanin Wallace war hochgewachsen, elegant, schlank und sehr viel jünger, als Claire sich vorgestellt hatte. Sie hatte glattes braunes Haar, das ihr lang über die Schultern fiel, und einen schlichten schwarzen Anzug, der fast das Pendant zu Miss Nances Anzug darstellte, außer dass er weniger förmlich aussah. Er wirkte irgendwie... benutzter.

Dekanin Wallaces Lippen öffneten sich, aber sie verkniff sich die Fragen. Sie riss sich zusammen und machte dann eine Kopfbewegung zu der Ledercouch am anderen Ende des Zimmers, gegenüber ihrem massiven Schreibtisch. »Gut, legt ihn dorthin.« Außerdem hatte sie einen britischen Akzent. Definitiv kein Mädel aus Texas. »Was ist passiert?«

»Was immer es ist - es passiert überall«, sagte Hannah, als sie Michaels leblosen Körper auf das Sofa legten. »Sie gehen einfach los. Es ist, als wüssten sie nicht oder als kümmerte sie es überhaupt nicht, dass die Sonne aufgegangen ist. Irgendeine Art zielsuchendes Signal scheint eingeschaltet zu sein.«

Dekanin Wallace dachte einen Augenblick nach, dann drückte sie auf einen Knopf an ihrem Schreibtisch. »Miss Nance? Bitte schicken Sie eine offizielle Bekanntmachung über das Notfallkommunikationssystem raus. Alle Vampire auf dem Campus sollen sofort festgenommen oder betäubt werden. Ohne Ausnahme. Das hat oberste Priorität.« Sie runzelte die Stirn, als sie die Bestätigung erhielt, und schaute die kleine Gruppe vor ihr an. »Michael schien ganz vernünftig und es gab keine Anzeichen, dass so etwas passieren würde. Ich dachte einfach, er müsste noch wohin. Er kam mir nicht sonderbar vor, wenigstens nicht am Anfang.«

»Wie viele Vampire sind auf dem Campus?«, fragte Hannah.

»Einige Professoren, aber momentan sind sie nicht da, weil sie abends unterrichten. Keine Studenten natürlich. Abgesehen von denen, die Michael und Richard mitgebracht haben, sind insgesamt vielleicht fünf auf dem Gelände. Heute Morgen waren mehr hier, aber sie haben vor Sonnenaufgang außerhalb des Campus Schutz gesucht.« Dekanin Wallace schien trotz der Umstände gelassen. »Du bist Claire Danvers?«

»Ja, Ma'am«, sagte sie. Dekanin Wallace streckte ihr die Hand hin und Claire schüttelte sie.

»Ich habe neulich mit deiner Schutzpatronin über deine Fortschritte gesprochen. Trotz deiner... Herausforderungen hast du in deinen Kursen hervorragende Arbeit geleistet.«

Es war dumm, sich deswegen geschmeichelt zu fühlen, aber Claire konnte nicht anders. Sie spürte, wie sie rot wurde, und schüttelte den Kopf. »lch glaube, das spielt im Moment keine große Rolle.«

»Ganz im Gegenteil, ich glaube, es bedeutet wirklich eine ganze Menge.«

Eve ließ sich neben dem Sofa nieder und hielt Michaels schlaffe Hand. Sie sah erschüttert aus. Hannah lehnte an der Wand und nickte dem Soldaten zu, der gerade das Büro verließ. »So«, sagte sie, »könnten Sie mir jetzt bitte erklären, wie Sie es geschafft haben, dass die halbe US-Army um den Campus patrouilliert, ohne dass unter den Studenten eine Massenpanik ausbricht?«

»Wir haben den Studenten und ihren Eltern erzählt, dass sich die Universität an einer staatlichen Katastrophenübung beteiligt und dass sämtliche Waffen natürlich nicht tödlich sind. Was so weit auch stimmt. Die Studenten auf dem Campus zu halten, war schon kniffliger, aber wir haben es bisher geschafft, indem wir es mit der Katastrophenübung in Verbindung gebracht haben. Das kann natürlich nicht lang gut gehen. Die einheimischen Kids sind bereits gut informiert und es ist nur eine Frage der Zeit, bis die auswärtigen Studenten merken, dass wir sie an der Nase herumführen, wenn sie ihren Freunden und Angehörigen nicht davon erzählen können. Selbstverständlich filtern wir Internet und Telefon.« Dekanin Wallace schüttelte den Kopf. »Aber das ist mein Problem, nicht Ihres. Ihr Problem ist sehr viel dringlicher. Wir können nicht alle Vampire der Stadt betäuben und wir können schon gar nicht gewährleisten, dass sie auch betäubt bleiben

»So viele Glücksdrogen gibt es auf dieser Welt gar nicht«, stimmte Hannah zu. »Entweder wir müssen das Problem an seinen Ursachen packen oder wir gehen ihnen verdammt noch mal aus dem Weg.«

Es klopfte leise an die Tür und Miss Nance trat ein. »Richard Morrell«, verkündete sie und trat zur Seite, um ihm Platz zu machen.

Claire glotzte, Monicas Bruder sah aus wie eine einzige Katastrophe -  erschöpft, rotäugig, blass, als würden ihn nur noch Koffein und Adrenalin aufrecht halten. Wahrscheinlich sahen sie alle so aus, dachte Claire. Als Miss Nance leise die Tür hinter ihm schloss, trat Richard vor und starrte Michaels schlaffen Körper an. »Ist er bewusstlos?« Seine Stimme klang rau, als hätte er herumgebrüllt. Viel herumgebrüllt.

»Schläft den Schlaf der Gerechten«, sagte Hannah. »Oder sagen wir mal den Schlaf der Gedopten. Claire. Funkgerät.«

Oh. Sie hatte den Rucksack ganz vergessen, der noch immer über ihrer Schulter hing. Rasch nahm sie das letzte Funkgerät heraus, reichte es Richard und erklärte ihm Code und Funktionen. Richard nickte.

»Ich finde, das schreit geradezu nach einer Strategiesitzung«, sagte er und zog sich einen Stuhl neben die Couch. Hannah und Claire nahmen ebenfalls Platz, aber Eve blieb, wo sie war, neben Michael, als wollte sie auch wirklich jede Sekunde bei ihm bleiben.

Dekanin Wallace saß hinter ihrem Schreibtisch, die Fingerspitzen aneinandergelegt. Und schaute ihnen mit interessierter Gelassenheit zu.

»Ich tippe den Code ein, nicht wahr?« Er war schon dabei, deshalb nickte Claire einfach. Ein Signal ertönte, das anzeigte, dass er sich in das Netz eingeloggt hatte. »Richard Morrell, Universität, Check-in.«

Ein paar Sekunden später antwortete eine Stimme. »Roger, Richard, du bist die letzte Station, die sich meldet. Bleib dran für eine Durchsage.«

Es klickte ein paar Mal, dann dröhnte eine andere Stimme aus dem Funkgerät.

***

»Hier spricht Oliver. Ich wende mich mit einer Notverordnung an alle in diesem Netzwerk. Haltet jeden Vampir, den ihr findet und der mit uns verbündet ist, mit allen notwendigen Mitteln auf. Abschließbare Räume, Ketten, Beruhigungsmittel, Zellen -  setzt alles ein, was ihr habt. Bevor wir nicht wissen, wie und warum dies passiert, müssen wir tagsüber alle Vorsichtsmaßnahmen treffen, die möglich sind. Wie es aussieht, können einige von uns dem Ruf widerstehen, andere sind immun dagegen, aber das könnte sich jederzeit ändern. Seid auf der Hut. Ab jetzt werden wir stündlich einen Funkruf starten und jede Station wird einen Zwischenbericht abgeben. Station Universität, bitte berichten.«

***

Richard drückte auf die SPRECHEN-Taste. »Michael Glass und alle Vampire in unserer Gruppe wurden außer Gefecht gesetzt. Die Studenten hier dürfen den Campus nicht verlassen, aber das ist nicht von Dauer. Spätestens morgen früh müssen wir die Tore öffnen, wenn wir die Sperre überhaupt bis dahin aufrechterhalten können. Selbst der Ausfall von Telefon und Internet kann nicht verhindern, dass etwas nach draußen sickert.«

»Wir gehen nach Plan vor«, sagte Oliver. »Wir bauen in zehn Minuten bis auf Weiteres die Handymasten ab. Die Festnetzleitungen sind bereits gekappt. Ab jetzt gibt es nur noch strategische Kommunikation über Funk. Braucht ihr sonst noch was?«

»Zuckerbrot und Peitsche? Nein. Im Moment geht es uns gut. Ich glaube kaum, dass uns jemand am helllichten Tag angreifen will, bei den vielen Wachen, die wir hier haben.« Richard zögerte, dann drückte er wieder auf die Mikrofontaste. »Oliver, mir ist da draußen einiges zu Ohren gekommen. Einige Menschen haben eigene Fraktionen gebildet und sich abgespalten. Das könnte alles noch komplizierter machen.«

Oliver schwieg einen Augenblick, dann sagte er: »Ja, verstehe. Wir kümmern uns darum, wenn das Problem auftritt.«

Oliver schaltete weiter zur nächsten Station auf seiner Liste: Das Glass House. Monica meldete sich zurück, was nervig war. Claire unterdrückte das Bedürfnis, mit den Zähnen zu knirschen. Wenigstens lieferte sie eine schnelle Zusammenfassung ab, und als mehr Häuser der Gründerin Bericht erstattet hatten, zeichnete sich überall folgendes Bild ab: Manche Vampire reagierten auf das Signal, andere nicht. Zumindest noch nicht.

Richard hatte seinen Blick nachdenklich in die Ferne gerichtet und am Ende, als alle Berichte durchgegeben waren, drückte er wieder auf den Knopf. »Oliver, hier Richard. Was passiert eigentlich, wenn Sie anfangen, den Zombie zu spielen?«

»Das werde ich nicht«, sagte Oliver.

»Nur falls. Halten Sie mich bei Laune. Wer übernimmt das Ruder?«

Oliver wollte offenbar nicht darüber nachdenken und Claire konnte den kaum unterdrückten Zorn in seiner Stimme hören, als er antwortete. »Sie übernehmen es«, sagte er. »Mir egal, wie Sie das organisieren. Wenn wir die Verteidigung Morganvilles einfachen Menschen überlassen müssen, haben wir schon verloren. Oliver over and out. Nächster Check-in in einer Stunde, ab jetzt.«

Das Walkie-Talkie klickte.

»Das lief ja gut«, bemerkte Dekanin Wallace. »Er hat Sie zum rechtmäßigen Erben der Apokalypse gemacht. Herzlichen Glückwunsch.«

»Yeah, das war eine verdammte Feldbeförderung.« Richard stand auf. »Lasst uns einen Platz für Michael finden.«

»Wir haben ein paar Lagerbereiche im Keller - Stahltüren, keine Fenster. Dorthin werden sie die anderen bringen.«

»Das ist momentan ausreichend. Ich möchte ihn so bald wie möglich ins Gefängnis überführen, um die Sicherheitsverwahrung zu zentralisieren.«

Claire schaute Eve an, dann Michaels schlafendes Gesicht; sie stellte sich ihn allein in einer Zelle vor - denn wie sonst sollte man es nennen? Weggesperrt wie Myrnin.

Myrnin. Sie fragte sich, ob er diese sonderbare Anziehungskraft wohl auch gespürt hatte, und wenn ja, ob sie ihn daran hatten hindern können loszugehen. Wahrscheinlich nicht, wenn er entschlossen war zu gehen. Myrnin gehörte zu diesen unaufhaltsamen Kräften, und wenn er nicht auf einen unbewegbaren Gegenstand stieß...

Sie seufzte und half den anderen, Michael den Gang entlang zu seiner vorübergehenden Gefängniszelle zu tragen, vorbei an den verblüfften Büroangestellten.

***

Das Leben ging seltsamerweise weiter - das Leben der Menschen jedenfalls. Die Leute wagten sich wieder hinaus, räumten die Straßen auf und bargen Dinge aus abgebrannten oder demolierten Häusern. Die Polizei begann, wieder Ordnung herzustellen.

Aber es passierten noch andere Dinge. Menschen versammelten sich an Straßenecken. Sie redeten. Stritten.

Claire gefiel nicht, was sie da sah, und sie ahnte, dass es Hannah und Eve auch nicht gefiel.

Die Stunden verstrichen. Sie fuhren eine Weile herum und berichteten Oliver über die Gruppen, die sie sahen, Die größte davon, die sich im Park gebildet hatte, bestand aus fast hundert Leuten. Irgendein Typ, den Claire nicht kannte, hatte einen Lautsprecher.

»Sal Manetti«, sagte Hannah. »Er war schon immer ein Unruhestifter. Ich glaube, er gehörte eine Weile zu Captain Durchblicks Leuten, aber sie haben sich verkracht. Sal wollte weit mehr Blut sehen und weit weniger reden.«

Das war nicht gut. Es war ganz und gar nicht gut, dass da draußen so viele Leute standen, die ihm zuhörten.

Eve kehrte ins Common Grounds zurück, um Bericht zu erstatten, und genau da fing alles an schiefzugehen.

Hannah fuhr Claire nach Hause, nachdem sie außerdem einen Kofferraum voll Blutpackungen aus dem Vorratskeller der Universität im Common Grounds abgeliefert hatten. Da ertönte plötzlich das Funkgerät in Claires Tasche. Sie loggte sich mit dem Code ein. Kaum war der Kanal frei, drangen ohrenbetäubende Geräusche aus dem Lautsprecher.

Sie dachte, sie hätte Olivers Namen gehört, aber sie war sich nicht sicher. Niemand antwortete auf ihre Fragen, die sie hineinbrüllte. Es kam ihr vor, als hätte jemand mitten in einem Kampf aus Versehen auf den Knopf gedrückt und als wären alle zu beschäftigt, um ranzugehen.

Dann wurde die Übertragung plötzlich unterbrochen.

Claire wechselte einen Blick mit Hannah. »Besser, wir fahren...«

»Zum Common Grounds? Alles klar. Verstanden.«

Als sie dort ankamen, fiel Claire als Erstes das zerbrochene Glas auf. Die Rollläden waren hochgezogen und zwei der Schaufenster waren von innen durchbrochen worden; die Scherben waren bis zur Bordsteinkante geflogen.

Alles wirkte sehr, sehr still.

»Eve?«, stieß Claire hervor; sie verschwand, noch bevor Hannah ihr sagen konnte, dass sie sich nicht vom Fleck rühren sollte. Sie warf sich mit Schwung auf die Eingangstür des Cafes, aber diese öffnete sich nicht und sie war so heftig dagegen geprallt, dass sie sich blaue Flecken holte.

Abgeschlossen.

»Nun warte doch gefälligst!«, herrschte Hannah sie an und packte ihren Arm, als sie versuchte, sich durch eines der zerbrochenen Fenster hindurchzuducken. »Du wirst dich noch schneiden. Warte.«

Sie benutzte das Paintball-Gewehr, das sie bei sich hatte, um einige der noch hervorstehenden scharfen Scherben abzubrechen, und noch bevor Claire vorausstürmen konnte, stellte Sie sich ihr in den Weg und trat als Erste über die niedrige Fensterbank aus Holz. Claire folgte ihr. Hannah versuchte nicht, sie aufzuhalten, wahrscheinlich weil sie wusste, dass das sowieso nichts bringen würde.

»Oh, Mann«, sagte Hannah. Als Claire hinter ihr hineinkletterte, sah sie, dass die meisten Tische und Stühle umgeworfen oder verschoben waren. Überall auf dem Fußboden lag zerbrochenes Geschirr.

Und Leute lagen reglos zwischen den Trümmern. Hannah ging von einem zum anderen und verschaffte sich einen raschen Überblick über ihren Zustand. Soweit Claire sehen konnte, waren es fünf. Bei zwei von ihnen schüttelte Hannah bedauernd den Kopf; die übrigen drei lebten noch, aber sie waren verletzt.

Vampire waren keine mehr im Cafe und von Eve fehlte jede Spur.

Claire glitt hinter den Vorhang an der Kaffeebar. Noch mehr Kampfspuren. Hier war niemand, weder lebendig noch tot. Sie holte tief Luft und öffnete den riesigen Kühlschrank.

Er war mit Blutpackungen gefüllt, aber Leichen waren dort keine.

»Was gefunden?«, fragte Hannah vom Vorhang her.

»Niemand hier«, sagte Claire. »Aber sie haben das Blut dagelassen.«

»Hä? Komisch. Man sollte annehmen, dass sie das mehr als alles andere brauchen. Warum sollte jemand das Café überfallen und das Beste dalassen?« Hannah starrte ausdruckslos und wie aus weiter Ferne auf die Café-Einrichtung, »Das Glas wurde von innen nach außen zerbrochen, nicht umgekehrt. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass jemand durch die Vorder- oder Hintertür eingebrochen ist. Ich glaube nicht, dass jemand von außen angegriffen hat, Claire.«

Ein unheilvolles, bedrückendes Gefühl krach Claire in die Magengegend, als sie die Tür des Kühlschranks schloss. »Glauben Sie, die Vampire haben gekämpft, um hinauszugelangen?«

»Ja. Ja, das glaube ich.«

»Auch Oliver.«

»Oliver, Myrnin, sie alle. Ich glaube, was immer das für ein Signal war, das sie alarmiert hat, es muss auf einer Skala von eins bis zehn auf elf gestellt worden sein.«

»Und wo ist Eve?«, fragte Claire.

Hannah schüttelte den Kopf. »Wir wissen nichts. Das sind alles nur Spekulationen. Lass uns mit den Füßen auf dem Boden bleiben, um dahinterzukommen.« Sie starrte weiterhin nach draußen. »Wenn sie da rausgegangen sind, können die meisten von ihnen eine Weile in der Sonne durchhalten, aber nicht unbeschadet. Manche von ihnen werden überhaupt nicht weit kommen.«

Einige von ihnen, wie der Polizist, den Claire hatte verbrennen sehen, wären schon tot. »Glauben Sie, das ist Mr Bishop?«, fragte sie leise.

»Das hoffe ich.«

Claire blinzelte. »Warum?«

»Wenn nicht, dann ist wohl alles noch weit schlimmer.«