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Claire war sich nicht sicher, ob bereit machen bedeutete, ihr mutiges Gesicht aufzusetzen, die Zähne zu putzen oder viele Waffen einzupacken, aber sie folgte Shane, um zunächst mal Michael Auf Wiedersehen zu sagen.

Michael stand in einem Pulk taff aussehender Typen - einige von ihnen waren Vampire und viele davon hatte Claire noch nie gesehen. Sie sahen nicht besonders glücklich darüber aus, in der Abwehr zu spielen, und sie machten ein Gesicht, als wäre ihnen ein unangenehmer Geruch in die Nase gestiegen, was im Klartext hieß, dass sie eigentlich keine Lust hatten, mit den menschlichen Hilfstruppen herumzuhängen.

Die Nicht-Vampire bei Michael waren älter - hartgesottene Jungs mit dicken Muskeln, die das College schon hinter sich hatten. Trotzdem wirkten sie vor allem nervös.

Shane wirkte im Vergleich zu ihnen beinahe klein - nicht dass er deshalb das Tempo verlangsamt hätte, als er die Defensivlinie durchbrach. Er schubste einen Vampir beiseite und bahnte sich seinen Weg zu Michael; der Vampir ließ seine Eckzähne aufblitzen, aber Shane bemerkte das nicht einmal.

Michael schon. Er trat dem beleidigten Vamp in den Weg, als dieser Shane in den Rücken fallen wollte, und beide erstarrten in ihren Bewegungen - Raubtiere, die sich gegenübertraten. Michael war nicht derjenige, der als Erster den Blick senkte.

Michael hatte jetzt eine seltsame Intensität an sich, die zwar schon immer da gewesen war, aber seit er ein Vampir war, hatte sie sich auf einer Skala von eins bis zehn zu einer Elf gesteigert, fand Claire. Er hatte zwar immer noch sein engelhaftes Aussehen, aber es gab Momente, in denen er eher wie ein gefallener als ein himmlischer Engel aussah. Als er sich ihnen zuwandte, war sein Lächeln jedoch echt und er war voll und ganz der Michael, den sie kannte und mochte.

Er streckte seine Hand zu einem männlichen Händedruck aus. Shane schlug sie zur Seite und umarmte ihn. Man klopfte sich männlich auf den Rücken, und wenn Michaels Augen für einen kurzen Augenblick rot aufgeleuchtet hatten, so hatte es Shane zumindest nicht gesehen.

»Pass auf dich auf, Mann«, sagte Shane. »Diese College-Häschen sind ganz schön wild. Lass dich nicht von ihnen auf eine dieser Alkopop-Partys schleppen. Bleib stark.«

»Du auch«, sagte Michael. »Sei vorsichtig.«

»Mit einem großen schwarzen Imbisswagen in einer Stadt voll ausgehungerter Vampire herumfahren? Yeah. Ich werde den Ball lieber flach halten.« Shane schluckte. »Im Ernst...«

»Ich weiß. Mir geht es genauso.«

Sie nickten einander zu.

Claire und Eve beobachteten sie einen Moment lang. Dann zuckten sie mit den Achseln. »Was?«, fragte Michael.

»Das war es? Das war die große Verabschiedung?«, fragte Eve.

»Was ist daran auszusetzen?«

Claire schaute Eve verblüfft an. »Ich glaube, ich brauche eine Anleitung für Jungs.«

»Jungs sind nicht tiefgründig genug, als dass man eine Anleitung bräuchte.«

»Was habt ihr erwartet, blumige Gedichte?« Shane schnaubte. »Ich habe ihn umarmt. Das war's.«

Michaels Grinsen hielt nicht lange an. Er sah Shane an, dann Claire, zuletzt - und am längsten - Eve. »Lasst nicht zu, dass euch etwas zustößt«, sagte er. »Ich hab euch wirklich gern, Leute.«

»Ebenfalls«, sagte Shane, und das war für Shane geradezu überschwänglich.

Vielleicht hätten sie Zeit gehabt, mehr zu sagen, aber einer der Vampire, die um sie herumstanden, sah genervt und ungeduldig aus und tippte Michael auf die Schulter. Seine bleichen Lippen näherten sich Michaels Ohr.

»Zeit zu gehen«, sagte Michael. Er umarmte Eve heiß und innig und musste sich am Ende aus ihrer Umklammerung befreien. »Trau Oliver nicht über den Weg.«

»Klar, als müsstest du mir das extra sagen«, sagte Eve. Ihre Stimme zitterte wieder. »Michael...«

»Ich liebe dich«, sagte er und küsste sie schnell und leidenschaftlich. »Wir sehen uns bald.«

Er verschwand so schnell, dass man nur noch einen Strich sah, und nahm die meisten Vampire mit. Der Sohn des Bürgermeisters, Richard Morrell, der noch immer seine zerknitterte und vom Rauch versengte Polizeiuniform anhatte, führte die Menschen in einem etwas normaleren Tempo davon.

Eve stand da, ihre vom Küssen feuchten Lippen noch halb geöffnet, und sah betäubt und verblüfft aus. Als sie ihre Sprache wiedergefunden hatte, sagte sie: »Hat er etwa gerade gesagt...?«

»Ja«, sagte Claire und lächelte. »Ja, er hat es gesagt.«

»Wow. Ich denke, dann bleibe ich jetzt wohl besser am Leben.«

Die Menschenmenge, die nun kleiner war als noch vor ein paar Minuten, teilte sich vor ihnen und Oliver schritt durch die Lücke. Der zweitfieseste Vampir der Stadt hatte sein Kostüm abgelegt und trug jetzt schlichtes Schwarz, darüber einen langen schwarzen Ledermantel. Das lange, ergrauende Haar war an seinem Hinterkopf zu einem festen Knoten zusammengefasst und er sah aus, als würde er jedem, der ihm in die Quere kam, egal ob Vampir oder Mensch, den Kopf abreißen.

»Du«,fuhr er Eve an. »Komm mit.«

Er drehte sich auf dem Absatz um und ging davon. Dies war nicht der Oliver, den sie kannten - und schon gar nicht der freundliche Cafebesitzer. Nicht einmal damals, als er als Vampir enttarnt wurde, war er derart heftig gewesen.

Offensichtlich hatte er genug davon, so zu tun, als würde er jemanden mögen.

Eve schaute ihm nach und in ihrem Blick loderte Groll auf.

Schließlich zuckte sie die Achseln und holte tief Luft. »Yeah«, sagte sie. »Das wird bestimmt ein Riesenspaß. Bis dann, Claire-Bär.«

»Bis dann«, sagte Claire. Sie umarmten sich ein letztes Mal, nur so zum Trost, und dann ging Eve mit geradem Rücken und erhobenem Kopf davon.

Wahrscheinlich weint sie, dachte Claire. Eve weinte in solchen Situationen. Wenn es darauf ankam, schien Claire dazu nicht imstande zu sein - so wie jetzt. Es fühlte sich an, als würde sie in Stücke gerissen, und ihr Inneres fühlte sich kalt und leer an. Keine Tränen.

Und nun war es das Herz, das ihr herausgerissen wurde, weil Shane von einer anderen Truppe taff aussehender Vampire und Menschen, die an der Tür standen, ungeduldig gerufen wurde. Er nickte ihnen zu, nahm ihre Hände in seine und schaute ihr in die Augen.

Sag es, dachte sie.

Aber er sagte es nicht. Er küsste nur ihre Hände, drehte sich um und ging weg, wobei er ihr rotes, blutendes Herz hinter sich herschleifte - nur bildlich gesprochen, natürlich.

»Ich liebe dich«, flüsterte sie. Sie hatte es früher schon mal am Telefon sagen wollen, aber da hatte er aufgelegt, bevor sie es herausgebracht hatte. Dann hatte sie es im Krankenhaus zu ihm gesagt, aber da war er mit Schmerzmitteln vollgepumpt gewesen. Und jetzt hatte er sie nicht gehört, weil er wegging.

Aber wenigstens hatte sie den Mumm gehabt, es zu versuchen.

Er winkte ihr von der Tür aus zu, dann war er weg und sie fühlte sich plötzlich sehr einsam auf der Welt - und sehr...

jung. Diejenigen, die noch im Glass House waren, hatten alle auch etwas zu erledigen und sie war im Weg. Sie fand einen Sessel - Michaels Lehnstuhl, wie sich herausstellte - und zog ihre Füße unter ihren Körper. Menschen und Vampire wuselten herum, verrammelten Türen und Fenster, verteilten Waffen und sprachen dabei leise miteinander.

Wäre sie ein unsichtbarer Geist gewesen, hätten sie ihr kaum weniger Aufmerksamkeit geschenkt.

Sie musste nicht lange warten. Wenige Minuten später glitt Amelie die Treppe herunter. Im Schlepptau hatte sie eine ganze Meute Furcht einflößender Vampire und einige wenige Menschen, zwei davon in Polizeiuniform.

Alle waren sie bewaffnet - Messer, Knüppel, Schwerter. Manche hatten Pfähle, unter anderem die Polizisten; sie trugen sie anstelle von Schlagstöcken an ihrem Gürtel. Standardausrüstung für Morganville, dachte Claire und musste ein irres Lachen unterdrücken. Vielleicht haben sie statt Pfefferspray Knoblauchspray bei sich.

Amelie händigte Claire zwei Gegenstände aus: ein dünnes Silbermesser und einen hölzernen Pfahl. »Einen Holzpfahl ins Herz und du streckst einen von uns nieder«, sagte sie. »Um uns zu töten, musst du das Silbermesser benutzen. Keinen Stahl, es sei denn, du willst einem von uns den Kopf abschneiden. Der Pfahl allein reicht nicht aus, es sei denn, du hast sehr viel Glück oder wir sind dem Sonnenlicht schutzlos ausgeliefert, und selbst dann sterben wir umso langsamer, je älter wir sind. Verstehst du?«

Claire nickte wie betäubt. Ich bin sechzehn, wollte sie sagen. Ich bin dafür noch nicht bereit.

Aber irgendwie musste sie das jetzt sein.

Amelies grimmiger, kalter Gesichtsausdruck schien weicher zu werden, nur einen Hauch. »Ich kann Myrnin sonst niemandem anvertrauen. Wenn wir ihn finden, wird es deine Aufgabe sein, ihn zu beaufsichtigen. Er könnte...« Amelie hielt inne, als würde sie nach dem richtigen Wort suchen. »Schwierig sein.« Das war wahrscheinlich nicht das richtige Wort. »Ich will nicht, dass du kämpfst, aber ich brauche dich bei uns.«

Claire hielt den Pfahl und das Messer hoch. »Warum haben Sie mir das dann gegeben?«

»Weil du dich oder ihn vielleicht verteidigen musst. Wenn es dazu kommt, dann möchte ich, dass du nicht zögerst, Kind. Verteidige dich und Myrnin um jeden Preis. Einige von denen, die uns entgegentreten werden, kennst du vielleicht. Lass dich davon nicht aufhalten. Es geht jetzt darum, dass wir überleben.«

Claire nickte benommen. Sie hatte sich selbst vorgemacht, dies alles wäre eine Art Action-Abenteuer-Videogame, wie das, in dem man Zombies töten musste, das Shane so mochte, aber mit jedem ihrer Freunde, der wegging, hatte sie etwas von dieser Distanz verloren. Jetzt holte sie die Realität wieder ein. Menschen würden sterben.

Und sie könnte einer von ihnen sein.

»Ich werde dicht bei Ihnen bleiben«, sagte sie. Amelies kalte Finger berührten sie ganz leicht am Kinn.

»Mach das.« Amelie wandte ihre Aufmerksamkeit den anderen zu, die um sie herumstanden. »Haltet Ausschau nach meinem Vater, aber lasst euch nicht dazu verleiten, gegen ihn anzutreten. Das ist nämlich genau das, was er möchte. Er wird ebenfalls Verstärkung haben und er wird noch mehr Leute sammeln. Bleibt zusammen und passt gegenseitig auf euch auf. Beschützt mich und beschützt das Kind.«

»Ähm... könnten Sie vielleicht aufhören, mich so zu nennen?«, bat Claire. Amelies eisiger Blick fixierte sie in fast menschlicher Verwirrung. »Kind, meine ich. Ich bin kein Kind mehr.«

Die Zeit schien ungefähr hundert Jahre stillzustehen, als Amelie sie anstarrte. Wahrscheinlich war es schon mindestens hundert Jahre her, seit zum letzten Mal jemand gewagt hatte, Amelie auf diese Weise in der Öffentlichkeit zu korrigieren.

Amelie spitzte ein ganz klein wenig die Lippen. »Nein«, sagte sie zustimmend. »Du bist kein Kind mehr, jedenfalls war ich in deinem Alter schon eine Braut und regierte ein Königreich. Ich müsste es eigentlich besser wissen.«

Claire fühlte, wie ihr die Hitze ins Gesicht stieg. Na großartig, sie wurde rot, weil sie jetzt die Aufmerksamkeit aller auf sich gezogen hatte. Amelies Lächeln wurde breiter.

»Ich muss mich berichtigen«, sagte sie zu den Übrigen. »Beschützt diese junge Frau

So fühlte sie sich eigentlich auch nicht, aber Claire wollte den Bogen nicht überspannen. Die anderen Vampire schienen über diese Unterscheidung überwiegend verärgert und die Menschen sahen nervös aus.

»Kommt«, sagte Amelie und wandte sich der leeren Wand am anderen Ende des Wohnzimmers zu. Sie schimmerte wie eine Asphaltstraße im Sommer und Claire fühlte, wie sich die Verbindung öffnete.

Amelie schritt durch die scheinbar bloße Wand. Nach ein oder zwei Sekunden der Überraschung begannen die Vampire, ihr zu folgen.

»Oh Mann, ich kann einfach nicht glauben, dass wir das tun«, flüsterte hinter Claire einer der Polizisten dem anderen zu.

»Ich schon«, flüsterte der andere zurück. »Meine Kinder sind da draußen. Was bleibt mir anderes übrig?«

Claire umklammerte den Holzpfahl und folgte Amelie durch das Portal.

***

Myrnins Labor war auch nicht chaotischer als sonst. Claire war überrascht; irgendwie war sie davon ausgegangen, dass Mr Bishop mit Fackeln und Knüppeln hier gewütet hätte, aber bisher hatte er wohl bessere Ziele gefunden.

Oder vielleicht - nur vielleicht - hatte er es nicht geschafft, hier hereinzukommen. Noch nicht.

Claire schaute sich unruhig im Raum um, der nur von ein paar flackernden Öllampen und elektrischen Lichtern erleuchtet wurde. Sie hatte ein paar Mal versucht, hier aufzuräumen, aber Myrnin hatte sie angefaucht, dass er alles gern so hätte, wie es war, deshalb hatte sie die schiefen Bücherstapel, die unzähligen Glasgefäße auf den Tischen und die Berge von unordentlich gestapelten, gewellten Papieren so gelassen. In der Ecke stand ein kaputter Eisenkäfig - er war deshalb kaputt, weil Myrnin einmal beschlossen hatte, daraus auszubrechen - und sie waren nie dazu gekommen, ihn reparieren zu lassen, als er wieder bei Sinnen war.

Die Vampire flüsterten miteinander, kleine Zischlaute, denen Claire keinerlei Bedeutung entnehmen konnte. Auch sie waren nervös.

Amelie hingegen schien locker und selbstsicher wie immer. Sie schnippte mit dem Finger und zwei der Vampire - große, kräftige, bärenstarke Männer - traten vor. Sie blickte zu ihnen auf.

»Ihr bewacht die Treppe«, sagte sie. »Ihr beiden.« Sie zeigte auf die uniformierten Polizisten. »Ich möchte, dass ihr ebenfalls hierbleibt. Bewacht die Innentüren. Ich bezweifle zwar, dass hier irgend etwas durchkommt, aber es wäre nicht das erste Mal, dass uns Mr Bishop überrascht. Ich werde nicht zulassen, dass ihm das ein weiteres Mal gelingt.«

Damit waren sie nur noch halb so viele. Claire schluckte schwer und schaute die beiden Vampire und den einen Menschen an, die jetzt noch bei ihr und Amelie waren. Die beiden Vampire kannte sie flüchtig. Sie waren Amelies persönliche Bodyguards und einer davon hatte sie bisher zumindest einigermaßen anständig behandelt.

Der Mensch war eine taff aussehende Afroamerikanerin mit einer Narbe im Gesicht, die von ihrer linken Schläfe über die Nase bis hinunter zu ihrer rechten Wange verlief. Sie bemerkte, dass Claire sie musterte, und schenkte ihr ein Lächeln. »Hey«, sagte sie und streckte ihr ihre große Hand hin. »Hannah Moses. Moses Autowerkstatt.«

»Hey«, sagte Claire und schüttelte ihr verlegen die Hand. Die Frau hatte Muskeln - ihr Bizeps war zwar nicht ganz so groß wie Shanes, aber definitiv größer, als die meisten Frauen für nützlich befunden hätten. »Sind Sie Mechanikerin?«

»Ich bin das Mädchen für alles«, sagte Hannah. »Mechanikerin auch. Aber früher war ich bei den Marines.«

»Oh.« Claire blinzelte.

»Die Autowerkstatt hat meinem Dad gehört, als er noch gelebt hat. Ich habe ein paar Einsätze in Afghanistan hinter mir und bin vor Kurzem zurückgekehrt - dachte eigentlich, ich lass es jetzt mal eine Weile ruhig angehen.« Sie zuckte die Achseln. »Aber so wie es aussieht, ziehe ich Schwierigkeiten magisch an. Hör mal, wenn es zu einem Kampf kommt, dann bleib dicht bei mir, okay? Ich passe auf dich auf.«

Claire war so erleichtert, dass sie ihr fast um den Hals gefallen wäre. »Danke.«

»Keine Ursache. Wie alt bist du, fünfzehn?«

»Fast siebzehn.« Claire war der Meinung, dass sie ein T-Shirt bräuchte, auf dem das stand; das würde viel Zeit sparen. Oder vielleicht eine Art Anstecker.

»Oh. Dann bist du ungefähr so alt wie mein kleiner Bruder. Er heißt Leo. Ihr solltet euch unbedingt mal kennenlernen.«

Claire bemerkte, dass Hannah einfach nur plauderte, ohne wirklich darüber nachzudenken, was sie sagte; sie ließ dabei Amelie nicht aus den Augen, die sich ihren Weg um Bücherstapel herum zu der Tür auf der anderen Seite des Raumes gebahnt hatte.

Hannah schien nichts zu entgehen.

»Claire«, sagte Amelie. Claire wich Bücherstapeln aus und trat an ihre Seite. »Hast du diese Tür abgeschlossen, als du weggegangen bist?«

»Nein. Ich hatte vor, auf diesem Wege wieder zurückzukommen.«

»Interessant. Denn irgendjemand hat sie abgeschlossen.«

»Myrnin?«

Amelie schüttelte den Kopf. »Bishop hat ihn sich geschnappt. Er ist nicht auf diesem Weg zurückgekommen.«

Claire beschloss, nicht zu fragen, woher sie das wusste. »Wer sonst...« Und dann fiel es ihr ein. »Jason.« Eves Bruder hatte über die Portale Bescheid gewusst, die zu verschiedenen Zielen in der Stadt führten - vielleicht hatte er nicht gewusst, wie sie funktionierten (das wusste Claire auch nicht so genau), aber er war definitiv dahintergekommen, wie man sie benutzte. Außer Claire, Myrnin und Amelie verfügte nur Oliver über dieses Wissen und von ihm wusste sie, wo er sich seit ihrer Begegnung mit Mr Bishop aufgehalten hatte.

»Ja«,stimmte Amelie zu. »Der Junge wird zu einem Problem.«

»Das ist noch untertrieben, wenn man bedenkt, dass er... Sie wissen schon.« Claire deutete einen Stoß mit einem Pfahl an, aber nicht in Amelies Richtung - denn das wäre so, als würde jemand mit einer geladenen Kanone auf Superman zielen. Einer von beiden würde verletzt werden, und zwar nicht Superman.

»Ähm... was ich fragen wollte, sind Sie...?«

Amelie wandte den Blick von ihr ab und schaute zur Tür.

»Bin ich was?«

»Okay?« Immerhin hatte sie noch vor nicht allzu langer Zeit einen Pfahl in der Brust stecken gehabt und darüber hinaus hatten alle Vampire Morganvilles einen Schwachpunkt, ob sie davon wussten oder nicht: Sie waren ernsthaft erkrankt an etwas, das Claire insgeheim Vampiralzheimer nannte.

Und es war letzten Endes tödlich.

Der Großteil der Stadt war diesbezüglich ahnungslos, denn Amelie fürchtete sich zu Recht davor, was passieren könnte, wenn alle - gleichgültig ob Vampire oder Menschen - davon wüssten. Amelie hatte die Symptome der Krankheit, aber bisher waren sie schwach. Es dauerte Jahre, bis sie sich entwickelten, deshalb waren sie noch eine Weile sicher.

Zumindest hoffte Claire, es würde Jahre dauern.

»Nein, ich bezweifle, dass ich in Ordnung bin. Aber es ist wohl kaum der richtige Zeitpunkt, mich zu schonen.« Amelie konzentrierte sich auf die Tür. »Wir werden den Schlüssel brauchen, um sie zu öffnen.«

Das war ein Problem, denn der Schlüssel war nicht dort, wo er sein sollte. Der Schlüsselbund war nicht mehr dort, wo Claire ihn immer aufbewahrte, in einer ramponierten, durchhängenden Schublade, und je mehr sich Claire durch den ganzen Krempel wühlte, desto unruhiger wurde sie. Myrnin bewahrte das irrste Zeug auf... Bücher, natürlich, sie liebte Bücher; kleine, verkrüppelte, tote Dinge, in Alkohol eingelegt, mochte sie weniger. Er bewahrte auch Gläser voll Erde auf - zumindest hoffte sie, dass es Erde war. Manches davon war rot und flockig und sie fürchtete sehr, es könnte Blut sein.

Die Schlüssel waren nicht da. Ebenso einige andere Dinge -  wichtige Dinge.

Mit sinkendem Mut zog Claire die halb kaputte Schublade heraus, in der sie die Tasche mit all den Betäubungsutensilien und Myrnins Arzneivorrat aufbewahrte.

Weg. Nur eine Spur im Staub verriet, wo sie einmal gelegen hatten.

Das bedeutete, dass sie keine zuverlässige Betäubungswaffe zur Hand hätte, falls - wenn - Myrnin gewalttätig wurde. Auch der coole, zuverlässige Füller war weg, mit dem man die Medizin, die sie für alle Fälle darin eingefüllt hatte, im Notfall injizieren konnte. Er befand sich nämlich in dem Beutel mit der Arznei. Die Ausstattung, die sie auf den Ball mitgenommen hatte, war verloren gegangen.

Aber was noch schlimmer war: Außer einigen kleinen Phiolen, die sie in ihrer Tasche hatte, hatte sie überhaupt keine Medizin mehr für ihn.

Kurz gesagt: Sie waren total am Arsch.

»Genug«, sagte Amelie und wandte sich an einen ihrer Bodyguards. »Ich weiß, das ist nicht einfach, aber würden Sie vielleicht?«

Er nickte ihr höflich zu, trat vor und nahm das Schloss in seine Hand.

Seine Hand ging in Flammen auf.

»Oh mein Gott!«, platzte Claire heraus und schlug die Hand vor den Mund, denn der Vampirtyp ließ nicht los. Sein Gesicht war schmerzverzerrt, aber er hielt irgendwie durch und zerrte und drehte an dem versilberten Schloss, bis er es unter dem Kreischen von Metall losgerissen hatte. Auch die Schließe fiel von der Tür.

Er ließ sie auf den Boden fallen. Seine Hand brannte immer noch. Claire ergriff den erstbesten Gegenstand, der ihr in die Hände fiel - ein schäbiges altes Hemd, das Myrnin auf den Boden geworfen hatte -, und schlug das Feuer aus. Sie würgte trocken, als sie verbranntes Fleisch roch und sah, was von seiner Hand noch übrig geblieben war. Er schrie nicht. Fast hätte sie das für ihn übernommen.

»Eine Falle«, sagte Amelie. »Von meinem Vater. Gérard, sind Sie in der Lage weiterzumachen?«

Er nickte, als er das Hemd um seine ruinierte Hand wickelte. Kleine rosa Schweißperlen standen ihm auf der Stirn - Blut, bemerkte Claire, als ein kleines Rinnsal davon über sein bleiches Gesicht lief. Sie erkannte es, weil sie, völlig erstarrt, direkt vor ihm stand. Seine Augen leuchteten rot auf.

»Weg da«, knurrte er sie an. »Bleib hinter uns.« Und dann, nach einer kleinen Pause, sagte er: »Danke.«

Hannah packte sie am Arm und zog sie in die hintere Ecke, außer Vampirreichweite. »Er braucht Nahrung«, sagte sie leise. »Gérard ist gar nicht so übel, aber du solltest dich nicht allzu bereitwillig für Fressattacken zur Verfügung stellen. Denk daran, dass wir wandelnde Snackautomaten sind.«

Claire nickte. Amelie legte den Finger in das Loch, das das kaputte Schloss hinterlassen hatte, und zog die Tür auf... dahinter nichts als Dunkelheit.

Hannah schwieg. Claires Arm ließ sie nicht los.

Einen Augenblick lang passierte gar nichts, dann flackerte die Finsternis. Verschob sich. Dinge tauchten auf und verschwanden wieder im Schatten, da wusste Claire, dass Amelie die Ziele verschob und versuchte, das Ziel zu finden, das sie wollte. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, aber dann machte Amelie abrupt einen Schritt zurück. »Jetzt«, sagte sie und ihre beiden Bodyguards sprangen in die, wie es aussah, komplette Finsternis vor ihnen und verschwanden. Amelie warf einen Blick zurück zu Hannah und Claire und ihre schwarzen Pupillen wurden rasch größer, bis sie die graue Iris ihrer Augen bedeckten, um sich auf die Dunkelheit vorzubereiten.

»Bleibt dicht bei mir«, sagte sie. »Das wird gefährlich.«