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Sie verließen das Museum durch eine Seitentür. Es war riskant, sich in die Nacht zu wagen, die draußen immer noch herrschte. Aber die einzige Möglichkeit, das Museum zu verlassen, bestand darin, wieder in die Dunkelheit hinauszugehen. Niemand protestierte gegen diese Entscheidung.
»Vorsicht«. sagte Amelie mit sehr leiser Stimme, die kaum über die Schatten hinausdrang. »Ich habe meine Kräfte zusammengezogen. Mein Vater tut das Gleiche. Er wird Wachen postiert haben, vor allem hier.«
Die Flammen hatten Founder's Square noch nicht erreicht - genau dort kamen sie nämlich heraus, im Zentrum des Vampirterritoriums. Allerdings sah er nicht wie der ruhige, ordentliche Platz aus, an den sich Claire erinnerte; die Lichter waren alle aus und die Läden und Restaurants, die ihn säumten, waren geschlossen und leer.
Selbst der Platz sah aus, als hätte er Angst.
Nur auf den Marmorstufen vor dem Gebäude des Ältestenrates, wo Bishops Willkommensball stattgefunden hatte, war Bewegung zu sehen. Gérard zischte eine Warnung, sie erstarrten alle und verharrten still und reglos in der Dunkelheit. Hannahs Griff um Claires Arm fühlte sich an wie ein Eisenband.
Drei Vampire standen dort und beobachteten die Umgebung.
Wachposten.
»Los.« Amelies Flüstern war so leise wie ein Geist. »Lauft, aber passt auf.«
Sie erreichten den Rand des Schattens an der Ecke des Gebäudes. aber gerade als Claire anfing, sich ein wenig zu entspannen, schossen Amelie, Gérard und der andere Bodyguard in alle Richtungen davon.
Einen schrecklichen Augenblick lang konnte sich Claire überhaupt nicht rühren, dann riss Hannah sie zu Boden und drückte ihr das Gesicht ins Gras. Claire keuchte, erwischte einen Mundvoll knirschende Erde und bitteres Chlorophyll und rang nach Atem. Hannahs schweres Gewicht hielt sie unten; die Frau stützte sich mit den Ellbogen auf Claires Rücken ab.
Sie schießt mit dem Gewehr, dachte Claire und versuchte, den Kopf zu heben, um zu sehen, wohin Hannah feuerte.
»Kopf runter!«, schnauzte Hannah sie an und stieß mit einer Hand Claires Kopf nach unten, während sie mit der anderen weiterfeuerte. Den Schreien in der Dunkelheit nach zu urteilen, hatte sie getroffen. »Steh auf! Lauf!«
Claire war nicht schnell genug, um es mit Marines oder Vampiren aufzunehmen, und bevor sie es sich versah, wurde sie in halsbrecherischer Geschwindigkeit durch die Nacht geschleift und gezerrt. Schatten, dunkle Gebäude, bleiche Gesichter und der ungute orangefarbene Schimmer der Flammen in der Ferne verwischten zu einem unscharfen Nebel.
»Was ist das?«, schrie sie.
»Spähtrupps.« Hannah schoss weiterhin nach hinten. Sie feuerte nicht wild um sich, ganz und gar nicht; es schien, als würde sie vor jedem Schuss ein, zwei Sekunden warten, um ihr Ziel zu wählen. Die meisten Schüsse schienen Treffer zu sein, dem Schreien, Knurren und Kreischen nach zu urteilen. »Amelie! Wir müssen hier raus, sofort!«
Amelie schaute zu ihnen zurück, ihr Gesicht blitzte in der Finsternis bleich auf, als sie nickte.
Sie rannten die Stufen eines anderen Gebäudes am Founder's Square hinauf. Claire konnte nicht mehr als einen vagen Eindruck davon erhaschen - irgendein offizielles Gebäude mit Säulen an der Fassade und großen Steinlöwen, die auf der Treppe ihre Zähne fletschten. Die kleine Gruppe hielt oben an der Treppe vor einer verschlossenen weißen Tür ohne Knauf an.
Gérard wollte sich schon dagegenwerfen. Aber Amelie hielt ihn mit ausgestreckter Hand auf. »Das wird nichts helfen«, sagte sie. »Sie kann nicht mit Gewalt geöffnet werden. Lass es mich tun.«
Der andere Vampir wandte sich ab und schaute die Treppe hinunter. Er sagte: »Glaube kaum, dass wir Zeit für schöne Worte haben, Ma'am. Was sollen wir Ihrer Meinung nach tun?« Er hatte einen schleppenden texanischen Akzent, das hatte Claire noch nie bei einem Vampir gehört. Überhaupt hatte sie ihn noch nie zuvor sprechen hören.
Nun zwinkerte er ihr auch noch zu, was sie noch viel schockierender fand. Bis zu diesem Moment hatte er sie noch nicht einmal als eine reale Person wahrgenommen.
»Einen Augenblick«, murmelte Amelie.
Der Texaner hinter ihnen nickte. »Glaube nicht, dass uns einer bleibt, Ma'am.«
Unten an der Treppe versammelten sich Schatten in der Dunkelheit - der Spähtrupp, auf den Hannah geschossen hatte. Es waren mindestens zwanzig. An der Spitze stand Ysandre, die Vampirin, die Claire vermutlich mehr hasste als jeden anderen Vampir auf der ganzen Welt. Sie war durch und durch Bishops Mädchen - Amelies Vampirschwester, falls Vampire überhaupt einen Sinn für so etwas hatten.
Claire hasste Ysandre um Shanes willen. Sie war froh dass die Vampirin hier war und nicht Shanes Blutmobil angriff - erstens war sie sich nicht so sicher, ob Shane ihr widerstehen konnte, und zweitens wollte sie Ysandre selbst pfählen.
Höchstpersönlich.
»Nein«, sagte Hannah, als Claire einen Schritt hinter ihr vortrat. »Bist du wahnsinnig? Zurück!«
Hannah schoss über ihre Schulter. Es war die äußerste Reichweite eines Paintballgewehrs, aber die Kugel traf einen der Vampire direkt in die Brust. Es war nicht Ysandre, wie Claire enttäuscht feststellte. Ein tödlicher Nebel aus Silberstaub erhob sich und die enge Formation stob auseinander. Ysandre hatte vielleicht ein paar Verbrennungen abbekommen, doch nichts, was nicht heilen würde.
Der Vampir, den Hannah an der Brust getroffen hatte, schwankte und stürzte rauchend und um sich schlagend auf die Marmortreppe.
Amelie schlug mit der flachen Hand gegen die Tür und schloss die Augen; tief in dem Hindernis ächzte und verschob sich etwas mit dem Geräusch von kreischendem Metall. »Hinein«, murmelte Amelie immer noch verdammt beherrscht und Claire wirbelte herum und folgte den drei Vampiren über die Schwelle. Hannah folgte ihnen rückwärts, griff nach der Tür und schlug sie zu.
»Keine Verriegelung«, sagte sie.
Amelie langte hinüber und legte ihre Hand beruhigend auf Hannahs Hand am Auslöser. »Es ist keine nötig. Sie werden nicht hereingelangen.« Amelie klang, als wäre sie sich sicher. Dem Blick nach zu urteilen, den Hannah weiterhin der Tür zuwarf war sie nicht davon überzeugt - sie sah aus, als wünschte sie, die Tür kraft ihres Blickes zuschweißen zu können. »Hier entlang. Wir nehmen die Treppe.«
Es handelte sich um eine Bibliothek voller Bücher. Einige - zumindest in diesem Stockwerk - waren neu oder zumindest einigermaßen. Sie hatten farbenfrohe Buchrücken und knackige Titel, die Claire selbst bei dem schwachen Licht lesen konnte. Sie verlangsamte ihre Schritte ein wenig und blinzelte. »Ihr habt hier tatsächlich Vampirromane?« Keiner der Vampire antwortete. Amelie bog scharf rechts ab und steuerte durch die zwei Stockwerke hohen Regale auf die beeindruckende Marmortreppe an ihrem Ende zu. Die Bücher wurden älter, das Papier vergilbter. Claire fiel ein Schild ins Auge, auf dem VOLKSKUNDE, CA. 1870-1945, ENGLISCH stand, und ein anderes für den Bereich DEUTSCH. Dann FRANZÖSISCH. Danach folgte eine Schrift, die vielleicht Chinesisch war.
So viele Bücher, und soweit sie sehen konnte, hatte jedes einzelne von ihnen irgendwie mit Vampiren zu tun. War das für sie nun Geschichte oder Fiktion?
Claire hatte keine Zeit, näher darüber nachzudenken. Sie nahmen die geschwungene Treppe hinauf zur nächsten Ebene.
Claires Wadenmuskeln schmerzten, das Adrenalin jagte ihr durch die Adern und die anhaltende Belastung ließ sie nach Luft schnappen. Hannah warf ihr ein rasches, mitfühlendes Lächeln zu. »Ja«, sagte sie. »Betrachte es als militärische Grundausbildung. Kannst du noch?«
Claire nickte keuchend.
Noch mehr Bücher - alte, zerfallende. Es roch nach trockenem Leder und altem Papier. Weiter hinten im Raum befanden sich Gestelle, die wie Weinregale aussahen, diese schicken x-förmigen Dinger, die sich die Leute in den Keller stellten nur dass diese hier Papierrollen enthielten, die sauber zusammengebunden waren. Es handelte sich um Schriftrollen, die vermutlich sehr alt waren. Claire hoffte, dass sie in diese Richtung weitergehen würden, aber nein: Amelie führte sie einen weiteren Gang mit Büchern entlang zu einer leeren weißen Wand.
Nein, nicht ganz leer. Ein kleines Gemälde in einem überladenen Goldrahmen hing dort. Irgendeine langweilige Landschaft... und dann, als Amelie es anstarrte, veränderte sich das Gemälde.
Es wurde dunkler, als wären Wolken über der Wiese und den dösenden Schafen auf dem Bild aufgezogen.
Und dann war es dunkel, nur eine dunkle Leinwand, dann ein paar Nadelstreifen Licht, wie Kerzenflammen in Rauch....
Und dann sah Claire Myrnin.
Er war in Ketten, silberfarbenen Ketten, und er kniete mit gesenktem Kopf am Boden. Noch immer trug er die weite weiße Hose seines Pierrot-Kostüms, aber kein Hemd. Die nassen Spitzen seines feuchten Haares klebten in seinem Gesicht und auf seinen alabasterfarbenen Schultern.
Amelie nickte kurz und legte ihre Hand links neben das Bild. Dabei drückte sie auf etwas, das wie ein Nagel aussah, woraufhin ein Teil der Wand in geölten Angeln zurückschwang.
Geheimtüren - Vampire schienen sie zu lieben.
Auf der anderen Seite war es dunkel. »Oh, verdammt«, hörte Claire Hannah murmeln. »Nicht schon wieder.«
Amelie warf ihr einen Blick zu, in dem ein Anflug von Amüsiertheit lag. »Das ist eine andere Art von Dunkelheit«, sagte sie. »Und von diesem Punkt an werden ganz andere Gefahren auf uns zukommen. Alles kann sich sehr schnell ändern. Ihr müsst euch anpassen.«
Dann trat sie hindurch; die Vampire folgten ihr augenblicklich und nur noch Claire und Hannah waren übrig. Claire streckte ihre Hand aus. Hannah, die noch immer den Kopf schüttelte, ergriff sie und die Finsternis umhüllte sie wie ein feuchter Samtvorhang.
Zischend wurde ein Streichholz angezündet, in der Ecke flackerte es hell auf. Amelies Gesicht sah im Licht der leckenden Flamme wie Elfenbein aus. Sie hielt das Streichholz an eine Kerze und ließ sie brennen, während sie eine kleine Taschenlampe anschaltete und ihren Lichtkegel durch den Raum wandern ließ. Kisten. Es war eine Art Lagerraum, der staubig und unbenutzt war. »Gut«, sagte sie. »Gérard, würdest du bitte?«
Er machte eine weitere Tür einen Spalt auf, nickte und öffnete sie weit genug, um hindurchzuschlüpfen.
Noch ein Gang. Claire hatte allmählich die Nase voll von Gängen und so langsam sahen sie alle gleich aus. Wo waren sie jetzt überhaupt? Es sah aus wie eine Art Hotel. An den schweren, polierten Türen hingen Messingschildchen, auf denen jedoch keine Zimmernummern standen, sondern je eines der Vampirzeichen wie das auf Claires Armband. Jeder Vampir hatte so eines, zumindest nahm sie das an. Und was sollte das jetzt sein? Zimmer? Grabkammern? Claire glaubte, hinter einer der Türen etwas zu hören - gedämpfte Geräusche, Pochen, Kratzen. Sie hielten jedoch nicht an -, und sie war sich auch gar nicht so sicher, ob sie mehr darüber erfahren wollte.
Amelie brachte sie zum Stehen, als sich der Gang gabelte. Beide Abzweigungen lagen verlassen da, es war auch sehr verwirrend: Claire konnte die einzelnen Gänge nicht auseinanderhalten. Vielleicht sollten wir Brotkrumen streuen, dachte sie. Oder M&M's. Oder Blut.
»Myrnin ist in einem Zimmer auf diesem Gang«, sagte Amelie. »Das ist ganz eindeutig eine Falle und ganz eindeutig gilt sie mir. Ich bleibe hier zurück und sichere euren Fluchtweg. Claire.« Ihre blassen Augen fixierten Claire mit gnadenloser Intensität. »Was immer passiert, du musst Myrnin sicher herausholen. Hast du mich verstanden? Lass nicht zu, dass er in Bishops Händen bleibt.«
Was sie damit sagen wollte: Alle anderen sind entbehrlich. Claire wurde ganz elend zumute, unwillkürlich musste sie Hannah anschauen und sogar die beiden Vampire. Gérard zuckte die Achseln, so leicht, dass sie dachte, sie hätte es sich vielleicht nur eingebildet.
»Wir sind Soldaten«, sagte Gérard. »Nicht wahr?«
Hannah lächelte. »Auf jeden Fall.«
»Hervorragend. Sie werden meine Befehle befolgen.«
Hannah salutierte - mit einer winzigen Spur von Ironie. »Jawoll, Sir, Gruppenführer, Sir.«
Gérard wandte seine Aufmerksamkeit Claire zu. »Du bleibst hinter uns. Hast du verstanden?«
Sie nickte. Ihr wurde gleichzeitig kalt und heiß und ihr war ein wenig übel. Der Holzpfahl in ihrer Hand fühlte sich nach verdammt wenig an, wenn man mal darüber nachdachte. Aber es blieb keine Zeit für Zweifel, denn Gérard hatte sich umgedreht und ging bereits den Gang entlang, flankiert von dem anderen Vampir. Hannah winkte Claire, ihr zu folgen.
Amelies kühle Finger strichen ihr über die Schulter. »Sei vorsichtig.«
Claire nickte und machte sich auf, einen verrückten Vampir vor einem schrecklichen Vampir zu retten.
***
Die Tür zerschel1te unter Gérards Tritt. Das war keine Übertreibung; abgesehen von dem Holz um die Angeln zerbrach alles in handgroße Stücke und Splitter. Noch bevor dieser Trümmerregen den Boden erreichte, war Gérard schon drin und stürmte nach links während sein Kollege rechts vorrückte. Hannah trat ein und eilte, ihre Waffe im Anschlag, einmal von einer Seite des Raumes zur anderen, dann nickte sie Claire knapp zu.
Myrnin war genau in der Position, wie sie ihn auf dem Bild gesehen hatte - er kniete in der Mitte des Raumes, durch stramm gezogene silberne Ketten fixiert. Die Ketten hatten doppelte Stärke und waren durch massive Stahlbolzen gezogen, die im Steinboden verankert waren.
Er zitterte am ganzen Körper, und wo die Ketten ihn berührten, hatte er Striemen und Verbrennungen.
Gérard fluchte leise vor sich hin und trat kräftig gegen die Ringbolzen am Boden. Sie verbogen sich, brachen aber nicht ab.
Schließlich hob Myrnin den Kopf und unter dem verschwitzten dunklen Haarschopf sah Claire wilde schwarze Augen und ein Lächeln, bei dem sich ihr der Magen zusammenzog.
»Ich wusste, ihr würdet kommen«, flüsterte er. »Ihr Narren.
Wo ist sie? Wo ist Amelie?«
»Hinter uns«, sagte Claire.
»Ihr Narren.“
»Nette Art, mit seinen Rettern zu reden«, sagte Hannah. Sie war nervös, bemerkte Claire, auch wenn sich die Frau sehr gut unter Kontrolle hatte. »Gérard? Das gefällt mir nicht. Es ist zu einfach.«
»Ich weiß.« Er kauerte nieder und schaute sich die Ketten an. »Mit Silber beschichtet. Ich kann sie nicht zerreißen.«
»Wie sieht es mit den Bolzen im Boden aus?«, fragte Claire. Anstatt einer Antwort packte Gérard den Rand der Metallplatte und drehte daran. Der Stahl verbog sich wie Alufolie und löste sich mit einem durchdringenden Kreischen vom Steinboden. Myrnin schwankte, als ein Teil seiner Fesseln abfiel, und Gérard gab seinem Partner durch eine Geste zu verstehen, dass er die beiden hinteren Platten bearbeiten sollte, während er sich der zweiten an der Vorderseite zuwandte.
»Zu leicht, zu leicht«, murmelte Hannah weiter vor sich hin.
»Warum hätte Bishop das tun sollen, wenn er ihn jetzt einfach gehen lässt?«
Die Ringbolzen waren jetzt alle herausgerissen und Gérard nahm Myrnin am Arm, um ihm auf die Füße zu helfen.
Myrnins Augen überzogen sich mit einem leuchtenden Rubinrot, er schüttelte Gérard ab und ging direkt auf Hannah los.
Hannah sah ihn kommen und richtete ihr Gewehr auf ihn, aber bevor sie schießen konnte, schlug Gérards Partner ihre Hand zur Seite, sodass der Schuss danebenging und die Steinwand auf der anderen Seite des Raumes traf. Silbersplitter stoben durch die Luft und hinterließen winzige Verbrennungen, wo sie auf der Haut der Vampire landeten. Die beiden Bodyguards wichen zurück.
Myrnin packte Hannah an der Gurgel.
»Nein!«, schrie Claire und duckte sich unter Gérards Hand durch, der sie zurückhalten wollte. Sie riss ihren Holzpfahl hoch.
Myrnin drehte den Kopf und grinste sie an, wobei seine mörderischen Vampirzähne aufblitzten. »Ich dachte, du bist gekommen, um mich zu retten, Claire, und nicht, um mich zu töten«, schnurrte er und wandte sich wieder seiner Beute zu. Hannah fummelte mit ihrer Waffe herum und versuchte, sie wieder in Position zu bringen. Er streifte sie ihr mit verächtlicher Ruhe ab.
»Ich bin gekommen, um Sie zu retten«, sagte Claire, und bevor sie auch nur darüber nachdenken konnte, was sie da tat, hieb sie den Pfahl auf der linken Seite in Myrnins Rücken, an der Stelle, wo sie sein Herz vermutete.
Er gab einen überraschten, hustenartigen Laut von sich und kippte in Hannahs Richtung. Seine Hand glitt von ihrem Hals und tastete blind nach ihren Kleidern, bevor er schlaff zu Boden fiel.
Offenbar war er tot.
Gérard und sein Partner schauten Claire an, als hätten sie sie nie zuvor gesehen, und dann brüllte Gérard. »Was glaubst du eigentlich, was du da...«
»Hebt ihn auf«, sagte Claire. »Wir können den Pfahl später herausholen. Er ist alt. Er wird es überleben.«
Das klang eiskalt und Furcht einflößend und sie hoffte, dass es stimmte. Amelie hatte es jedenfalls überlebt und sie wusste, dass Myrnin so alt war wie sie oder sogar noch älter. Dem Blick nach zu urteilen, den Gérard ihr zuwarf, überdachte dieser gerade ganz neu sein bisheriges Bild von dem süßen, verletzlichen kleinen Menschen, für den er das Kindermädchen gespielt hatte. So ein Pech. Claire dachte, dass eine ihrer Stärken darin bestand, dass sie immer von allen unterschätzt wurde.
Äußerlich war sie ganz cool, innerlich zitterte sie jedoch. Denn obwohl das gerade die einzige Möglichkeit gewesen war, Myrnin ohne Beruhigungsmittel ruhigzustellen und zu verhindern, dass er Hannah die Kehle aufriss, hatte sie soeben ihren Boss umgebracht.
Nicht gerade ein cleverer Schritt auf der Karriereleiter, könnte man meinen.
Amelie wird helfen, dachte sie ein wenig verzweifelt und Gérard warf sich Myrnin wie ein Feuerwehrmann über die Schulter. Dann rannten sie schnell zurück den Gang entlang zu der Stelle, an der Amelie geblieben war, um ihren Rückzug zu sichern.
Gérard blieb so abrupt stehen, dass Hannah und Claire fast mit ihm zusammenstießen. »Was?«, flüsterte Hannah und schaute an den beiden Vampiren vor ihnen vorbei nach vorne.
Amelie war vor ihnen an der Ecke, aber drei Meter hinter ihr stand Mr Bishop.
Reglos standen sie sich gegenüber. Amelie sah verletzlich zart aus im Vergleich zu ihrem Vater in seinem Bischofsgewand. Er wirkte uralt und böse und das Feuer in seinen Augen sah aus wie etwas aus der Geschichte von Johanna von Orleans.
Keiner von ihnen rührte sich. Irgendeine Art Kampf spielte sich hier ab, aber Claire hätte nicht sagen können, was genau es war oder was es bedeutete.
Gérard packte Hannah und sie am Arm, um sie zurückzuhalten. »Nein«, sagte er scharf. »Geht nicht in ihre Nähe.«
»Das Problem, Sir, besteht darin, dass das der Weg nach draußen ist«, sagte Hannah. »Und der Kerl da ist allein.«
Gérard und der Texaner warfen ihr einen wilden Blick zu und sahen sich in ihrer Fassungslosigkeit beinahe ähnlich. »Denkst du?«, sagte der Texaner. »Menschen!«
Amelie machte einen Schritt zurück, nur einen kleinen, aber ein Schauder durchlief ihren Körper und Claire wusste - sie wusste es einfach -, dass das ein schlechtes Omen war. Ein sehr schlechtes.
Was für eine Konfrontation auch immer hier stattgefunden hatte, sie wurde unterbrochen.
Amelie wirbelte zu ihnen herum und brüllte: »Lauft!« Wut und Angst lagen in ihrer Stimme und Gérard ließ Claire und Hannah los und ließ Myrnin von seinen Schultern in die Arme der beiden Mädchen fallen. Er und der Texaner stürmten los, aber nicht zum Ausgang, sondern an Amelies Seite.
Sie kamen gerade rechtzeitig, um zu verhindern, dass ihr Bishop die Kehle aufschlitzte. Sie knallten den alten Mann gegen die Wand, aber da kamen schon weitere Vampire in den Gang geeilt. Bishops Leute, nahm Claire an.
Und es waren viele.
Amelie hielt den ersten von Bishops Vampiren auf, der in ihre Richtung rannte. Claire kannte ihn flüchtig als einen der Vamps von Morganville, aber offensichtlich hatte er die Seite gewechselt und ging mit gefletschten Vampirzähnen auf Amelie los.
Schnell wie eine Schlange warf sie ihn mit einer einzigen Drehbewegung zu Boden. Dann blickte sie sich nach Hannah und Claire um und nach Myrnin, der wie ein nasser Sack zwischen ihnen hing. »Schafft ihn raus!«, schrie sie. »Ich halte euch den Rücken frei!«
»Los, komm«, sagte Hannah und schulterte den massigen Myrnin. »Gehen wir.«
Myrnin fühlte sich kalt und schwer an, wie der tote Mann, der er war, und Claire schluckte die aufsteigende Übelkeit hinunter, als sie versuchte, seinen schlaffen Körper zu stützen. Claire biss die Zähne zusammen. Halb trugen, halb schleiften sie Myrnins gepfählten Körper den Gang entlang. Hinter ihnen gingen die Kämpfe weiter - hauptsächlich hörte man, wie Leute zu Boden gingen. Kein Geschrei, kein Rufen.
Vampire kämpften schweigend.
»Also gut«, sagte Hannah keuchend. »Wir sind jetzt allein.«
Das waren nun wirklich keine guten Neuigkeiten - zwei Menschen, die Gott weiß wo mit einem durchgeknallten, gepfählten Vampir mitten in einem Kriegsgebiet feststeckten.
»Gehen wir zur Geheimtür zurück«, sagte Claire.
»Und wie wollen wir da hindurchgehen?«
»Ich kann das.«
Hannah warf ihr einen Blick zu. »Du?«
Es war nicht der richtige Zeitpunkt, sich darüber zu ärgern; hatte sie nicht eben noch gedacht, dass Unterschätzt-zu-werden ein Geschenk sei? Na ja, manchmal auch nicht. »Doch, wirklich. Ich kann das. Aber wir beeilen uns besser.« Die Chancen standen nicht gerade gut für Amelie. Vielleicht würde sie ausharren und ihnen den Rückzug ermöglichen, aber Claire glaubte nicht, dass sie gewinnen konnte.
Sie und Hannah schleiften Myrnin an den mit Symbolen versehenen Türen vorbei. Hannah zählte sie ab und machte eine Kopfbewegung zu der Tür hin, durch die sie hereingekommen waren.
Es war keine große Überraschung, dass sie mit dem Zeichen der Gründerin gekennzeichnet war, demselben, das auch auf dem Armband an Claires Handgelenk prangte.
Hannah versuchte, die Tür zu öffnen. »Verdammt! Abgeschlossen!«
Nicht als Claire es versuchte. Als sie den Türknauf drehte, öffnete sie sich. Die einzelne Kerze in der Ecke beleuchtete nur wenig. Claire atmete tief durch und ruhte ihre schmerzenden Muskeln ein paar Sekunden aus, während Hannah den Raum überprüfte und ihn für sicher erklärte, bevor sie eintraten.
Claire ließ Myrnin zu Boden gleiten. »Tut mir leid«, flüsterte sie ihm zu. »Das war die einzige Möglichkeit. Ich hoffe, es tut nicht allzu sehr weh.«
Sie hatte keine Ahnung, ob er sie in diesem Zustand hören konnte. Sie hätte am liebsten nach dem Pfahl gegriffen und ihn herausgezogen, aber sie erinnerte sich daran, dass es bei Amelie und Sam andere Vampire gemacht hatten. Vielleicht wussten sie etwas, das sie nicht wusste.
Sie konnte das Risiko nicht auf sich nehmen. Und außerdem wäre alles noch schlimmer, wenn er verwundet und verrückt aufwachen würde - jetzt, wo sie keine Vampire mehr bei sich hatten, die ihn unter Kontrolle halten konnten.
Hannah kam wieder an ihre Seite. »Also«, sagte sie, während sie stirnrunzelnd den Ladeclip an ihrem Paintball-Gewehr kontrollierte und durch einen neuen ersetzte. »Wie gehen wir vor? Zuerst müssen wir zurück in dieses Museum, oder?«
Mussten sie das? Claire war sich da nicht so sicher. Sie trat an die Tür heran, durch die momentan nichts als Dunkelheit zu sehen war, und konzentrierte sich auf Myrnins Labor mit all dem Durcheinander und Krempel. Licht verschwamm, flackerte, zitterte und das Labor wurde plötzlich ganz scharf.
Überhaupt kein Problem.
»Ich glaube, es ist einfach nur umständlich, hierher zu gelangen«, sagte Claire. »Vielleicht ist das Absicht, um Leute fernzuhalten, die nicht hierher kommen sollen. Aber es erscheint logisch, dass Amelie, als sie hierher kam, möglichst schnell wieder verschwinden können wollte.« Sie wandte sich um »Sollten wir nicht warten?«
Hannah öffnete die Tür und sah in den Gang hinaus. Was immer sie dort sah - es konnte nichts Gutes sein. Sie schüttelte den Kopf. »Wir hauen ab, sofort.«
Mit einem angestrengten Ächzen schulterte Hannah von einer Seite Myrnins totes Gewicht und zerrte ihn vorwärts. Claire nahm seinen anderen Arm.
»Kann es sein, dass er gerade gezuckt hat?«, fragte Hannah. »Wenn er zuckt, erschieße ich ihn.«
»Nein! Nein, er hat nicht gezuckt; alles in Ordnung mit ihm«, sagte Claire. Ihre Worte überschlugen sich förmlich. »Fertig? Eins, zwei...«
Und auf drei waren sie in Myrnins Labor. Claire schlängelte sich unter Myrnins kaltem Körper hervor, schlug die Tür zu und starrte wild auf das kaputte Schloss. »Ich muss das reparieren«, sagte sie. Aber was war mit Amelie? Nein, sie kannte alle Fluchtwege. Sie musste nicht unbedingt diesen nehmen.
»Mädchen, du bringst uns jetzt verdammt noch mal hier raus und sonst gar nichts«, sagte Hannah. »Ruf für den da das nächstliegende Fort Knox an oder so was. Verdammt, wo hast du das überhaupt gelernt?«
»Ich hatte einen guten Lehrer.« Claire schaute Myrnin nicht an. Sie konnte nicht. Immerhin hatte sie ihn eigentlich gerade umgebracht. »Hier lang.«
Neben dem normalerweise gesicherten Portal gab es zwei Ausgänge aus Myrnins Labor: Es gab eine Treppe, die zur Straße hinaufführte, was wahrscheinlich im Moment die denkbar schlechteste Idee war. Und es gab ein zweites, versteckteres Portal in einem kleinen Nebenraum. Durch dieses hatte Amelie sie hereingebracht.
Das Problem war jedoch, dass Claire es nicht zum Funktionieren bringen konnte. Sie hatte die Erinnerungen klar im Kopf - das Glass House, das Portal zur Universität, zum Krankenhaus, sogar zu dem Museum, das sie auf dem Weg hierher besucht hatten. Aber nichts klappte.
Es fühlte sich einfach nur... tot an, so als sei das ganze System abgeschnitten.
Sie hatten Glück gehabt, dass sie es bis hierher geschafft hatten.
Amelie sitzt in der Falle, wurde Claire bewusst. Dort. Mit Bishop. Und sie war zahlen mäßig unterlegen.
Claire versuchte es auch noch mal am anderen Portal, das, welches sie blockiert hatte.
Nichts. Es handelte sich nicht einfach nur um irgendein Portal, das nicht funktionierte; das ganze Netzwerk war ausgefallen.
»Und?«, fragte Hannah.
Claire durfte sich jetzt keine Gedanken um Amelie machen. Sie hatte einen Auftrag zu erledigen - Myrnin sicher hier herausbringen. Und das bedeutete, dass sie ihn zum einzigen Vampir bringen mussten, der ihr auf Anhieb einfiel, der ihm helfen konnte: Oliver. »Ich denke, wir gehen zu Fuß«, sagte sie.
»Den Teufel tun wir«, sagte Hannah. »Ich schleife keinen toten Vampir durch die Straßen von Morganville. Nahezu jeder würde uns dabei umbringen.«
»Wir können ihn nicht zurücklassen!«
»Wir können ihn auch nicht mitnehmen!«
Claire spürte, wie sich vor Sturheit ihr Kiefer verkrampfte.
»Also gut, schön, Sie können ja schon mal vorgehen. Ich werde ihn nämlich nicht hier zurücklassen. Ich kann nicht.«
Sie war sich sicher, dass Hannah sie am liebsten an den Haaren hinausgezerrt hätte, aber schließlich nickte die Frau und gab nach. »Dritte Möglichkeit«, sagte sie.»Wir rufen die Kavallerie.«