3

Sam und PJ

Sam saß in der einzigen Zelle von Sumas’ Polizeistation. Er hatte es nicht übers Herz gebracht, den Fahrer auf dem Klo eingeschlossen zurückzulassen. Die Toilette der Tankstelle war, soweit Sam es beurteilen konnte, der am übelsten riechende Ort in ganz Sumas. Bevor er die Flucht ergriffen hatte, war er an der Tür vorbeigerannt und hatte den Stein herausgetreten und sich anschließend mit seiner Beute hinter der großen Werbetafel versteckt. Der Fahrer war herausgekommen, hatte sich verwirrt umgesehen und war dann schulterzuckend in seinen Lastwagen geklettert, zweifellos, um zu größeren und aufregenderen Orten weiterzufahren.

Als Sam hinter seinem Versteck hervortrat, fiel ihm eine schwere Hand auf die Schulter. Es war Officer Myrmidon. Eigentlich freute Sam sich immer, wenn er dem einzigen Polizisten des Ortes begegnete – nachdem seine Mutter ihn verlassen hatte, hatte Officer Myrmidon ihm ab und zu Spielsachen und Kleidung geschenkt, die im Fundbüro liegen geblieben waren. Und bei jeder ihrer Begegnungen nahm der Polizist sich Zeit für einen kurzen Plausch.

Sam wusste, dass er Officer Myrmidon nichts vormachen konnte, deshalb seufzte er nur, als Myrmidon fragte, was er da mit sich herumschleppe, und auf seinen ausgebeulten Lederrucksack deutete. Sam reichte ihm selbigen und kletterte ohne jedes Theater auf die Rückbank des Streifenwagens. Er kannte das Prozedere – er hatte schon des Öfteren auf der Rückbank des Polizeiautos gesessen.

Auf dem Weg zur Station hatten sie einen Burschen in einem uralten Camaro angehalten. Sam fand es lustig, denn es stellte sich heraus, dass der Fahrer Officer Myrmidons Sohn war. Er war ein paar Jahre älter als er selbst, hatte langes Haar und sah ganz anders aus, als Sam gedacht hätte, und die beiden – Vater und Sohn – waren nicht besonders nett zueinander gewesen.

Als sie in der Station eintrafen, kippte Officer Myrmidon die gestohlenen Feuerwerkskörper in den Mülleimer, warf den leeren Rucksack auf seinen Schreibtisch und schob Sam in die winzige Gefangenenzelle.

»Okay, du bleibst hier, bis dein Vater dich abholt«, sagte der hochgewachene Polizist. »Vergiss nicht, es ist deine eigene Schuld. Die Entscheidungen, die du im Leben triffst, bestimmen darüber, ob du hier drin landest oder nicht.«

Die Tür fiel zu, und er saß hinter Gittern. Es war ein heller, freundlicher Sommertag, und statt den Geruch frischer Gräser, blühender Blumen und abgebrannter Feuerwerkskörper zu genießen, saß er im Gefängnis. Sam seufzte. War ja ein tolles Abenteuer, dachte er.

Sam ließ sich in seiner ausgebeulten Cargohose und dem schwarzen Konzert-T-Shirt der Band Lobotomy auf die Holzbank fallen. In der Zelle gab es nichts außer einer Metall-Toilette und einigen Spielsachen – einen Baseballschläger aus Schaumgummi, einen Flummi und ein Kartenspiel –, die Officer Myrmidon durch die Gitterstäbe geworfen hatte, damit er sich die Zeit vertreiben konnte. Die Zelle roch klinisch sauber. Sam spielte Poker gegen sich selbst und trommelte mit dem Baseballschläger an die Wand. Er tat so, als würde er den älteren Jungen und seinen Polizisten-Vater nicht beachten, aber in Wahrheit hörte er den beiden aufmerksam zu.

»Ich wünschte, du wärst zur Abwechslung mal pünktlich gewesen«, sagte Officer Myrmidon zu PJ. »Eigentlich wollte ich mit dir angeln gehen … gestern.«

»Die Fische sind heute auch noch da, oder?«, entgegnete PJ.

»Heute habe ich Verpflichtungen. Weißt du, was das ist, eine Verpflichtung?«

»Meinst du Dinge wie Rechnungen zu bezahlen, Wäsche zu waschen und zu deiner Frau zu halten? Solche Sachen?«

Der Officer blickte auf. »Wie geht es deiner Mutter?«

PJ setzte sich auf den Verhörstuhl. »Prima. Ich glaube, sie ist glücklich. Sie hat einen Mann kennen gelernt.«

Sam sah, wie PJs Vater zusammenzuckte.

Der Polizist setzte sich an seinen kleinen Eichenschreibtisch und blickte auf den Computerbildschirm. Er gab rasch etwas ein, dann stand er wieder auf und nahm seine Jacke. »Ich habe gerade die Bestätigung erhalten, dass ein paar Höhlenkletterer vermisst werden. Ich muss den Pick-up rüberbringen und der Suchmannschaft helfen. Warte hier, bis ich zurück bin. Ruf mich auf dem Handy an, falls irgendwas passiert.«

»Du haust ab?«, sagte PJ. »Ich bin doch eben erst angekommen.«

»Ich habe mir gestern freigenommen«, erwiderte sein Vater. »An dem Tag, als ich dich erwartet habe. Heute muss ich meinen Pflichten nachkommen, und außerdem hab ich eine Landesgrenze zu bewachen.«

»Du bist doch gar kein Grenzschützer«, sagte PJ, »sondern bloß ein Dorfpolizist.«

»Außer mir gibt es hier im Umkreis von hundert Meilen niemanden. Wer soll denn für unsere Sicherheit sorgen, wenn nicht ich?«

»Sicherheit wovor? Vor betrunkenen Kanadiern?«

»Ich muss los«, sagte sein Vater.

»Ist ja klasse«, sagte PJ, »wirklich klasse.«

»Tut mir leid, dass wir heute Abend keine Zeit miteinander verbringen können, aber meine Arbeit geht vor.«

»Mhm. Kommt mir bekannt vor«, brummte PJ.

»Warte einfach auf mich«, sagte Officer Myrmidon. »Bald sollte der Vater unseres jungen Gastes eintreffen. Der Zellenschlüssel liegt auf dem Schreibtisch. Aber lass den Vater Sam nicht im Auto mitnehmen, falls er …« Er machte eine Handbewegung, als würde er einen Schluck aus einer Flasche trinken, dann ging er zur Tür. »In dem Fall sagst du, du hättest keinen Zellenschlüssel, und er müsse warten, bis ich zurück bin.«

»Aye-aye, Sir. Willst du mir für die Dauer deiner Abwesenheit noch irgendwelche anderen Pflichten auferlegen? Soll ich die Schule zu Ende bringen? Mir Arbeit suchen? Etwas aus mir machen?« PJ nahm den Gummiknüppel und ließ ihn über das Zellengitter rattern, worauf Sam erschrocken die Spielkarten fallen ließ. »Soll ich den Affen füttern?«

Officer Myrmidon erschien hinter seinem Sohn wie ein lautloser Blitz. Mit einer fließenden Bewegung packte er den Gummiknüppel, entwand ihn PJ und klemmte ihn sich unter den Arm. PJ zuckte zusammen. »Du brauchst gar nichts zu tun«, sagte sein Vater, legte den Gummiknüppel auf den Schreibtisch und ging wieder zur Tür. »Genau das erwartet man doch inzwischen von dir, nicht wahr?« Damit schlüpfte Officer Myrmidon lautlos nach draußen.

Sam sammelte die Karten auf und steckte sie in eine seiner vielen Hosentaschen zu dem Gasfeuerzeug, das er gar nicht hätte besitzen dürfen.

PJ ließ sich auf den Schreibtischstuhl seines Vaters fallen, stieß sich ein Stück vom Tisch ab und drehte sich mit dem Stuhl ein paar Mal im Kreis, bis er, zu Sam gewandt, anhielt und sich mit dem Gummiknüppel in die Handfläche schlug. »Hey, Kleiner, wann holt dein Dad dich ab?«

»Vermutlich wenn die Happy Hour vorbei ist.«

»Oh, super Familienleben.«

»Genau wie bei euch«, entgegnete Sam.

»Du kannst den Kopf schon mal unter die Guillotine legen, Verurteilter.«

»Ich bin noch nicht verurteilt«, sagte Sam. »Nicht wegen dieser Sache.«

»Ach ja? Wofür hat er dich denn eingebuchtet?«, fragte PJ, während er in die Schreibtischschublade seines Vaters schaute.

»Wegen gestohlener Feuerwerkskörper.«

»Mein Dad hat dich wegen ein paar Knallern verknackt? Mann, der Kerl ist wirklich krass drauf.«

»Es waren die Großen, und einige davon sind irgendwie in meinen Rucksack gelangt.« Sam deutete durch die Gitterstäbe auf den Mülleimer, aus dem mehrere Raketen ragten.

PJ folgte seinem Blick. »Wow! Nett. Die würde ich selbst gern abschießen.« PJ fischte die Raketen aus dem Eimer und stopfte sie wieder in Sams Rucksack. »Irgendwas sagt mir übrigens, dass du nicht zum ersten Mal im Knast sitzt, hab ich recht?«

Sam nickte. »Ja, aber es ist das letzte Mal. Dein Dad sagt, nach den Ferien würde er mir helfen, wieder auf die Schule zurückzukommen, von der ich geflogen bin, und wenn ich alt genug bin, will er mir einen Job besorgen.«

»Dafür hat er dir aber ein paar Versprechen abgenommen, stimmt’s?«, grinste PJ.

»Ja. Ich werde mich von Grund auf ändern«, verkündete Sam.

»Ich bin ja ungern der Überbringer schlechter Nachrichten, Kleiner, aber Menschen ändern sich nicht von Grund auf. Du hast mit zwölf schon ein Strafregister, und in ein paar Jahren wirst du dein Geld wahrscheinlich an der Tankstelle verdienen.«

»Wo du dann auch arbeitest«, konterte Sam.

»Lass mich in Ruhe«, sagte PJ. »Ich bin ein viel beschäftigter Mann.« Er setzte seine Karussellfahrt auf dem Schreibtischstuhl fort.

PIEP-PIEP-PIEP! Ein Alarmsignal ertönte, und PJ fiel zu Boden. Entgeistert blickte er auf und hielt den Gummiknüppel hoch wie ein Kreuz gegen das Böse.

»Hey, Verbrecher, was ist das für ein Piepen?«, fragte er.

»Ein Grenzsensor.«

»Ein was?«

»Ein Bewegungsmelder der Polizei an der amerikanisch-kanadischen Grenze. Ich habe einmal mitgehört, wie dein Dad jemandem am Telefon erklärt hat, dass das Ding losgeht, wenn Schmuggler rüberschleichen und irgendwelches Zeug im Wald deponieren.«

»Was für Zeug denn?«, fragte PJ mit wachsendem Interesse.

»Sachen, die sie nicht im Auto durch den Zoll bringen möchten – unter Einfuhrverbot stehende Waren, unversteuerte Zigaretten … bündelweise Banknoten in kleinen Scheinen.«

PJs Augenbrauen schossen in die Höhe, und Sam hoffte, dass PJ nicht das dachte, was er annahm, das PJ dachte. Für einen einzigen Tag hatte er sich schon genug Ärger eingehandelt.

Garstige Gnome
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