NACHRUF (1937)[1]
Mit dem Tod des Dritten Earl Russell (oder Bertrand Russens, wie er sich lieber nannte) im Alter von neunzig Jahren ist ein Bindeglied mit einer sehr fernen Vergangenheit gelöst worden. Sein Großvater, Lord John Russell, Premierminister unter Königin Viktoria, besuchte Napoleon auf Elba; seine Großmutter mütterlicherseits war mit der Witwe des jungen Thronprätendenten befreundet. In seiner Jugend schuf er bedeutende Werke auf dem Gebiet der mathematischen Logik, aber seine exzentrische Haltung während des ersten Weltkrieges verriet einen Mangel an ausgeglichenem Urteil, der seine späteren Schriften in zunehmendem Maße beeinträchtigte. Vielleicht geht dies wenigstens teilweise auf die Tatsache zurück, dass er der Vorteile einer Public School-Erziehung nicht teilhaftig, sondern bis zum Alter von achtzehn Jahren von Hauslehrern unterrichtet wurde. Dann trat er in das Trinity College zu Cambridge ein, wurde 1893 in der mathematischen Abschlussprüfung Siebenter und 1895 Fellow. In den nächsten fünfzehn Jahren schrieb er die Bücher, die sein Ansehen in der gelehrten Welt begründeten: »Die Grundlagen der Geometrie«, »Die Philosophie des Leibniz«, »Die Grundsätze der Mathematik« und (in Zusammenarbeit mit Dr. A. N. Whitehead) »Principia Mathematica«. Dieses letzte, seinerzeit bedeutende Werk verdankte zweifellos seine Vorzüge zum großen Teil Dr. (später Professor) Whitehead, einem Mann, der, wie seine folgenden Schriften zeigten, jene Einsicht und geistige Tiefe besaß, die Russell so fühlbar abging; denn Russens Beweisführung, obzwar klug und gewandt, ignorierte jene Überlegungen, die über die bloße Logik hinausgehen.
Dieser Mangel an geistiger Tiefe trat im ersten Weltkrieg peinlich zutage, als Russell, der zwar (um ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen) nie das Belgien angetane Unrecht beschönigte, verstockt darauf bestand, dass der Krieg ein Übel sei und es das Ziel der Staatskunst hätte sein müssen, den Krieg so bald als möglich zu beenden, was durch die britische Neutralität und einen deutschen Sieg erreicht worden wäre. Man muss annehmen, dass seine mathematischen Studien ihn zu einer falschen quantitativen Anschauung bewogen hatten, welche die prinzipielle Frage, um die es ging, außer Acht ließ. Den ganzen Krieg hindurch bestand er auf dessen Beendigung ohne Rücksicht auf die Bedingungen. Trinity College entzog ihm sehr zu Recht seine Professur, und 1918 verbrachte er sogar einige Monate im Gefängnis.
Im Jahre 1920 stattete er Russland, dessen Regierung ihm keinen günstigen Eindruck machte, einen kurzen Besuch ab; einen längeren machte er China, wo er an dem Rationalismus der traditionellen Zivilisation mit dem ihm immer noch anhaftenden Nachgeschmack des achtzehnten Jahrhunderts viel Gefallen fand. In den folgenden Jahren verzettelte er seine Arbeitskraft mit Schriften, in denen er für Sozialismus, Erziehungsreform und einen weniger strengen Moralkodex hinsichtlich der Ehe eintrat. Von Zeit zu Zeit jedoch kehrte er zu weniger aktuellen Themen zurück. In seinen historischen Schriften täuschen Stil und Geist den oberflächlichen Leser über den seichten, veralteten Rationalismus hinweg, zu dem er sich bis zu seinem Ende bekannte.
Am zweiten Weltkrieg nahm er keinen öffentlichen Anteil, da er knapp vor Kriegsausbruch in ein neutrales Land entkommen war.
In Privatgesprächen pflegte er zu sagen, dass mordgierige Verrückte ganz recht daran täten, einander zu töten, vernünftige Leute ihnen aber dabei aus dem Wege gingen. Glücklicherweise ist diese Haltung, die an Bentham erinnert, heute selten geworden. Wir anerkennen wieder den Wert des Heldentums, der mit dem Nutzen nichts zu tun hat. Zwar liegen weite Gebiete der einstigen zivilisierten Welt in Trümmern; aber kein Rechtdenkender kann zugeben, dass jene, die in dem großen Ringen für das Recht ihr Leben gaben, umsonst gefallen sind.
Sein Leben war trotz all seiner Unberechenbarkeit von einer gewissen anachronistischen Folgerichtigkeit, ähnlich der der aristokratischen Rebellen des frühen neunzehnten Jahrhunderts. Seine Prinzipien waren seltsam; aber wie sie auch waren, er handelte danach. Im Privatleben zeigte er keine Spur der Herbheit, die seine Schriften beeinträchtigt, sondern war ein anregender Gesellschafter und es mangelte ihm nicht an menschlicher Sympathie. Er hatte viele Freunde, überlebte sie aber fast alle. Dennoch schien er denen, die ihm verblieben, im Alter voll heiterer Freude, die er zweifellos zum Teil seiner unverwüstlichen Gesundheit verdankt, denn politisch stand er in seinen letzten Jahren so allein wie Milton nach der Restauration. Er war der letzte überlebende einer versunkenen Epoche.
Dieser Nachruf wird in der »Times« vom 1. Juni 1962 anlässlich meines betrauerten, aber verspäteten Hinscheidens veröffentlicht werden (oder auch nicht). Er wurde in vorausschauender Weise 1937 in »The Listener« abgedruckt.