DIE AUFGABEN DES LEHRERS

 

Mehr noch als die meisten anderen höheren Berufe hat sich der Lehrberuf während der letzten hundert Jahre aus einer kleinen, hochqualifizierten Gruppe von Spezialisten, die sich mit einer Minderheit der Bevölkerung befassten, zu einem ausgedehnten und wichtigen Zweig des öffentlichen Dienstes entwickelt. Der Beruf hat eine große und ehrenvolle Tradition, die aus grauer Vorzeit bis in die Gegenwart reicht; aber jedem Lehrer, der sich von den Idealen seiner Vorgänger inspizieren lässt, wird man wahrscheinlich deutlich zu verstehen geben, dass es nicht seine Aufgabe ist, zu lehren, was er denkt, sondern seinen Schülern jene Überzeugungen und Vorurteile einzuflößen, die seine Dienstgeber für nützlich halten. Früher erblickte man in einem Lehrer einen Mann von außergewöhnlicher Bildung oder Weisheit, nach dessen Worten' man sich füglich richten konnte. Im Altertum bildeten die Lehrer keinen organisierten Berufsstand und ihre Tätigkeit wurde nicht überwacht. Gewiss wurden sie oft für ihre aufrührerischen Lehren bestraft. Sokrates wurde hingerichtet, Plato angeblich ins Gefängnis geworfen; aber solche Vorfälle taten der Verbreitung ihrer Lehren keinen Eintrag. Jeder Mensch, der die innere Berufung zum Lehrer hat, wird lieber in seinen Büchern weiterleben wollen als in Fleisch und Blut. Der Lehrer muss sich geistig unabhängig wissen, soll er seine Aufgaben wirklich erfüllen; liegt es doch an ihm, zur Bildung der öffentlichen Meinung möglichst viel Wissen und Vernunft beizusteuern. Im Altertum erfüllte er diese Aufgabe ungehindert, abgesehen von gelegentlichen unvermittelten und wirkungslosen Eingriffen von Tyrannen oder des Pöbels. Im Mittelalter wurde die Lehrtätigkeit zum ausschließlichen Vorrecht der Kirche, was zur Folge hatte, dass man auf geistigem wie auf sozialem Gebiet nur geringe Fortschritte machte. Die Renaissance stellte die allgemeine Achtung vor dem Wissen wieder her und gab dem Lehrer wieder ein sehr beträchtliches Maß an Freiheit. Freilich zwang die Inquisition Galilei zum Widerruf und verbrannte Giordano Bruno auf dem Scheiterhaufen, aber diese beiden Männer hatten ihr Werk vollendet, bevor sie bestraft wurden. Bildungsstätten wie die Universitäten verblieben weitgehend in den Händen der Dogmatiker, weshalb die meisten geistigen Errungenschaften unabhängigen Gelehrten zu verdanken sind. Besonders in England gehörte bis gegen das Ende des neunzehnten Jahrhunderts mit Ausnahme Newtons kaum ein wirklich hervorragender Gelehrter einer Universität an. Doch tat dies bei dem damaligen Gesellschaftssystem ihrer Tätigkeit und dem Nutzen, den sie stifteten, wenig Eintrag.

In der höher organisierten Welt von heute stehen wir einem neuen Problem gegenüber. Ein Etwas, genannt »Erziehung und Unterricht«, wird heute jedem vermittelt; gewöhnlich durch den Staat, aber manchmal auch durch die Kirchen. So ist der Lehrer in den weitaus meisten Fällen zum Staatsdiener geworden; er ist verpflichtet, die Befehle von Leuten auszuführen, die weder sein Wissen noch seine Erfahrung im Umgang mit Jugendlichen haben und für die jede Erziehung nur ein Propagandamittel ist. Man kann sich schwer vorstellen, wie die Lehrer unter solchen Umständen die Aufgaben erfüllen sollen, zu denen sie in besonderem Maße befähigt sind.

Die Notwendigkeit einer staatlichen Erziehung ist offenkundig; ebenso offenkundig aber sind gewisse Gefahren, die sie mit sich bringt und gegen die man Vorkehrungen treffen müsste. Die Übelstände, die von ihr zu befürchten sind, zeigten sich mit aller Deutlichkeit in Nazideutschland und zeigen sich heute noch in Russland. Wo solche Übelstände herrschen, kann kein Mensch unterrichten, wenn er sich nicht einem dogmatischen Glaubensbekenntnis verschreibt, das nur wenige Menschen im Besitze ihrer geistigen Freiheit aufrichtig annehmen können. Er muss sich nicht nur einem Glaubensbekenntnis verschreiben, er muss auch Schändlichkeiten gutheißen und sich der freien Meinungsäußerung über Tagesereignisse sorgfältig enthalten. So lange er nur das Alphabet und das Einmaleins unterrichtet – Dinge, aus denen keine Streitfragen entstehen können werden die offiziellen Dogmen seinen Unterricht nicht unbedingt beeinträchtigen; aber selbst in diesem Elementarunterricht erwartet man von ihm in totalitären Ländern nicht jene Unterrichtsmethoden, die er zur Erreichung des Lehrziels für angebracht hält; er soll vielmehr Angst einflößen, Unterwürfigkeit und blinden Gehorsam züchten, indem er fraglose Unterwerfung unter seine Autorität fordert. Wagt er sich aber auch nur einen Schritt über die bloßen Anfangsgründe hinaus, so hat er in allen strittigen Fragen die offizielle Meinung zu vertreten. Infolgedessen wurde die Jugend Nazideutschlands, und wird die Jugend Russlands, zu fanatischen Eiferern, die von der Welt außerhalb ihrer eigenen Landesgrenzen nichts wissen, der freien Diskussion gänzlich ungewohnt, nicht ahnend, dass ihre Überzeugung auch ohne hinterhältige Absicht in Frage gestellt werden kann. Dieser Zustand ist schlimm genug; er wäre aber weniger schlimm, wenn die verkündeten Dogmen, so wie im mittelalterlichen Katholizismus, universal und international wären. Die ganze Auffassung einer weltweiten Kultur wird jedoch abgelehnt von den Dogmatikern der Neuzeit, die in Deutschland, in Italien, dann in Russland und wieder in Japan ein jeweils verschiedenes Glaubenbekenntnis predigten. In allen diesen Ländern lag das Schwergewicht in der Jugenderziehung auf dem fanatischen Nationalismus; daraus folgt, dass die Bevölkerung des einen Landes mit der eines anderen nichts gemeinsam hat und dass kein gemeinsames Kulturideal kriegerischer Grausamkeit hemmend in den Weg treten kann.

Der Verfall einer internationalen Kulturidee ist seit dem ersten Weltkrieg immer rascher vor sich gegangen. Bei meinem Aufenthalt in Leningrad im Jahre 1920 lernte ich den Professor für Reine Mathematik kennen, der London, Paris und andere Hauptstädte kannte und an verschiedenen internationalen Kongressen teilgenommen hatte. Heutzutage werden den russischen Gelehrten solche Ausflüge nur selten gestattet, weil man fürchtet, sie könnten ungünstige Vergleiche mit ihrem eigenen Land ziehen. In anderen Ländern ist der Nationalismus weniger radikal, jedoch überall stärker als früher. In England (ich glaube, auch in den Vereinigten Staaten) sind Bestrebungen im Gange, im Französisch-und Deutschunterricht keine Franzosen und Deutschen mehr zu beschäftigen. Dieses Vorgehen, dass man bei der Bestellung eines Lehrers seine Volkszugehörigkeit über seine Fähigkeiten stellt, schadet dem Unterrichtswesen und verletzt das Ideal einer internationalen Kultur, das wir vom Römischen Weltreich und der katholischen Kirche ererbt hatten, das aber heute im Begriffe steht, in einer neuen barbarischen Invasion unterzugehen, die eher von unten als von außen kommt.

In den demokratischen Ländern haben diese Übelstände noch nicht annähernd gleiche Ausmaße erreicht, doch muss zugegeben werden, dass die ernste Gefahr einer ähnlichen Entwicklung im Erziehungswesen auch dort besteht und dass sie nur abgewendet werden kann, wenn die Verfechter der Gedankenfreiheit auf dem Posten sind, die Lehrer vor geistiger Sklaverei zu schützen. Das erste Erfordernis hierzu ist vielleicht eine klare Vorstellung von dem Dienst an der Gemeinschaft, den man von den Lehrern erwarten kann. Ich stimme mit den Regierungen aller Welt darin überein, dass die Vermittlung bestimmten, unbestreitbaren Wissens zu den Mindestaufgaben des Lehrers gehört. Das ist selbstverständlich die Grundlage, auf der übrige Bau errichtet ist; es ist in einer technischen Zivilisation wie der unseren auch zweifellos von beträchtlichem Nutzen. Es muss in einer modernen Gemeinschaft eine genügende Anzahl von Menschen geben, die über die nötige technische Ausbildung verfügen, um den Mechanismus in Gang zu halten, von dem unsere leibliche Wohlfahrt abhängt. Außerdem ist es hemmend, wenn ein größerer Prozentsatz der Bevölkerung Analphabeten sind. Aus diesen Gründen sind wir alle für die Schulpflicht in allen Staaten der Welt. Aber die Regierungen haben erfasst, dass man im Rahmen des Unterrichts leicht Überzeugungen in strittigen Fragen einflößen und Denkhaltungen heranbilden kann, die den Machthabern entweder gelegen oder aber ungelegen sein können. Die Verteidigung des Staates ist in allen zivilisierten Ländern ebenso sehr Sache der Lehrer wie der bewaffneten Macht. Eine solche Verteidigung des Staates ist, ausgenommen in den totalitären Ländern, ja wünschenswert, und die Tatsache, dass das Unterrichtswesen in ihren Dienst gestellt wird, allein noch kein Grund zur Kritik. Kritik wird sich vielmehr erst dann erheben, wenn der Staat durch Volksverdummung und Aufstachelung blinder Leidenschaften verteidigt wird. Solcher Methoden kann ein Staat, der wert ist, verteidigt zu werden, leicht entraten. Dennoch neigen ihnen jene von Natur aus zu, die selbst keine Bildung aus erster Hand empfangen haben. Die Meinung, dass einheitliches Denken und die Unterdrückung der Freiheit die Völker stark machen, ist weit verbreitet. Immer wieder hört man, dass die Demokratie ein Land in Kriegszeiten schwäche, trotzdem in allen bedeutenden Kriegen seit 1700 der Sieg den mehr demokratisch eingestellten Ländern zufiel. Völker sind viel öfter durch ihr Verharren in engstirniger doktrinärer Einheitlichkeit zugrunde gegangen als durch freie Diskussion und Duldung entgegengesetzter Meinungen. Die Dogmatiker aller Welt glauben, dass sie zwar im Besitze der Wahrheit seien, andere aber zu falschen Überzeugungen verleitet würden, wenn man ihnen gestattet, beide Parteien zu hören. Aus dieser Geisteshaltung entspringen notwendig die beiden folgenden Übel: entweder eine einzige dogmatische Schule erobert die ganze Welt und unterdrückt alle neuen Ideen, oder, was noch schlimmer ist, dogmatische Nebenbuhler erobern verschiedene Teile der Welt und predigen das Evangelium des Hasses gegeneinander. Der erstgenannte Übelstand herrschte im Mittelalter, der zweite während der Religionskriege und neuerdings in unserer Zeit. Der erste lässt die Kultur erstarren, der zweite läuft auf ihre völlige Vernichtung hinaus. Vor beiden sollte uns in erster Linie der Lehrer bewahren.

Es liegt auf der Hand, dass der organisierte Parteigeist eine der größten Gefahren unserer Zeit ist. In der Form des Nationalismus führt er zu Völkerkriegen, in anderen Formen zum Bürgerkrieg.

Aufgabe des Lehrers muss es sein, über dem Parteienstreit zu stehen und der Jugend die unvoreingenommene Untersuchung zur Gewohnheit zu machen; sie anzuleiten, Streitfragen sachlich zu beurteilen, vor einseitigen Behauptungen auf der Hut zu sein und sie nicht unbesehen hinzunehmen. Vom Lehrer darf man keine Zugeständnisse an die Vorurteile des Pöbels oder der Machthaber erwarten. Es sollte der Vorzug seines Berufes sein, bereitwillig allen Parteien gerecht zu werden und sich über die Streitigkeiten hinaus in eine Sphäre leidenschaftsloser wissenschaftlicher Untersuchung zu erheben. Wenn es Leute gibt, denen die Ergebnisse seiner Untersuchung unbequem sind, so sollte er vor ihrem Zorn geschützt werden, es sei denn, dass er sich durch die Verbreitung offenkundiger Lügen nachweislich zu betrügerischer Propaganda hergegeben hat.

Die Aufgabe des Lehrers besteht jedoch nicht allein darin, die Hitze des Meinungsstreites zu dämpfen. Er hat positivere Aufgaben, und er kann kein wahrer Lehrer sein, wenn er nicht von dem Wunsch beseelt ist, diese Aufgaben zu erfüllen. Die Lehrer sind mehr als jeder andere Berufsstand die Hüter der Zivilisation. Sie sollten mit dem Wesen der Zivilisation innig vertraut und bestrebt sein, sie ihren Schülern zu einer Lebensform werden zu lassen. Dies führt uns zu der Frage: Was sind die Voraussetzungen für eine zivilisierte Gemeinschaft?

Diese Frage ließe sich mit dem Hinweis auf rein materielle Gegebenheiten leicht beantworten. Ein Land ist zivilisiert, wenn es viele Maschinen, Autos, Badezimmer und Schnellverkehrsmittel aller Art besitzt. Meines Erachtens messen die meisten Menschen von heute diesen Dingen viel zu viel Bedeutung bei. Zivilisation im tieferen Sinn des Wortes ist etwas Geistiges, kein bloßes materielles Anhängsel zur leiblichen Seite des Lebens. Sie ist Sache des Wissens wie des Gemüts. Was das Wissen betrifft, so sollte sich der Mensch der Winzigkeit seiner selbst und seiner unmittelbaren Umgebung im Verhältnis zur Welt in Zeit und Raum bewusst sein. Er sollte sein eigenes Land nicht nur als Heimatland sehen, sondern als eines unter den Ländern der Welt, die alle das gleiche Recht haben, zu leben, zu denken und zu fühlen. Er sollte seine eigene Zeit in ihrem Verhältnis zu Vergangenheit und Zukunft sehen und sich klar darüber sein, dass seine eigenen Streitigkeiten künftige Zeitalter ebenso seltsam anmuten werden, wie uns die der Vergangenheit. Ja, er sollte noch weiter sehen und sich der Unermesslichkeit geologischer Epochen und astronomischer Abgründe bewusst werden; in dem Wissen um alle diese Dinge aber darf er keine Bürde erblicken, die den Geist des Einzelnen erdrückt, sondern eine ungeheure Schau, die den Geist ihres Beschauers weitet. Auf dem Gebiet des Gefühlslebens bedarf es eines ganz ähnlichen Hinauswachsens über das rein Persönliche, wenn ein Mensch wahrhaft zivilisiert sein soll. Menschen pilgern von der Wiege bis zur Bahre, manchmal glücklich, manchmal unglücklich; manche großmütig, andere habgierig und kleinlich; manche heldenhaft, andere feig und sklavisch. Wer diese Prozession als Ganzes an sich vorüberziehen lässt, wird gewisse Dinge bewundern müssen. Einige Menschen waren von Liebe zur Menschheit beseelt; andere haben mit ihrem glänzenden Verstand zu unserer Erkenntnis der Welt, in der wir leben, beigetragen; und wieder andere haben, begabt mit außergewöhnlicher Empfindung, der Schönheit Gestalt verliehen. Diese Menschen haben etwas wirklich Gutes geschaffen, um die lange Geschichte der Grausamkeit, der Unterdrückung und des Aberglaubens aufzuwiegen. Sie haben getan, was in ihren Kräften stand, um aus dem menschlichen Leben etwas Besseres zu machen als den kurzen Kriegstanz von Wilden. Wo der zivilisierte Mensch nicht bewundern kann, wird er eher zu verstehen als zu verwerfen trachten. Er wird es vorziehen, die unpersönlichen Ursachen des Übels aufzuspüren und zu beseitigen, statt die Menschen zu hassen, die ihm verfallen sind. All dies sollte im Hirn und im Herzen des Lehrers lebendig sein; lebt es darin, so wird er es in seinem Unterricht an die Jugend weitergeben, die ihm anvertraut ist.

Niemand kann ein guter Lehrer sein, wenn er seinen Schülern nicht von Herzen zugetan ist und den aufrichtigen Wunsch hegt, ihnen das weiterzugeben, was ihm selbst für wertvoll gilt. Der Propagandist hingegen denkt und fühlt anders. Für ihn sind seine Schüler zukünftige Soldaten einer Armee. Sie sollen einmal Zielen dienen, die über ihr Leben hinausgehen, und zwar nicht in dem Sinn, in dem jedes große Ziel über das eigene Selbst hinaushebt, sondern als Handlanger ungerechter Privilegien und despotischer Macht. Der Propagandist gönnt seinen Schülern den Überblick über das Weltgeschehen und die freie Wahl eines Zieles, das ihnen wertvoll erscheint, nicht; er will vielmehr, gleich einem Kunstgärtner, die jungen Bäumchen nach seinem Sinne heranziehen und biegen. Indem er so ihr natürliches Wachstum verkrüppelt, vernichtet er nur zu leicht in ihnen allen hochherzigen Lebensmut und ersetzt ihn durch Neid, Zerstörungswut und Grausamkeit. Der Mensch hat es nicht nötig, grausam zu sein; ich bin im Gegenteil überzeugt, dass alle Grausamkeit von gewaltsamen Eingriffen herrührt, die Menschen in ihrer Jugend erlitten haben, besonders von solchen, die das Gute in ihnen erstickten.

Leidenschaftliche Unterdrückung und Gesinnungsterror sind sehr weit verbreitet, wie die derzeitige 'Weltlage nur zu deutlich beweist. Sie sind aber keineswegs im Charakter des Menschen angelegt. Sie sind im Gegenteil meines Erachtens immer die Folge irgendeines unglücklichen Zustandes. Es müsste eine der Aufgaben des Lehrers sein, seinen Schülern die Augen zu öffnen und ihnen zu zeigen, welch ein reiches Arbeitsfeld, freudebringend und nutzbringend zugleich, sie erwartet, und so das Gute in ihnen freizumachen und den Wunsch, andere der Freuden zu berauben, die ihnen selbst entgehen werden, gar nicht erst aufkommen zu lassen. Viele Menschen verwerfen das Glücklichsein als Lebensziel für sich selbst wie für andere; doch drängt sich leicht der Verdacht auf, dass ihnen die Trauben zu sauer sind. Wenn jemand auf persönliches Glück zugunsten des Gemeinwohls verzichtet, so ist das noch lange nicht dasselbe, als wenn er das Glück der Allgemeinheit als unwichtig beiseite schiebt. Und dennoch geschieht dies oft im Namen eines angeblichen Heroismus. Wer so handelt, hat meist eine grausame Ader in sich, der wahrscheinlich unbewusster Neid zugrunde liegt; die Quelle dieses Neides wird man in den meisten Fällen in der Kindheit oder Jugend des Betreffenden entdecken. Ziel des Erziehers sollte es sein, Erwachsene heranzubilden, die von solchen seelischen Mängeln frei sind und nicht trachten, anderen ihr Glück zu rauben, weil man es auch ihnen nicht geraubt hat.

Wie die Dinge heute liegen, sind viele Lehrer nicht in der Lage, ihr Bestes zu geben. Dafür gibt es viele Gründe; einige davon sind mehr oder weniger zufällig, andere sehr tief eingewurzelt. Was die erstgenannten betrifft, so sind viele Lehrer überarbeitet und müssen ihre Schüler mehr auf Prüfungen vorbereiten, statt ihnen eine aufklärende Geistesbildung vermitteln zu können. Leute, die das Unterrichten nicht gewöhnt sind – und dazu gehören praktisch alle Unterrichtsbehörden – haben keine Ahnung, wie sehr man sich dabei geistig verausgaben muss. Von Geistlichen erwartet man nicht, dass sie jeden Tag mehrere Stunden predigen; vom Lehrer jedoch verlangt man eine Anstrengung, die dieser gleichkommt. Infolgedessen werden viele Lehrer gedrückt und nervös, verlieren den Kontakt mit der neueren Forschung in ihren Lehrfächern und werden unfähig, ihren Schülern eine Ahnung der geistigen Genüsse zu vermitteln, die aus neugewonnenem Verstehen und Wissen entspringen.

Doch das ist keineswegs das Schlimmste. In den meisten Ländern sind gewisse Überzeugungen als richtig anerkannt, andere gelten als gefährlich. Lehrer, deren Überzeugungen nicht richtig sind, haben darüber zu schweigen. Sprechen sie sie aus, so gilt das als Propaganda, während die Äußerung richtiger Überzeugungen eben gesunde Unterweisung ist. Die Folge ist, dass die Jugend ihre Fragen oft außerhalb der Schule stellen muss, um zu erfahren, was von den führenden Köpfen ihrer Zeit gelehrt wird. In Amerika gibt es einen Gegenstand »Staatsbürgerkunde«; die Unterweisung darin ist zwangsläufig irreführender als die in jedem anderen Fach. Die Schüler erhalten einen für den Schulgebrauch bearbeiteten Text vorgesetzt, wie die Staatsgeschäfte angeblich geführt werden; jede Einsicht in die wirklichen Vorgänge wird ihnen sorgfältig vorenthalten. Wenn sie als Erwachsene dann erkennen, wie die Dinge wirklich liegen, verfallen sie daher nur zu oft einem radikalen Zynismus, in dem alle staatsbürgerlichen Ideale verloren gehen; hätte man ihnen schon früher mit Bedacht und unter entsprechender Anleitung die Wahrheit beigebracht, so hätten sie vielleicht zu Kämpfern werden können gegen die Missstände, mit denen sie sich nun achselzuckend abfinden.

Die Vorstellung, dass Falschheit erbaulich sei, ist ein eingefleischtes Laster derer, die Unterrichtspläne entwerfen. Ich selbst würde einen Mann erst dann für einen guten Lehrer halten, wenn er den festen Entschluss gefasst hat, in seinem Unterricht niemals die Wahrheit zu verheimlichen, weil sie »unerbaulich« ist. Jene Tugend, die aus wohlbehütetem Unwissen entspringt, steht auf schwachen Füßen und erliegt bei der ersten Berührung mit den Tatsachen. Auf dieser Welt gibt es viele bewundernswerte Menschen, und es ist gut, der Jugend vor Augen zu halten, warum diese Menschen bewundernswert sind. Aber es ist nicht gut, sie zur Bewunderung von Schurken anzuleiten, indem man deren Schurkerei verheimlicht. Man meint, das Wissen um die wahren Verhältnisse würde zum Zynismus führen; das wird es auch, wenn dieses Wissen als schreckliche Überraschung unvermittelt hereinbricht. Kommt es jedoch allmählich, entsprechend gepaart mit dem Wissen um das Gute und geleitet von dem Wunsche, auf wissenschaftlichem Wege zur Wahrheit zu gelangen, dann wird es keineswegs so wirken. Abgesehen davon ist es moralisch unhaltbar, die Jugend zu belügen, da sie nicht imstande ist, solche Behauptungen auf ihre Richtigkeit zu prüfen.

Soll die Demokratie erhalten bleiben, so muss ein Lehrer in seinen Schülern vor allem jenen Geist der Duldsamkeit wecken, der aus dem Bemühen entspringt, Menschen, die anders sind als wir, zu verstehen. Es ist vielleicht eine natürliche Regung des Menschen, alle Sitten und Gebräuche, die von den unseren verschieden sind, mit Abscheu und Widerwillen zu betrachten. Die Ameisen und die Wilden töten Fremde. Und wer nie gereist ist, weder in Person noch im Geiste, dem fällt es schwer, die seltsamen Sitten und rückständigen Überzeugungen anderer Völker und Zeiten, anderer Sekten und politischer Parteien zu ertragen. Diese aus der Unwissenheit geborene Intoleranz ist das gerade Gegenteil einer zivilisierten Geisteshaltung und eine der schwersten Gefahren, denen unsere überfüllte Welt ausgesetzt ist. Man müsste das Unterrichtswesen darauf abstellen, ihr zu begegnen, doch geschieht derzeit in dieser Richtung viel zu wenig. In jedem Lande wird das Nationalbewusstsein gestärkt, und den Schulkindern erzählt man – was sie nur zu gern glauben – dass die Bewohner anderer Länder moralisch und geistig denen jenes Landes unterlegen sind, dem die Schulkinder zufällig angehören. Die Massenhysterie, das verrückteste und grausamste aller menschlichen Gefühle, wird noch geschürt anstatt bekämpft, und die Jugend ermutigt man in ihrem Glauben an das, was sie immer wieder sagen hört, statt an das, wofür Vernunftgründe sprechen. Für all dies kann man die Lehrer nicht verantwortlich machen. Sie sind es ja, die die Bedürfnisse der Jugend am besten kennen. Ihnen ist sie im täglichen Umgang ans Herz gewachsen. Aber nicht sie entscheiden über den Lehrplan oder die Unterrichtsmethoden. Der Lehrberuf muss viel mehr Freiheit haben, mehr Gelegenheit zur Selbstbestimmung, größere Unabhängigkeit von den störenden Eingriffen der Bürokraten und Fanatiker. Niemand wäre heute mehr damit einverstanden, die Ärzte der Kontrolle durch nichtmedizinische Behörden in der Behandlung ihrer Patienten zu unterwerfen, ausgenommen natürlich dann, wenn sie sich gegen den Zweck der Medizin, den Patienten zu heilen, strafrechtlich vergehen. Der Lehrer ist auch in gewissem Sinne ein Arzt, der seinen Patienten von seinen geistigen Kinderkrankheiten heilen soll; ihm aber ist es verwehrt, gestützt auf seine Erfahrung die geeignete Behandlungsmethode selbst zu bestimmen. Einige große historische Universitäten haben sich auf Grund ihres Ansehens praktisch das Selbstbestimmungsrecht gesichert; allein die überwältigende Mehrheit der Bildungsinstitute wird behindert und überwacht von Leuten, die von der Arbeit, in die sie sich einmischen, nichts verstehen. Das einzige Mittel, dem Totalitarismus in unserer hochorganisierten Welt vorzubeugen, ist die Verleihung einer gewissen Unabhängigkeit an Körperschaften, die gemeinnützige Arbeit leisten; unter diesen Körperschaften wieder gebührt den Lehrern ein Ehrenplatz.

Der Lehrer kann, wie der Künstler, der Philosoph und der Gelehrte, seine Aufgabe nur dann richtig erfüllen, wenn er sich als freier Mensch fühlen kann, einem inneren schöpferischen Drang folgend, nicht beherrscht und gehemmt von einer äußeren Autorität. In der Welt von heute ist für die freie Persönlichkeit kaum mehr Raum. Sie kann sich noch an der Spitze einer totalitären Diktatur oder als Industriemagnat in einem plutokratischen Unternehmerstaat erhalten, aber im Reiche des Geistes wird es immer schwerer, seine Unabhängigkeit von den großen organisierten Kräften zu bewahren, die über die materielle Existenz von Männern und Frauen entscheiden. Soll die Welt des Gewinns, den sie ihren größten Geistern zu verdanken hat, nicht verlustig gehen, so wird sie Mittel und Wege finden müssen, ihnen trotz aller Organisation Spielraum und Freiheit zu gewähren. Das erfordert von Seiten der Machthaber bewusste Zurückhaltung und die Einsicht, dass es Menschen gibt, die eben freie Bahn haben müssen. Das war die Haltung, die die Renaissancepäpste den Künstlern der Renaissance gegenüber einnahmen; allein den heutigen Machthabern fällt die Achtung vor außergewöhnlichen Geistesgaben offenbar schwerer. Die rauhe Luft unserer Zeit legt sich wie Reif auf die schöne Blume der Kultur. Der kleine Mann hat Angst und will daher Freiheiten, deren Notwendigkeit er nicht einsieht, nicht dulden. Vielleicht müssen wir auf ruhigere Zeiten warten, bis die Zivilisation den Parteigeist wieder überwinden kann. Einstweilen ist es wichtig, dass wenigstens Einige das Wissen um die Grenzen der Organisation bewahren. Jedes System muss Auswege und Ausnahmen zulassen, denn tut es das nicht, so wird es schließlich alles Beste im Menschen ertöten.