DIE HÖHERE TUGEND DER UNTERDRÜCKTEN

 

Nach einer hartnäckigen Wahnidee, in der die Menschheit befangen ist, sind gewisse Menschengruppen sittlich besser oder schlechter als andere. Diese Überzeugung tritt in vielen verschiedenen Formen auf, deren keine sich verstandesmäßig begründen lässt. Es ist nur natürlich, zunächst von uns selbst eine gute Meinung zu haben, und weiter, wenn unser Denken in primitiven Bahnen verläuft, von unserem Geschlecht, unserer Klasse, unserem Volk und unserer Zeit. Hingegen pflegen die Männer der Feder, besonders die Moralisten, ihre Selbstachtung weniger unverhüllt auszudrücken. Sie neigen zu einer schlechten Meinung über ihre Mitmenschen und Bekannten und daher zu einer guten von jenen Teilen der Menschheit, denen sie nicht selbst angehören. Lao-Tse bewunderte »die reinen Menschen von ehedem«, die vor dem Beginn der konfuzianischen Sophisterei lebten. Tacitus und Madame de Stadl bewunderten die Deutschen, weil sie keinen Kaiser hatten. Locke hielt viel vom »intelligenten Amerikaner«, weil ihn kartesische Spitzfindigkeiten nicht irremachten.

Eine recht seltsame Spielart dieser Bewunderung für Menschengruppen, denen die Bewunderer nicht selbst angehören, ist der Glaube an die höhere Tugend der Unterdrückten: der unterworfenen Völker, der Armen, Frauen und Kinder. Das achtzehnte Jahrhundert eroberte Amerika von den Indianern, machte die Bauern zu armen Schwerarbeitern und führte die Gräuel des frühen Industrialismus ein, schwelgte aber gleichzeitig in der Verherrlichung des »edlen Wilden« und der »einfachen Chronik der Armen«. Tugend, so hieß es, war an den Höfen nicht zu finden; aber Hofdamen konnten sie, indem sie sich als Schäferinnen herausputzten, beinahe erringen. Und was das männliche Geschlecht betraf:

 

»Selig, wer sich mit der kargen
Väterscholle kann bescheiden!«

 

Dennoch zog Pope für seinen Teil London und seine Villa in Twikkenham vor.

In der französischen Revolution wurde die höhere Tugend der Armen zu einer Frage der Parteizugehörigkeit, und sie ist es seitdem geblieben. Für die Reaktionäre wurden die Armen zum »Pöbel« oder »Mob«. Die Reichen entdeckten zu ihrer Überraschung, dass es Leute gab, die so arm waren, dass sie nicht einmal eine »karge Väterscholle« ihr eigen nennen konnten. Die Liberalen hingegen idealisierten nach wie vor den armen Landmann, während sozialistische und kommunistische Intellektuelle es mit dem städtischen Proletariat ebenso machten – eine Mode, die erst im zwanzigsten Jahrhundert Bedeutung gewann und auf die ich daher später zurückkommen werde.

Im neunzehnten Jahrhundert ersetzte der Nationalismus den edlen Wilden durch den Patrioten eines unterdrückten Volkes. Die Griechen galten bis zu ihrer Befreiung von den Türken, die Ungarn bis zum Ausgleich von 1867, die Italiener bis 1870 und die Polen bis nach dem ersten Weltkrieg in romantischer Weise als begabte und poetische Völker, die zu idealistisch gesinnt waren, als dass sie es in dieser bösen Welt zu etwas bringen konnten. Den Iren schrieben die Engländer einen besonderen Zauber und mystische Einsicht zu, und zwar bis 1921, als man entdeckte, dass die Kosten ihrer weiteren Unterdrückung unerschwinglich wurden. Diese Völker errangen eins nach dem anderen ihre Unabhängigkeit, und es stellte sich heraus, dass sie nicht anders waren als alle anderen auch; allein die Erfahrung, die man mit den schon Befreiten gemacht hatte, zerstörte keineswegs die Illusionen über die, welche noch im Kampf um ihre Unabhängigkeit standen. Alte Damen in England schwärmen immer wieder von der »Weisheit des Ostens« und amerikanische Intellektuelle vom »Erdbewusstsein« des Negers.

Die Frauen, die ja Gegenstand der stärksten Gefühle sind, sah man noch irrationaler als die Armen oder die unterdrückten Völker. Ich denke dabei nicht an die Äußerungen der Dichter, sondern an die nüchterne Meinung von Leuten, die sich für Rationalisten halten. Die Kirche nahm hier zwei entgegengesetzte Haltungen ein: einerseits war das Weib die Versucherin, die Mönche und andere zur Sünde verführte; andrerseits war sie der Heiligkeit in beinahe höherem Maße fähig als der Mann. Theologisch wurden diese beiden Typen durch Eva und die Jungfrau Maria verkörpert. Im neunzehnten Jahrhundert trat die Versucherin in den Hintergrund; es gab natürlich »schlechte« Frauen, aber die ehrenwerten Viktorianer wollten, im Gegensatz zum heiligen Augustinus und seinen Nachfolgern, nicht zugeben, dass solche Sünderinnen sie versuchen konnten, und liebten es nicht, ihre Existenz überhaupt anzuerkennen. Eine Art Mittelding zwischen der Madonna und der Dame der Ritterzeit wurde zum Ideal der gewöhnlichen verheirateten Frau erhoben. Sie war zart und zierlich, sie hatte den Schmelz einer Blüte, der durch die Berührung mit der rauen Welt weggewischt werden, und Ideale, die unter der Berührung mit dem Bösen leiden konnten. Wie die Kelten, die Slawen und der edle Wilde, aber in noch höherem Maße, war sie ein geistiges Wesen, was sie dem Manne überlegen, aber für das Geschäftsleben, die Politik oder die Verwaltung ihres eigenen Vermögens ungeeignet machte. Diese Anschauung ist immer noch nicht ganz ausgestorben. Erst kürzlich sandte mir in Erwiderung auf eine Rede, die ich zugunsten gleicher Bezahlung für gleiche Arbeit gehalten hatte, ein englischer Lehrer eine Flugschrift, die von einem Lehrerverband veröffentlicht wurde und die gegenteilige Meinung vertritt, die sie mit sonderbaren Argumenten stützt. Es heißt dort von der Frau: »Wir geben ihr mit Freuden den Vorrang als einer geistigen Kraft; wir anerkennen und verehren sie als das Engelhafte im Menschen; wir anerkennen ihre Überlegenheit in aller Anmut und Verfeinerung, deren wir als Menschen fähig sind; wir wünschen, dass sie alle ihre gewinnenden fraulichen Eigenschaften behält.« »Daher erlassen wir diesen Aufruf« – dass Frauen sich mit niedrigerer Bezahlung zufriedengeben sollten – »nicht aus Selbstsucht, sondern aus Achtung und Ergebenheit gegenüber unseren Müttern, Gattinnen, Schwestern und Töchtern ... Unsere Sache ist eine heilige Sache, ein wahrer geistiger Kreuzzug.«

Vor fünfzig oder sechzig Jahren hätte ein solcher Ton keinen Kommentar ausgelöst, außer bei einer Handvoll Feministen; heute, da die Frauen das Stimmrecht erworben haben, scheint er uns ein Anachronismus. Der Glaube an ihre »geistige« Überlegenheit war eine unerlässliche Voraussetzung für den Entschluss, sie wirtschaftlich und politisch weiterhin rechtlos zu halten. Als die Männer in dieser Schlacht besiegt waren, mussten sie die Frauen achten und gaben es daher auf, ihnen als Trost für ihre untergeordnete Stellung »Ehrfurcht« zu erweisen.

Eine ähnliche Entwicklung hat die Auffassung vom Kinde bei den Erwachsenen durchgemacht. Kinder galten wie die Frauen, theologisch gesehen, als böse, besonders bei den Anhängern der Niederkirche. Sie waren Kinder des Satans, sie waren noch nicht wiedergeboren; wie Dr. Watts so unvergleichlich sagte:

 

»Ein Streich nur von des Herrn allmächt'ger Rute
kann junge Sünder schnell zur Hölle senden.«

 

Es war daher notwendig, sie zu »erlösen«. In Wesleys Schule »wurde einst eine allgemeine Bekehrung erzielt, ... ausgenommen nur ein einziger armer Junge, der sich unglücklicherweise dem Einfluss des Heiligen Geistes widersetzte, wofür er tüchtig durchgeprügelt wurde ... « Aber im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts, als die elterliche Autorität, wie die der Könige, der Priester und der Ehemänner sich bedroht fühlte, kamen feinere Methoden zur Unterdrückung des Ungehorsams in Mode. Kinder waren »unschuldig«; wie gute Frauen, so hatten auch sie den »Schmelz einer Blüte«; man musste sie vor dem Bösen bewahren, auf dass ihr Schmelz nicht verloren gehe. Darüber hinaus war ihnen eine besondere Art Weisheit eigen. Wordsworth machte diese Anschauung im englischen Sprachbereich populär. Er schuf als erster die Mode, Kinder auszustatten mit

 

»Edlen Trieben, die, was sterblich ist an uns, erzittern ließen gleich ertappten Sündern.«

 

Niemand hätte im achtzehnten Jahrhundert zu seiner kleinen Tochter gesagt (außer sie wäre tot gewesen):

 

»Du ruhst tagaus, tagein im Schoße Abrahams und betest vor des Tempels innrem Heiligtum.«

 

Aber im neunzehnten Jahrhundert wurde diese Anschauung gang und gäbe, und ehrbare Angehörige der Anglikanischen Kirche oder selbst der katholischen – schämten sich nicht, unter Missachtung der Erbsünde mit der modernen Irrlehre zu liebäugeln, dass

 

» ... wir kommen auf Wolken der Herrlichkeit von Gott, der unsere Heimat ist:
In unsrer Kindheit ist der Himmel rings um uns.«

 

Es kam, was kommen musste. Es schien bald nicht recht, ein Geschöpf, das in Abrahams Schoß lag, zu verprügeln oder an Stelle »edler Triebe« die Rute zu gebrauchen, um es »gleich einem ertappten Sünder erzittern zu lassen«. Und so sahen sich Eltern und Lehrer des Vergnügens, das ihnen die Verhängung von Strafen bereitet hatte, beraubt; es entwickelte sich eine Theorie der Erziehung, die verlangte, auch die Wohlfahrt des Kindes zu berücksichtigen und nicht nur die Willkür und das Machtbewusstsein der Erwachsenen.

Der einzige Trost, den die Erwachsenen sich gestatten durften, war die Erfindung einer neuen Psychologie des Kindes. Die Kinder sind nun, nachdem sie der traditionellen Theologie als Glieder Satans und den Erziehungsreformern als mystisch erleuchtete Engel galten, wieder die kleinen Teufel von ehedem – aber nicht mehr theologische Dämonen, inspiriert vom Gottseibeiuns, sondern wissenschaftliche, Freudsche Gräuelgeschöpfe, inspiriert vom Unbewussten. Sie erscheinen, das muss gesagt sein, nun viel schlimmer als in den Traktaten der Mönche; in modernen pädagogischen Werken entwickeln sie einen Erfindungsreichtum und eine Hartnäckigkeit in sündhaften Vorstellungen, der in der Vergangenheit mit Ausnahme des heiligen Antonius nichts vergleichbar ist. Ist nun dies alles endlich die objektive Wahrheit? Oder ist es bloß eine geistige Entschädigung der Erwachsenen, da sie nun die kleinen Racker nicht mehr durchbleuen dürfen? Freuds Anhänger würden antworten, beides sei, von der jeweiligen Gegenseite aus gesehen, richtig.

Wie aus den angeführten Beispielen hervorgeht, ist das Stadium, in dem den Unterdrückten die höhere Tugend zugeschrieben wird, vorübergehend und unsicher. Es setzt erst ein, wenn sich das schlechte Gewissen der Unterdrücker regt, und das rührt sich erst, wenn ihre Macht nicht mehr gesichert ist. Die Idealisierung des Opfers ist eine Zeitlang nützlich; wenn die Tugend das höchste Gut ist, und wenn die Unterwerfung die Menschen tugendhaft macht, dann erweist man ihnen eine Wohltat, wenn man ihnen die Macht verweigert, da diese ihre Tugend zerrütten würde. Wenn es für einen Reichen schwierig ist, in das Himmelreich einzugehen, so handelt er edel, wenn er seinen Reichtum behält und so seine ewige Seligkeit zugunsten seiner ärmeren Brüder aufs Spiel setzt. Edle Selbstaufopferung war es, die die Männer bewog, den Frauen das schmutzige Geschäft der Politik abzunehmen, und so fort. Aber früher oder später wird die unterdrückte Schicht ihre höhere Tugend ins Treffen fuhren als einen Grund, ihr die Macht zu geben, und die Unterdrücker werden sich mit ihren eigenen Waffen angegriffen sehen. Ist schließlich die Macht gleichmäßig verteilt, so wird jeder einsehen, dass alles Gerede von der höheren Tugend Unsinn und zur Begründung des Anspruchs auf Gleichheit ganz unnötig war.

Was die Italiener und Ungarn, die Frauen und Kinder betrifft, so haben wir schon den ganzen Kreis dieser Entwicklung durchlaufen. Wir befinden uns aber noch mitten darin in dem einen Fall, der gegenwärtig von größter Bedeutung ist – nämlich dem des Proletariats. Die Bewunderung des Proletariats ist sehr modern. Wenn man im achtzehnten Jahrhundert das Lob der »Armen« sang, so dachte man dabei immer an die Armen auf dem Lande. Jeffersons Demokratie hörte beim städtischen Pöbel auf; er wünschte, dass Amerika ein Land der Ackerbauer bleibe. Die Bewunderung des Proletariats gehört wie die von Staudämmen, Kraftwerken und Flugzeugen zur Ideologie des Maschinenzeitalters. Menschlich betrachtet, hat sie so wenig für sich wie der Glaube an die Zauberkraft der Kelten, die slawische Seele, die Intuition der Frauen und die Unschuld der Kinder. Wäre es wirklich so, dass schlechte Ernährung, unzulängliche Bildung, Mangel an Luft und Sonne, ungesunde Wohnverhältnisse und Überarbeitung bessere Menschen hervorbringen als gute Ernährung, frische Luft, angemessene Schul und Wohnverhältnisse und ein vernünftiges Maß an Freiheit, dann bräche die ganze Forderung nach wirtschaftlichem Wiederaufbau in sich zusammen und wir dürften uns freuen und frohlocken, dass ein so hoher Prozentsatz der Bevölkerung jene Vorteile genießt, welche die Tugend fördern. Aber obwohl dies Argument sich förmlich aufdrängt, halten es doch viele sozialistische und kommunistische Intellektuelle für unerlässlich, sich den Anschein zu geben, als fänden sie die Proletarier liebenswerter als andere Menschen, während sie gleichzeitig ihre Absicht verkünden, jene Verhältnisse zu beseitigen, die nach ihrer Lehre allein gute Menschen hervorbringen können. Die Kinder wurden idealisiert von Wordsworth, entidealisiert von Freud. Marx war der Wordsworth des Proletariats; sein Freud muss erst kommen.