IDEEN, DIE DER MENSCHHEIT GESCHADET HABEN
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Die Unglücksfälle, die dem Menschen zustoßen können, lassen sich in zwei Gruppen einteilen: erstens die, welche ihm die außermenschliche Umwelt, und zweitens die, welche ihm der Mitmensch zufügt. Diese zweite Gruppe ist mit dem wissenschaftlichen und technischen Fortschritt des Menschen zu einem immer größeren Prozentsatz aller Unglücksfälle geworden. In alten Zeiten hatte beispielsweise die Hungersnot natürliche Ursachen und forderte, obwohl man sie nach Kräften bekämpfte, zahlreiche Opfer. Heute sehen sich weite Gebiete einer Hungersnot gegenüber; allein obgleich auch natürliche Ursachen dazu beigetragen haben, so liegen doch ihre tieferen Ursachen beim Menschen selbst. Sechs Jahre lang setzten die zivilisierten Völker der Welt ihre besten Kräfte ein, einander zu töten, und es fällt ihnen nun schwer, sich plötzlich darauf umzustellen, einander am Leben zu erhalten. Nun sie Ernten vernichtet, landwirtschaftliche Maschinen demontiert und das Transportwesen unterbunden haben, ist es schwer, die Nahrungsknappheit hier durch Überfluss von dort zu beheben, was unter normalen wirtschaftlichen Verhältnissen ein leichtes wäre. Wie dies Beispiel zeigt, ist heute der Mensch der schlimmste Feind des Menschen. Zwar sorgt die Natur immer noch dafür, dass wir sterblich sind, aber die Fortschritte der Medizin werden immer mehr Menschen ein langes und reiches Leben bescheren. Wir hegen angeblich den Wunsch nach einem ewigen Leben und freuen uns auf die nicht endende Glorie des Himmels, die wundersamerweise nie eintönig werden soll. Fragt man aber wirklich einen aufrichtigen, nicht mehr jungen Menschen, so wird er einem sehr wahrscheinlich antworten, er habe das Leben im Diesseits kennen gelernt und trage kein Verlangen, im Jenseits noch einmal als Neugeborener anzufangen. Für die Zukunft wird man daher annehmen dürfen, dass die bei weitem schlimmsten Übel, mit denen die Menschen zu rechnen haben, jene sind, die sie einander durch Dummheit, Bosheit oder beides zusammen zufügen.
Ich glaube, die Leiden, die Menschen einander und dadurch mittelbar sich selbst zufügen, haben ihre Hauptquelle nicht so sehr in Ideen oder Überzeugungen als in üblen Leidenschaften. Aber Ideen und Prinzipien, die wirklich schädlich sind, dienen in der Regel, wenn auch nicht immer, als Deckmantel übler Leidenschaften. In Lissabon geschah es manchmal bei öffentlichen Ketzerverbrennungen, dass man einem Verurteilten auf Grund eines besonders erbaulichen Widerrufs die Gnade erwies, ihn zu hängen, bevor man ihn den Flammen übergab. Dies empörte die Schaulustigen so sehr, dass die Behörden sie nur mit Mühe davon abhalten konnten, an dem reuigen Sünder Lynchjustiz zu üben und ihn auf eigene Faust zu verbrennen. Der Anblick der sich vor Schmerzen krümmenden Opfer war wirklich eine der Hauptvergnügungen, auf die sich das Volk freute, da sie Abwechslung in sein etwas eintöniges Dasein brachte. Ich zweifle nicht, dass dieses Vergnügen viel zu der allgemeinen Ansicht beitrug, die Verbrennung von Ketzern sei eine rechtschaffene Handlung. Dasselbe gilt vom Krieg. Kräftige und brutale Leute finden oft Gefallen am Kriege, vorausgesetzt, dass er siegreich endet und Vergewaltigung und Plünderung nicht allzu streng geahndet werden. Dies trägt viel zur Überzeugung von der Rechtmäßigkeit der Kriege bei. Dr. Arnold, der Held von »Tom Browns Schulzeit« und gefeierte Reformer der Public Schools, geriet an einige Sonderlinge, die es für einen Fehler hielten, Schüler zu verprügeln. Wer seinen grimmigen Entrüstungsausbruch gegen diese Anschauung liest, wird zu dem Schluss kommen müssen, dass die Prügelstrafe dem Dr. Arnold Genuss bereitete und er sich dies Vergnügen nicht nehmen lassen wollte.
Es wäre leicht, noch ein Vielfaches der obigen Beispiele dafür anzuführen, dass Überzeugungen, die die Grausamkeit rechtfertigen, selbst grausamen Impulsen entsprungen sind. Wenn wir frühere Anschauungen, die heute als absurd gelten, Revue passieren lassen, so werden wir in neun von zehn Fällen finden, dass sie die Verhängung von Leiden guthießen. Nehmen wir zum Beispiel die Heilbehandlung. Als die Betäubungsmittel erfunden wurden, hielt man sie für einen sündhaften Versuch, Gottes Willen zu durchkreuzen. Den Wahnsinn führte man auf Besessenheit vom Teufel zurück und glaubte, man könne die bösen Geister, die in einem Verrückten wohnten, austreiben, indem man diesem Schmerzen bereitete, bis es den Geistern unbehaglich wurde. In dieser Anschauung befangen, behandelte man Verrückte Jahre hindurch mit systematischer und gewissenhafter Grausamkeit. Ich kenne keine medizinische Fehlbehandlungen, die nicht für den Patienten eher unangenehm als angenehm gewesen wäre. Oder nehmen wir die moralische Erziehung. Denken wir nur, wie viel Brutalität sich rechtfertigen ließ mit dem Sprichwort:
»Dein Hund, dein Weib, der Nussbaum dein, wollen mit Schlägen erzogen sein.«
Ich habe keine Erfahrungen über die moralische Auswirkung der Geißelung auf Nussbäume, aber kein zivilisierter Mensch würde heute dem Sprichwort in Bezug auf Ehegattinnen rechtgeben. Der Glaube an die erzieherische Wirkung der Strafe ist schwer auszurotten, meines Erachtens hauptsächlich deshalb, weil er unseren sadistischen Eingebungen so sehr entgegenkommt.
Aber obwohl die Leidenschaften an den Übelständen im menschlichen Leben mehr Schuld tragen als die Überzeugungen, so wohnt doch diesen, besonders wo sie althergebracht, systematisch und in Organisationen verankert sind, große Macht inne, wünschenswerte Meinungsänderungen zu verzögern und Leute, die sonst nach keiner Richtung hin ausgeprägte Gefühle haben, nach der falschen Richtung hin zu beeinflussen. Da mein Thema »Ideen, die der Menschheit geschadet haben« heißt, so werde ich besonders schädliche Überzeugungen behandeln.
In der Vergangenheit stechen da zunächst jene Überzeugungen am meisten hervor, die man, je nach persönlicher Voreingenommenheit, religiöse oder abergläubische nennen kann. Man glaubte, Menschenopfer würden bessere Ernten bringen, zunächst aus rein magischen Gründen, dann auch, weil man das Blut der Opfer für den Göttern wohlgefällig hielt, die gewiss nach dem Ebenbilde ihrer Anbeter geschaffen waren. Wir lesen im Alten Testament, dass die völlige Ausrottung besiegter Völker religiöse Pflicht und selbst die Schonung ihrer Rinder und Schafe schon Sünde war. Düstere Schrecken und Leiden im Jenseits bedrückten schon die Gemüter der Ägypter und Etrusker, setzten sich aber erst mit dem Siege des Christentums ganz durch. Düstere Heilige, die sich aller sinnlichen Freuden enthielten, einsam in der Wüste lebten, sich Fleisch und Wein und den Umgang mit Frauen versagten, waren dennoch nicht verpflichtet, sich aller Genüsse zu enthalten. Geistige Genüsse hielt man für den körperlichen überlegen, und unter den geistigen nahm die Betrachtung der ewigen Qualen, denen Heiden und Ketzer im Jenseits unterworfen sein würden, einen hohen Rang ein. Es ist ein Nachteil der Askese, dass sie nur in sinnlichen Freuden Böses sieht, und doch sind in Wirklichkeit nicht nur die edelsten, sondern auch die allerniedrigsten Genüsse rein geistiger Art. Denken wir an das Vergnügen, das Miltons Satan bei der Betrachtung des Bösen empfindet, das er der Menschheit zufügen könnte. Milton lässt ihn sagen:
»Der Geist ist selbst sich Ort, und in sich selbst Schafft er aus Himmel Höll', aus Hölle Himmel«,
und seine Psychologie unterscheidet sich nicht sehr von der Tertullians, der frohlockt bei dem Gedanken, dass er vom Himmel auf die Leiden der Verdammten werde niederschauen können. Die asketische Enthaltung von Sinnenfreuden hat weder Freundschaft noch Toleranz noch eine jener anderen Tugenden gefördert, die eine nicht abergläubische Lebensanschauung uns wünschen lassen möchte. Im Gegenteil, wer sich selbst quält, meint ein Recht zu haben, auch andere zu quälen, und nimmt gerne jedes Dogma an, das ihn in diesem Recht bestärkt.
Leider ist die asketische Form der Grausamkeit nicht auf die schrofferen Formen des christlichen Dogmas beschränkt, die heute selten in ihrer früheren Grausamkeit geglaubt werden. Die Welt hat neue, drohende Spielarten derselben psychologischen Beschaffenheit hervorgebracht. Die Nazis lebten in den Jahren vor ihrer Machtergreifung arbeitsam und opferten viele Bequemlichkeiten und Annehmlichkeiten, die ihnen der Augenblick bot, getreu ihrem Glauben an die Leistung und an Nietzsches Forderung, dass der Mensch hart werden solle. Selbst nach der Machtergreifung erforderte das Schlagwort »Kanonen statt Butter« immer noch den Verzicht auf sinnliche Freuden zugunsten der geistigen Genüsse, die man angesichts des bevorstehenden Sieges empfand – gerade jener Genüsse also, mit denen sich Miltons Satan über die Qualen im höllischen Feuer tröstet. Dieselbe Mentalität findet man bei ernsthaften Kommunisten, denen Luxus ein Übel, harte Arbeit die oberste Pflicht und allgemeine Armut der Weg zum tausendjährigen Reich ist. Die Mischung von Askese und Grausamkeit ist mit der Milderung des christlichen Dogmas nicht verschwunden, sondern hat neue Formen angenommen, die dem Christentum feindlich gegenüberstehen. Dieselbe Mentalität lebt noch zu einem großen Teil fort: die Menschheit zerfällt in Heilige und Sünder; die Heiligen werden im nazistischen oder kommunistischen Himmel die ewige Seligkeit erlangen, während die Sünder liquidiert werden oder aber solche Qualen erleiden müssen, wie man sie für Menschen in Konzentrationslagern nur ersinnen konnte; sie reichen natürlich nicht an jene heran, die, wie man glaubte, der Allmächtige in der Hölle bereiten konnte, sind aber immerhin die schlimmsten, die Menschen mit ihren beschränkten Mitteln erzielen können. Den Heiligen steht dann noch eine schwere Bewährungsfrist bevor, auf die »der Ruf der Triumphierenden, der Gesang der Feiernden« folgt, wie die christliche Hymne die Freuden des Himmels beschreibt.
Da diese Geisteshaltung so hartnäckig scheint und sich so leicht hinter ganz neuen Dogmen verbirgt, muss sie ihre Wurzeln ziemlich tief in der Natur des Menschen haben. Das ist das Gebiet, auf dem die Psychoanalytiker tätig sind. Nun liegt es mir zwar ferne, alle ihre Lehren zu unterschreiben, aber ich glaube, dass ihre allgemeine Arbeitsweise wichtig ist, wenn wir die Wurzel des Übels in unserem innersten Herzen bloßlegen wollen. Die Polarität von Sünde und rächender Strafe liegt anscheinend vielem zugrunde, was zum Stärksten in der Religion wie in der Politik gehört. Ich kann nicht, wie einige Psychoanalytiker, glauben, dass das Gefühl der Sünde angeboren sei; freilich halte ich es für ein Produkt der ganz frühen Kindheit. Könnte dies Gefühl ausgemerzt werden, so nähmen meines Erachtens die Grausamkeiten in aller Welt ganz gewaltig ab. Angenommen, dass wir alle Sünder sind und Strafe verdienen, so lässt sich offenbar sehr viel für ein System sagen, das die Strafe nicht auf uns selbst, sondern auf andere fallen lässt. Die Kalvinisten würden kraft unverdienter Gnade in den Himmel eingehen, und ihre Erwartung, dass Sünde Strafe verdiene, würde nur eine stellvertretende Genugtuung erfahren. Ähnlich denken die Kommunisten. Wir können nicht darüber entscheiden, ob wir als Kapitalisten oder Proletarier zur Welt kommen wollen; werden wir aber als Proletarier geboren, so sind wir unter den Auserwählten; als Kapitalisten sind wir es nicht. Ohne jede freie Entscheidung unsrerseits, lediglich durch den Zwang des wirtschaftlichen Determinismus werden wir vom Schicksal im einen Fall in die Reihe der Auserwählten, im anderen der Gegenseite eingereiht. Marx's Vater wurde Christ, als Marx ein kleiner Junge war, und wenigstens einige der Dogmen, die er damals angenommen haben muss, haben anscheinend in der Psychologie seines Sohnes ihre Früchte getragen.
Eine seltsame Auswirkung der Bedeutung, die jeder von uns sich selbst beimisst, ist die Vorstellung, die Handlungen unserer Mitmenschen zielten auf unser eigenes Glück oder Unglück ab. Wenn man im Zug an einer Wiese vorüberfährt, auf der Kühe weiden, so kann man sie manchmal erschreckt davonstieben sehen. Wäre die Kuh ein Metaphysiker, so würde sie folgendermaßen argumentieren:
»Alles, was in meinen eigenen Wünschen, Hoffnungen und Befürchtungen enthalten ist, bezieht sich auf mich selbst. Daher schließe ich induktiv, dass alles im Universum sich auf mich bezieht. Daher will mir dieser lärmende Zug entweder Gutes oder Böses tun. Ich kann nicht annehmen, dass er Gutes im Schilde führt, da er sich in so furchterregender Form nähert; daher werde ich mich als weise Kuh bemühen, ihm zu entrinnen.« Wollte man dieser metaphysischen Wiederkäuerin erklären, dass der Zug nicht beabsichtigt, die Schienen zu verlassen, und mit dem Geschick der Kuh gar nichts zu tun hat, so wäre das arme Tier verwirrt, dass es etwas so Unnatürliches geben könne. Der Zug, der ihr weder Gutes noch Böses will, würde ihr kälter, unergründlicher und schrecklicher erscheinen als ein Zug, der ihr Übles wollte. Genau so geht es dem Menschen. Der Lauf der Natur bringt ihm manchmal Glück, manchmal Unheil. Er kann nicht glauben, dass das Zufall ist. Die Kuh, die sich einer Gefährtin erinnert, welche sich auf die Schienen verirrte und von einem Zug überfahren wurde, würde ihren philosophischen Erwägungen weiter nachhängen, wenn sie mit jener bescheidenen Intelligenz ausgestattet wäre, die die meisten Menschen auszeichnet, und würde zu dem Schluss kommen, dass die unglückliche Kuh für ihre Sünden von dem Gott der Eisenbahn bestraft wurde. Sie wäre froh, wenn dessen Priester entlang den Schienen Zäune aufstellten, und würde jüngere und keckere Kühe warnen, niemals zufällige Öffnungen im Zaun zu benützen, da der Lohn der Sünde der Tod ist. Durch ähnliche Mythen ist es den Menschen unter Wahrung ihrer Selbstüberhebung gelungen, viele Unglücksfälle zu erklären, denen sie ausgesetzt sind. Aber manchmal kommt das Unheil über die ganz Tugendhaften, und was sollen wir dann sagen? Unser Gefühl, dass wir der Mittelpunkt des Universums sein müssen, wird uns auch dann hindern, zuzugeben, dass Unglücksfälle uns einfach zustießen, ohne dass irgend jemand sie beabsichtigte; und da wir theoretisch nicht sündhaft sind, muss unser Unglück auf irgend eine Bosheit von außen zurückgehen, das heißt, auf jemand, der uns aus purem Hass verletzen will, nicht in der Hoffnung, sich selbst einen Vorteil zu verschaffen. Aus dieser Geisteshaltung entstand der Glaube an Dämonen, Hexen und Schwarze Kunst. Die Hexe schadet ihrem Nächsten aus reinem Hass, nicht aus Gewinnsucht. Der Hexenglaube lieferte bis ungefähr zur Mitte des siebzehnten Jahrhunderts einen höchst willkommenen Vorwand für das süße Gefühl selbstgerechter Grausamkeit. Er konnte sich auf die Bibel berufen, die sagt: »Du sollst keine Hexe am Leben lassen.« Und aus diesem Grund bestrafte die Inquisition nicht nur Hexen, sondern auch alle, die nicht an Hexerei glaubten, da der Unglaube daran Ketzerei war. Die Naturwissenschaft brachte einiges Licht in die Kausalzusammenhänge der Natur und zerstörte so den Glauben an die Zauberei, konnte aber die Angst und das Gefühl der Unsicherheit, aus dem er entstanden war, nicht völlig bannen. Heute finden dieselben Gefühle ein Ventil in der Angst vor fremden Völkern, einer Angst, die, wie man zugeben muss, der Verstärkung durch den Aberglauben nicht sonderlich bedarf.
Eine Hauptursache falscher Überzeugungen ist der Neid. In jeder Kleinstadt wird man bei Befragen der verhältnismäßig Wohlhabenden finden, dass sie alle das Einkommen ihrer Nachbarn übertreiben, was ihnen einen Vorwand gibt, sie des Geizes zu beschuldigen. Die Eifersucht der Frauen ist unter Männern sprichwörtlich, aber in jedem großen Amt wird man unter männlichen Beamten genau die gleiche Eifersucht finden. Wird einer von ihnen befördert, so heißt es bei den anderen: »Na ja! Der N. N. versteht es eben, sich mit den Großen gut zu stellen. Ich hätte genau so rasch aufsteigen können wie er, hätte ich mich zu der Kriecherei erniedrigt, deren er sich nicht schämt. Gewiss hat seine Arbeit einen oberflächlichen Schliff, aber sie ist nicht solid, und früher oder später werden die oben ihren Fehler einsehen.« Das werden alle Mittelmäßigen sagen, wenn es einem wirklich Fähigen vergönnt ist, nach Verdienst hochzukommen, und deshalb neigt man zu einer Rangordnung nach Dienstjahren, die mit dem wirklichen Verdienst nichts zu tun hat und daher diese neidische Unzufriedenheit nicht aufkommen lässt.
Eins der schlimmsten Ergebnisse unserer neidischen Veranlagung ist eine vollkommen verzerrte Auffassung vom wirtschaftlichen Selbstinteresse des Einzelnen wie des Staates. Ich möchte dies an Hand eines Gleichnisses zeigen. Es war einmal eine mittlere Stadt, in der es eine Anzahl Fleischer, Bäcker usw. gab. Ein Fleischer, der außergewöhnlich geschäftstüchtig war, entdeckte, dass er viel mehr Gewinn haben würde, wenn alle übrigen Fleischer Bankrott machten und er ein Monopol bekäme. Dies gelang ihm auch, indem er sie systematisch unterbot, obwohl bis dahin seine Verluste seine Kapital-und Kreditreserven beinahe aufgezehrt hatten. Gleichzeitig war ein geschäftstüchtiger Bäcker auf dieselbe Idee verfallen und hatte sie zu einem ähnlich erfolgreichen Abschluss geführt. In jedem Geschäftszweig, der vom Warenverkauf an Kunden lebte, hatte sich dasselbe ereignet. Jeder der erfolgreichen Monopolisten freute sich nun darauf, ein Vermögen zu machen, aber leider waren die ruinierten Fleischer nicht mehr in der Lage, Brot zu kaufen, und ebenso erging es den ruinierten Bäckern mit dem Fleisch. Ihre Angestellten hatten sie entlassen müssen; die waren anderswohin gezogen. Die Folge war, dass zwar der Fleischer und der Bäcker jeder ein Monopol hatten, aber weniger verkauften als früher. Sie hatten vergessen, dass ein Geschäftsmann durch die Konkurrenz zwar Schaden erleiden, ihn aber durch seinen Kundenstock wieder gutmachen kann, und dass der Kundenstock größer wird, wenn der allgemeine Wohlstand zunimmt. Der Neid hatte sie veranlasst, ihre ganze Aufmerksamkeit der Konkurrenz zuzuwenden und ihr eigenes Gedeihen, das von den Kunden abhing, zu vernachlässigen.
Dies ist eine Fabel, und die Stadt, von der ich sprach, hat es nie gegeben. Man setze aber für die Stadt die Welt ein, und für Einzelmenschen ganze Völker, und man hat ein vollkommenes Bild der Wirtschaftspolitik, die heute auf der ganzen Welt verfolgt wird.
Jedes Volk ist überzeugt, dass seine Wirtschaftsinteressen denen jedes anderen Volkes entgegengesetzt sind, und dass es profitieren muss, wenn man andere Völker in Armut und Not treibt. Im ersten Weltkrieg hörte ich oft von Engländern, wie ungeheuer der britische Handel von der Zerstörung des deutschen Handels profitieren würde; das sollte eine der schönsten Früchte unseres Sieges sein. Nach dem Krieg hätten wir zwar gerne einen Absatzmarkt auf dem europäischen Festland gehabt, und die westeuropäische Industrie hing von der Ruhrkohle ab; wir brachten es aber nicht über uns, der Ruhrkohlenindustrie mehr als einen verschwindenden Prozentsatz ihrer Vorkriegsproduktion zu gestatten. Die ganze Philosophie des wirtschaftlichen Nationalismus, die heute in aller Welt herrscht, beruht auf dem Irrglauben, dass die Wirtschaftsinteressen eines Volkes denen eines anderen Volkes notwendigerweise entgegengesetzt seien. Dieser Irrglaube erzeugt Völkerhass und Rivalität und ist daher ein Kriegsgrund, der die Tendenz hat, sich selbst zu bestätigen, denn wenn einmal Krieg ausgebrochen ist, wird der Widerstreit der nationalen Interessen nur zu wahr. Versucht man jemand, sagen wir in der Stahlindustrie, klarzumachen, dass der Wohlstand anderer Länder ihm möglicherweise Vorteile bringt, so wird er einem unmöglich folgen können, weil die einzigen Ausländer, die er kennt, seine Konkurrenten in der Stahlindustrie sind. Alle anderen Ausländer sind ihm vage Gestalten, an denen er keinerlei gemütsmäßigen Anteil nimmt. Dies ist die psychologische Wurzel des wirtschaftlichen Nationalismus; des Krieges, der vom Menschen selbstverschuldeten Hungersnot und aller anderen Übelstände, die unserer Zivilisation ein schreckliches und schmähliches Ende bereiten werden, wenn wir uns nicht dazu bekehren lassen, unsere gegenseitigen Beziehungen großzügiger und weniger hysterisch zu betrachten.
Eine andere Leidenschaft, die politisch schädlichen Irrglauben erzeugt, ist der Stolz – der Stolz auf Volkszugehörigkeit, Rasse, Geschlecht, Klasse oder Glaubensbekenntnis. In meiner Jugend galt Frankreich noch als der Erbfeind Englands, und ich lernte als eine unbestreitbare Wahrheit, dass ein Engländer drei Franzosen schlagen könne. Als Deutschland zum Feind wurde, mäßigte sich diese Anschauung und die Engländer hörten auf, sich über die Vorliebe der Franzosen für Froschschenkel lustig zu machen. Aber trotz der Bemühungen der Regierung brachten es, glaube ich, nur wenige Engländer über sich, die Franzosen wirklich als ebenbürtig zu betrachten.
Wenn Amerikaner und Engländer den Balkan kennenlernen, verfolgen sie mit Staunen und Verachtung den gegenseitigen Hass der Bulgaren und Serben, oder der Ungarn und Rumänen.
Für sie liegt es auf der Hand, dass diese Feindschaften absurd sind und der Glaube jedes dieser kleinen Völker an seine eigene Überlegenheit objektiv grundlos ist. Aber die meisten von ihnen können einfach nicht einsehen, dass der Nationalstolz einer Großmacht seinem Wesen nach ebenso wenig zu rechtfertigen ist wie der eines kleinen Balkanstaates.
Rassenstolz ist noch schädlicher als Nationalstolz. Als ich in China war, fiel mir auf, dass die gebildeten Chinesen vielleicht noch zivilisierter waren als alle anderen Menschen, die ich das Glück hatte zu treffen. Dennoch fand ich eine ganze Reihe grober und unwissender Weißer, die selbst die besten Chinesen lediglich wegen ihrer gelben Hautfarbe verachteten. Im Allgemeinen traf dies auf die Briten mehr als auf die Amerikaner zu; doch gab es auch Ausnahmen. Ich befand mich einmal in Begleitung eines chinesischen Gelehrten, eines Mannes von ungeheurem Wissen nicht nur der überlieferten chinesischen Art, sondern auch der, die an westlichen Universitäten gelehrt wird, eines Mannes von so umfassender Bildung, wie ich sie kaum zu erreichen hoffen durfte. Er und ich betraten zusammen eine Garage, um ein Auto zu mieten. Der Garagenbesitzer war ein Amerikaner übler Sorte, der meinen chinesischen Freund wie seinen Schuhputzer behandelte und ihn verächtlich als Japaner bezeichnete; mein Blut kochte über seine Dummheit und Bosheit. Die ähnliche Haltung der Engländer in Indien, die durch ihre politische Macht noch verschärft wurde, war eine der Hauptursachen der Reibungen zwischen, Briten und gebildeten Indern. Wo man an die Überlegenheit einer Rasse über eine andere glaubt, tut man es kaum jemals mit gutem Grund; wo sich ein solcher Glaube hält, wird er durch militärische Überlegenheit gestützt. Solang die Japaner siegreich waren, verachteten sie den Weißen genau so, wie der Weiße sie verachtet hatte, solange sie noch schwach waren. Manchmal jedoch hat das Gefühl der Überlegenheit mit militärischer Tapferkeit nichts zu tun. Die Griechen sahen auf die Barbaren herab, auch zu Zeiten, wo die Barbaren sie an Kriegsstärke übertrafen. Die aufgeklärteren Griechen waren der Meinung, Sklaverei ließe sich da rechtfertigen, wo die Griechen die Herren, die Barbaren die Sklaven waren; sonst sei sie unnatürlich. Die Juden nährten im Altertum einen ganz besonderen Glauben an ihre eigene rassische Überlegenheit; seit das Christentum Staatsreligion wurde, huldigen die Nichtjuden einer ebenso irrationalen Überzeugung ihrer Überlegenheit über die Juden. Überzeugungen dieser Art stiften unermesslichen Schaden; es sollte ein Ziel der Erziehung und Bildung sein – ist es leider nicht – sie auszumerzen. Eben sprach ich von der anmaßenden Haltung, die sich die Engländer im Umgang mit Indern leisteten und die im Lande natürlich böses Blut machte; aber das indische Kastensystem war selbst das Ergebnis aufeinanderfolgender Einfälle »überlegener« Rassen aus dem Norden, und ist ganz ebenso verwerflich wie die Anmaßung der Weißen.
Der Glaube an die Überlegenheit des männlichen Geschlechts, der heute bei den westlichen Völkern offiziell ausgestorben ist, ist ein seltsames Beispiel für die Sünde des Stolzes. Es hat, glaube ich, nie einen Grund gegeben, an irgendeine angeborene Überlegenheit des männlichen Wesens zu glauben, außer seinen stärkeren Muskeln. Ich besichtigte einmal eine Anzahl Zuchtbullen; was solch einen Bullen zu einem Prachtexemplar machte, war nichts anderes als die Vorzüge seiner Ahninnen als Milchkühe. Hätten aber die Bullen selbst die Stammbäume entworfen, so wären sie ganz anders ausgefallen. Von den weiblichen Vorfahren hätte es da nur geheißen, dass sie gelehrig und tugendhaft waren, während die männlichen Vorfahren für ihre Heldentaten im Kampf Lob eingeheimst hätten. Was nun die Rinder betrifft, so können wir die jeweiligen Verdienste der beiden Geschlechter unparteiisch abwägen; im Falle unserer eigenen Spezies fällt uns das schon schwerer. Die Überlegenheit des Mannes war früher leicht zu demonstrieren, denn wenn eine Frau die ihres Mannes bezweifelte, so konnte er sie schlagen. Die Männer galten als vernünftiger als die Frauen, erfinderischer, weniger Sklaven ihrer Gefühle und dergleichen mehr. Als die Frauen noch kein Stimmrecht hatten, leiteten die Anatomen aus dem Studium des Gehirns eine Reihe scharfsinniger Argumente ab, um zu beweisen, dass die geistigen Fähigkeiten des Mannes größer sein mussten als die der Frau. Diese Argumente erwiesen sich eins nach dem andern als trügerisch, wurden aber immer wieder durch andere ersetzt, die dieselben Schlüsse zuließen. Man glaubte lange, dass der männliche Fötus nach sechs Wochen eine Seele bekomme, der weibliche hingegen erst nach drei Monaten. Auch diese Meinung wurde aufgegeben, seitdem die Frauen das Stimmrecht besitzen. Thomas von Aquin erwähnt beiläufig als etwas ganz Selbstverständliches, dass Männer vernünftiger seien als Frauen. Ich meinerseits kenne keinen Beweis dafür. Einige wenige Menschen besitzen ein Fünkchen Vernunft auf diesem oder jenem Gebiet, aber soweit meine Beobachtungen reichen, sind solche Fünkchen unter Männern nicht häufiger als unter Frauen.
Die Vorherrschaft des Mannes hat einige sehr unglückliche Ergebnisse gezeitigt. Sie hat die innigste menschliche Bindung, die Ehe, zu einem Verhältnis zwischen Herrn und Sklaven gemacht, anstatt zu einem Bund gleichberechtigter Partner. Sie machte es überflüssig für einen Mann, einer Frau zu gefallen, um sie als seine Frau zu gewinnen, und beschränkte so die Künste der Werbung auf außereheliche Verhältnisse. Durch die Abschließung, die sie ehrbaren Frauen aufzwang, machte sie sie langweilig und uninteressant; die einzigen Frauen, die interessant und unternehmungslustig sein durften, waren aus der Gesellschaft ausgestoßen. Da ehrbare Frauen so langweilig waren, wurden oft die zivilisiertesten Männer in den zivilisiertesten Ländern homosexuell. Der Umstand, dass es keine Gleichheit in der Ehe gab, bestärkte die Männer noch in ihren selbstherrlichen Gewohnheiten. Dies alles ist heute in zivilisierten Ländern so gut wie vorbei, aber es wird lange dauern, bis sowohl Männer wie Frauen gelernt haben, ihr Benehmen den geänderten Verhältnissen vollkommen anzupassen. Jede Emanzipation hat zunächst gewisse schlimme Folgen: sie ruft bei den früher Überlegenen Verstimmung, bei den früher Unterlegenen Selbstherrlichkeit hervor. Aber wir dürfen hoffen, dass die Zeit auch hier heilen wird.
Eine andere Überlegenheit, die in schnellem Aussterben begriffen ist, ist die der Klasse; sie lebt heute nur noch in Sowjetrussland fort. In diesem Land ist der Sohn eines Proletariers gegenüber dem eines Bourgeois im Vorteil; in der übrigen Welt gelten solche erbliche Privilegien als ungerecht. Die Klassengegensätze sind jedoch noch lange nicht zur Gänze verschwunden. In Amerika ist jedermann überzeugt, dass in der gesellschaftlichen Rangordnung niemand über ihm steht, er gibt aber nicht zu, dass viele unter ihm stehen, denn seit Jefferson gilt die Lehre von der Gleichheit aller Menschen nur nach oben, nicht nach unten. Wo immer man über dieses Thema in allgemeinen Begriffen spricht, herrscht eine abgrundtiefe und weit verbreitete Heuchelei. Wie man darüber wirklich denkt und fühlt, ist aus zweitklassigen Romanen ersichtlich, wo man 'erfährt, wie schrecklich es ist, nicht aus dem richtigen Milieu zu stammen, und wo von einer Mesalliance soviel Aufhebens gemacht wird wie früher an einem kleinen deutschen Fürstenhof. Solange es noch krasse Besitzunterschiede gibt, ist hier eine Änderung schwer abzusehen. In England, wo der Snobismus tief verwurzelt ist, hat der kriegsbedingte Einkommensausgleich stark auf die Gemüter gewirkt, und den Jüngeren scheint heute der Snobismus ihrer Väter ein wenig lächerlich. Es herrscht immer noch sehr viel beklagenswerter Snobismus in England, aber er betrifft heute mehr die Erziehung und die Sprechweise als das Einkommen oder die gesellschaftliche Stellung im alten Sinn des Wortes.
Eine andere Spielart desselben Gefühls ist der Glaubensstolz. Nach meiner kürzlichen Rückkehr aus China hielt ich vor mehreren Frauenvereinigungen Amerikas Vorträge über dieses Land. Unter meinen Zuhörern war immer eine ältere Frau, die während des Vortrages anscheinend schlief, mich aber stets nachher mit unheilverkündender Miene fragte, warum ich es unterlassen hatte, darauf hinzuweisen, dass die Chinesen, die ja Heiden seien, natürlich keine Tugenden besitzen könnten. Ich stelle mir vor, die Mormonen von Salt Lake City müssen sich ähnlich benommen haben, als die ersten Nichtmormonen unter ihnen aufgenommen wurden. Das ganze Mittelalter hindurch waren Christen und Mohammedaner von der Verworfenheit der Gegenseite felsenfest überzeugt und konnten es nicht über sich gewinnen, ihre eigene Überlegenheit auch nur anzuzweifeln.
Das alles sind wohltuende Gründe, sich »erhaben« zu fühlen. Wir brauchen zu unserem Glück die verschiedensten Stützen für unsere Selbstachtung. Wir sind Menschen, daher ist der Mensch der Zweck der Schöpfung. Wir sind Amerikaner, daher ist Amerika Gottes eigenes Land. Wir sind Weiße, und daher hat Gott Ham und seine Nachkommen verflucht, die schwarz waren. Wir sind Protestanten oder Katholiken, und daher sind Katholiken oder Protestanten, je nachdem, ein Gräuel. Wir sind Männer, daher sind die Frauen unvernünftig; oder Frauen, daher sind die Männer gefühllos und roh. Wir gehören zum Osten, daher ist der Westen wild und verworren; oder wir wohnen im Westen, und darum ist der Osten kraftlos und erschöpft. Wir sind geistige Arbeiter, daher zählen nur die Gebildeten; oder manuelle, darum ist es allein manuelle Arbeit, die dem Menschen Würde verleiht. Schließlich hat jeder von uns vor allem eine Tugend, die ganz einzig in ihrer Art ist – wir sind wir! Mit diesen tröstenden Überlegungen ziehen wir in den Kampf gegen die Welt; ohne sie gebräche es uns vielleicht an Mut. Wie die Dinge liegen, würden wir uns ohne sie vielleicht unterlegen fühlen, weil wir das Gefühl der Ebenbürtigkeit noch nicht kennen. Könnten wir uns zur ehrlichen Überzeugung durchringen, dass wir unseren Mitmenschen ebenbürtig, und weder überlegen noch unterlegen sind, dann würde unser Leben vielleicht weniger einem Kampf gleichen und wir bedürften nicht so vieler berauschender Mythen, um uns Mut anzutrinken.
Einer der interessantesten und verhängnisvollsten Irrtümer, dem Menschen und ganze Völker erliegen können, ist es, sich für das besondere Werkzeug des göttlichen Willens zu halten. Wir wissen, dass beim Einfall der Israeliten in das Gelobte Land sie die Vollstrecker des göttlichen Willens waren und nicht die Hettiter, Girgaschiter, Amoriter, Kanaaniter, Perizziter, Hiviter oder Jebbusiter. Hätten diese anderen umfangreiche Geschichtswerke verfasst, so hätte der Sachverhalt vielleicht ein wenig anders ausgesehen. Und in der Tat hinterließen denn auch die Hettiter einige Inschriften, aus denen man nie vermuten möchte, was für verworfene Kreaturen sie waren. Man entdeckte – freilich erst »nach begangener Tat« – dass Rom von den Göttern zur Weltherrschaft bestimmt war. Dann kam der Islam mit seiner fanatischen Überzeugung, dass jeder im Kampf für den wahren Glauben gefallene Soldat schnurstracks ins Paradies eingehe, ein verheißungsvolleres Paradies als das der Christen, da Houris anziehender sind als Harfen. Cromwell war überzeugt, dass er das von Gott ausersehene Werkzeug seiner Gerechtigkeit zur Unterdrückung von Katholiken und Königstreuen sei. Andrew Jackson war der Arm der Vorsehung zur Befreiung Nordamerikas vom Alpdruck der Spanier, die den Sabbath entheiligten. Heute liegt das Schwert der göttlichen Vorsehung in den Händen der Marxisten. Hegel meinte, die Dialektik habe mit schicksalhafter Notwendigkeit Deutschland die Oberherrschaft verliehen. »Nein«, sprach Marx, »nicht Deutschland, sondern dem Proletariat«. Diese Lehre ist den früheren vom Auserwählten Volk und der göttlichen Vorsehung verwandt. In ihrem Fatalismus sieht sie den Kampf ihrer Gegner als einen Kampf gegen das Schicksal, und fordert, der Kluge solle sich daher so schnell wie möglich auf die Seite des Siegers schlagen. Deshalb ist dies Argument politisch so gut zu gebrauchen. Der einzige Einwand ist der, dass es eine Einsicht in die Absichten Gottes voraussetzt, die kein vernünftiger Mensch für sich beanspruchen kann, und dass es bei ihrer Durchführung eine rücksichtslose Grausamkeit rechtfertigt, die verwerflich wäre, wenn unser Programm rein irdischen Ursprungs wäre. Es ist gut, Gott auf unserer Seite zu wissen, aber einigermaßen verwirrend, den Feind vom Gegenteil genau so überzeugt zu finden. Wie es in den unsterblichen Versen eines Dichters aus dem ersten Weltkrieg so schön heißt:
Gott strafe England, und God save the King.
Gott dies und das – »Du lieber Gott«, sprach Gott,
»um Arbeit braucht mir nun nicht bange sein!«
Der Glaube an eine göttliche Sendung ist eine der vielen vermeintlichen Gewissheiten, die dem Menschengeschlecht geschadet haben. Ich glaube, eins der weisesten Worte, die jemals gesprochen wurden, war die Mahnung Cromwells an die Schotten vor der Schlacht von Dunbar: »Ich beschwöre euch um Christi Barmherzigkeit willen, denkt daran, dass ihr Unrecht haben könntet!« Aber die Schotten dachten nicht daran, und so musste er sie im Kampf besiegen. Schade dass Cromwell diese Mahnung nie an sich selbst richtete. Die meisten und schlimmsten Übel, die der Mensch dem Menschen zugefügt hat, entsprangen dem felsenfesten Glauben an die Richtigkeit falscher Überzeugungen. Die Wahrheit zu kennen ist schwieriger als die meisten glauben, und mit rücksichtsloser Entschlossenheit zu handeln, in dem Glauben, man habe die Wahrheit in Erbpacht, heißt Unheil heraufbeschwören. Lange Überlegungen, dass man gegenwärtige sichere Leiden zufügen müsse, um eines zweifelhaften zukünftigen Vorteils teilhaftig zu werden, sind stets mit Argwohn zu betrachten, denn, wie Shakespeare sagt, »Das Kommende ist noch ungewiss«. Selbst der Klügste geht weit irre, wenn er auch nur auf zehn Jahre die Zukunft vorhersagen will. Gewisse Leute werden diese Lehre für unmoralisch halten, aber schließlich heißt es auch im Evangelium: »Seid nicht ängstlich besorgt für den morgigen Tag.«
Im öffentlichen wie im Privatleben kommt es auf Toleranz und Freundlichkeit an, nicht aber auf die Anmaßung einer übermenschlichen Gabe, in die Zukunft zu schauen.
Statt diesen Aufsatz »Ideen, die der Menschheit geschadet haben« zu betiteln, hätte ich ihn vielleicht einfach »Ideen haben der Menschheit geschadet« überschreiben können, denn da wir nun einmal die Zukunft nicht vorhersagen können und unzählige verschiedene Ansichten darüber denkbar sind, ist die Wahrscheinlichkeit, dass irgend ein von irgend jemand gehegter Glaube wahr sein könne, sehr gering. Was immer wir in zehn Jahren für wahrscheinlich halten – abgesehen von Dingen wie dem morgigen Sonnenaufgang, die nichts mit den Beziehungen der Menschen untereinander zu tun haben – es wird fast mit Sicherheit falsch sein. Ich finde diesen Gedanken tröstlich, wenn ich an gewisse düstere Prophezeiungen denke, deren ich selbst mich voreilig schuldig gemacht habe.
Aber man wird mir einwenden: Wie anders ist denn eine Staatskunst möglich, wenn nicht unter der Voraussetzung, dass sich die Zukunft bis zu einem gewissen Grad vorhersagen lässt? Ich räume gern ein, dass eine gewisse Voraussicht notwendig ist, und will nicht sagen, dass wir völlig im Dunklen tappen. Es ist eine ziemlich sichere Prophezeiung, dass ein Mensch, den ich einen Schurken und Narren heiße, mich nicht gerade lieben wird, und dass siebzig Millionen Menschen es ebenso wenig tun werden, wenn ich ihnen dasselbe sage. Man kann mit Sicherheit annehmen, dass ein Wettbewerb im Halsabschneiden unter den Wettbewerbern nicht das Gefühl guter Kameradschaft wird aufkommen lassen. Es ist sehr wahrscheinlich, wenn zwei Staaten einander an einer Grenze modern gerüstet gegenüberstehen und ihre führenden Staatsmänner sich in gegenseitigen Beschimpfungen ergehen, dass die Völker auf beiden Seiten mit der Zeit unruhig werden, und die eine Seite zum Angriff übergehen wird, aus Angst, die andere könne ihr zuvorkommen. Man kann auch mit Sicherheit annehmen, dass ein großer moderner Krieg nicht einmal den Wohlstand der Sieger heben wird. Solche Verallgemeinerungen sind nicht schwer einzusehen. Schwierig ist es, die Folgen einer bestimmten Politik auf lange Sicht in allen Einzelheiten vorauszusehen. Bismarck gewann durch äußersten Scharfsinn drei Kriege und einigte Deutschland. Das Ergebnis seiner Politik auf lange Sicht war, dass Deutschland zwei vernichtende Niederlagen hinnehmen musste. Diese sind darauf zurückzuführen, dass Bismarck die Deutschen lehrte, die Interessen aller Völker mit Ausnahme Deutschlands zu missachten, und einen Angriffsgeist heraufbeschwor, der schließlich die Welt gegen seine Nachfolger zusammenschloss. Übertriebene Selbstsucht, sei es des Einzelnen oder eines Volkes, ist unklug. Sie mag sich mit Glück durchsetzen, schlägt sie aber fehl, so ist der Fehlschlag fürchterlich. Wenige werden sich dieser Gefahr aussetzen wollen, außer sie werden getragen von einer Theorie, denn nur Theorien machen Menschen ganz unvorsichtig.
Wenden wir uns nun vom moralischen dem rein geistigen Standpunkt zu, so müssen wir uns fragen, ob die Sozialwissenschaft zur Aufstellung von Kausalgesetzen beitragen kann, die die Staatsmänner in ihren politischen Entscheidungen unterstützen können. Einige wirklich bedeutsame Lösungen sind bekannt geworden, zum Beispiel, wie man Wirtschaftskrisen und Massenarbeitslosigkeit, die nach dem letzten Krieg die Welt heimsuchten, verhütet. Von denen, die sich die Mühe nahmen, die Frage zu studieren, wird heute auch allgemein anerkannt, dass nur eine Weltregierung einen Krieg verhüten und die Zivilisation bestenfalls noch einen weiteren großen Krieg überstehen kann. Aber obwohl man das weiß, wirkt sich dieses Wissen nicht aus; es ist noch nicht in die Massen gedrungen, und es ist nicht stark genug, dunkle Interessen in Schach zu halten. Ja, eigentlich besitzen wir schon viel mehr sozialwissenschaftliche Erkenntnis, als die Politiker sich zunutze machen wollen oder können. Manche schreiben dies Versagen der Demokratie zu, aber für mich tritt es in der Autokratie mehr als in jeder andern Regierungsform hervor. Der Glaube an die Demokratie kann jedoch, wie jeder andere Glaube, soweit getrieben werden, dass er fanatisch und daher schädlich wird. Ein Demokrat braucht nicht zu glauben, dass eine Mehrheit immer weise Entscheidungen treffen wird; woran er glauben muss, das ist die Notwendigkeit, dass der Mehrheitsentscheid, ob klug oder unklug, angenommen werden muss, bis die Mehrheit einen anderen Beschluss fasst. Und das glaubt er nicht aus irgendeiner mystischen Auffassung von der Weisheit des einfachen Mannes, sondern weil er es für den besten praktischen Weg hält, die Herrschaft des Gesetzes an Stelle willkürlicher Gewalt zu setzen. Auch glaubt der Demokrat nicht unbedingt, dass die Demokratie immer und überall das beste System ist. Es gibt viele Völker, denen die Selbstbeherrschung und politische Erfahrung mangelt, die zur erfolgreichen Arbeit parlamentarischer Einrichtungen nötig sind, und wo der Demokrat ihnen zwar die erforderliche politische Erziehung wünschen, aber doch einsehen wird, dass es nutzlos ist, ihnen vorzeitig ein System aufzudrängen, das fast mit Sicherheit zusammenbrechen muss. Man kann in der Politik, wie anderswo auch, nicht absolut handeln: was jetzt und hier gut ist, kann später und anderswo schlecht sein, und was dem politischen Empfinden eines Volkes Rechnung trägt, mag einem anderen vollkommen sinnlos scheinen. Das allgemeine Ziel des Demokraten ist es, eine Gewaltregierung durch eine Regierung zu ersetzen, die die Zustimmung des Volkes hat; das aber erfordert eine gewisse Erziehung auf Seiten der Bevölkerung. Nehmen wir an, ein Volk zerfiele in zwei fast gleiche Teile, die einander hassen und darauf brennen, einander an die Gurgel zu springen, so wird der zahlenmäßig kaum schwächere Teil sich der Gewaltherrschaft des anderen nicht ergeben fügen, noch wird die zahlenmäßig leicht überlegene Gruppe im Augenblick des Sieges jene Mäßigung an den Tag legen, die den Bruch heilen könnte.
Die Welt von heute braucht zweierlei: erstens Organisation politische Organisation zur Verhütung von Kriegen, wirtschaftliche Organisation zur Sicherung produktiver Arbeit, besonders in den vom Krieg zerstörten Ländern, erzieherische Organisation, um einen gesunden Internationalismus ins Leben zu rufen. Zweitens bedarf sie gewisser moralischer Eigenschaften jener, die seit Jahrhunderten von Sittenlehrern gefordert wurden, freilich bisher mit wenig Erfolg. Vor allem bedürfen wir der Nächstenliebe und der Toleranz, nicht irgendeines fanatischen Glaubens, den uns die verschiedenen um sich greifenden Ismen anpreisen. Diese beiden Ziele, das organisatorische und das ethische, stehen meines Erachtens in enger Wechselbeziehung; wäre eins von ihnen erreicht, so würde das andere bald folgen. Aber im Wesentlichen wird die Welt, soll sie auf dem richtigen Wege fortschreiten, dies auf beiden Gebieten zugleich tun müssen. Man wird die üblen Leidenschaften, die natürlichen Nachwirkungen des Krieges, allmählich eindämmen und jene Organisationen immer weiter ausbauen müssen, die der gegenseitigen Hilfeleistung dienen. Man wird mit dem Verstand und mit dem Herzen einsehen müssen, dass wir alle eine große Familie sind, und keiner von uns sein Glück auf dem Unglück des anderen fest begründen kann. Heute trüben sittliche Mängel unser klares Denken, und verworrenes Denken begünstigt wiederum sittliche Mängel. Vielleicht werden, obwohl ich es kaum zu hoffen wage, die Schrecken der Wasserstoffbombe die Menschheit zu Vernunft und Toleranz bringen. Sollte sie es tun, so werden wir ihre Erfinder segnen dürfen.