PHILOSOPHIE FÜR LAIEN

 

Seit es zivilisierte Gemeinschaften gibt, steht die Welt zwei verschiedenen Problemen gegenüber. Einerseits galt es, sich die Naturkräfte dienstbar zu machen, sich das Wissen und die Geschicklichkeit anzueignen, die erforderlich sind, Werkzeuge und Waffen herzustellen und die Natur bei der Hervorbringung von Nutztieren und Nutzpflanzen zu unterstützen. Dies Problem ist heute Aufgabe der Wissenschaft und Technik, und die Erfahrung hat gezeigt, dass man zur Bewältigung dieser Aufgabe eine große Anzahl ziemlich einseitiger Spezialisten heranbilden muss.

Es gibt aber ein zweites Problem, das nicht so klar umrissen ist und von gewissen Leuten irrigerweise als unerheblich betrachtet wird, nämlich die Frage, wie wir unsere Herrschaft über die Naturkräfte am nutzbringendsten anwenden sollen. Darunter fallen so brennende Streitfragen wie Demokratie oder Diktatur, Kapitalismus oder Sozialismus, Weltstaat oder Weltanarchie, freies Denken oder autoritäres Dogma. Auf diese Fragen kann aus den Laboratorien keine gültige Antwort kommen. Der Wissenszweig, der zu ihrer Lösung am meisten beitragen kann, ist eine umfassende Gesamtüberschau über das menschliche Leben in Vergangenheit und Gegenwart, und eine Einsicht in die tieferen Ursachen von Glück oder Unglück, wie sie die Geschichte zeigt. Man wird dann finden, dass unsere gesteigerten Fertigkeiten von selbst in keiner Weise Glück oder Wohlbefinden der Menschheit gesteigert haben. Als man zum ersten Mal den Boden bebauen lernte, nützte man dies Wissen zur Einführung eines grausamen Kults mit Menschenopfern.

Die Menschen, die als erste das Pferd zähmten, verwendeten es zur Ausplünderung und Versklavung friedliebender Völker. Als die Industrielle Revolution noch in den Kinderschuhen steckte, zeitigte die Erfindung der maschinellen Erzeugung von Baumwollwaren schreckliche Ergebnisse: Jeffersons Bewegung zur Sklavenbefreiung in Amerika, die unmittelbar vor dem Sieg stand, brach zusammen; in England nahm die Kinderarbeit entsetzlich grausame Formen an; in Afrika förderte man den brutalen Imperialismus, in der Hoffnung, die Schwarzen zum Tragen von Baumwollkleidung zu bewegen. In unserer eigenen Zeit hat eine Verbindung wissenschaftlichen Genies und technischer Fertigkeit die Atombombe geschaffen; nun wir sie aber haben, wissen wir mit ihr nichts anzufangen. Diese Beispiele aus ganz verschiedenen Geschichtsabschnitten beweisen, dass uns mehr als nur technische Fertigkeit Not tut; etwas, das man vielleicht »Weisheit« nennen darf. Sie muss, wenn sie überhaupt erlernbar ist, auf anderen Wegen erlernt werden als durch technisches Studium. Und sie ist heute nötiger denn je zuvor, weil bei dem atemberaubenden Fortschritt der Technik unsere hergebrachte Denk-und Handlungsweise weniger am Platz ist als jemals in der Geschichte.

»Philosophie« heißt »Liebe zur Weisheit«, und Philosophie in diesem Sinne müssen wir uns aneignen, sollen nicht die neuen, von den Technikern entfesselten und gewöhnlichen Sterblichen zur Nutzung und Handhabung überantworteten Kräfte die Menschheit in eine entsetzliche Katastrophe stürzen. Aber die Philosophie, die einen Teil der Allgemeinbildung ausmachen sollte, ist nicht identisch mit der der Philosophen vom Fach. Nicht nur in der Philosophie, sondern auf allen akademischen Wissensgebieten unterscheidet man zwischen kulturell Wertvollem und reinem Fachwissen. Historiker mögen den Ausgang von Sennacheribs erfolgloser Expedition 689 v. Chr. diskutieren; die Nichthistoriker aber brauchen den Unterschied zwischen dieser und seinem erfolgreichen Zug drei Jahre früher nicht zu kennen. Gräzisten vom Fach mögen eine umstrittene Lesart in einem Aeschylusdrama mit Gewinn erörtern, aber solche Dinge sind nicht für einen, der neben einem arbeitsreichen Alltag zu einem gewissen Verständnis der Errungenschaften der Griechen gelangen will. In ähnlicher Weise müssen die Männer, die ihr Leben der Philosophie widmen, sich mit Fragen auseinandersetzen, die der gebildete Laie mit Recht ignoriert, wie z. B. den Unterschieden in der Universalientheorie bei Thomas v. Aquin und Duns Scotus, oder den Merkmalen, die eine Sprache besitzen muss, soll sie, ohne sinnlos zu werden, ein Ausdrucksmittel über sich selbst sein. Solche Fragen gehören zur rein fachlichen Seite der Philosophie, und ihre Erörterung hat an dem Beitrag der Philosophie zur Allgemeinkultur keinen Teil.

Die akademische Erziehung sollte darauf abzielen, als Gegengewicht zur Spezialisierung, die mit der Zunahme unseres Wissens unvermeidlich geworden ist, soviel von den kulturell wertvollen Aspekten des Geschichts-, Literatur-und Philosophiestudiums zu vermitteln, als die Zeit erlaubt. Es muss einem jungen Menschen, der nicht Griechisch kann, leicht gemacht werden, durch Übersetzungen ein gewisses, wenn auch unvollkommenes Verständnis dessen zu erwerben, was die Griechen geleistet haben. Statt in der Schule immer wieder die angelsächsischen Könige durchzunehmen, sollte man versuchen, eine Gesamtüberschau der Weltgeschichte zu bringen und die Probleme unserer Zeit mit denen ägyptischer Priester, babylonischer Könige und athenischer Reformer in Beziehung zu setzen; ebenso auch mit all den Hoffnungen und Verzweiflungsausbrüchen der dazwischenliegenden Jahrhunderte. Allein mein Gegenstand ist ausschließlich die Philosophie, die ich nun von diesem Standpunkt aus behandeln will.

Die Philosophie hat seit ihren frühesten Zeiten zwei verschiedene Ziele gehabt, die man für eng verschwistert hielt. Das eine war ein theoretisches Verständnis des Aufbaus der Welt, das andere, die beste Lebenshaltung zu entdecken und zu predigen. Von Heraklit bis zu Hegel, ja selbst bis zu Marx behielt sie diese beiden Ziele ständig im Auge; sie war weder rein theoretisch noch rein praktisch, sondern strebte nach einer Theorie des Universums, um eine praktische Ethik darauf zu gründen.

So stand die Philosophie in enger Beziehung einerseits zur Wissenschaft, andrerseits zur Religion. Betrachten wir zuerst ihr Verhältnis zur Wissenschaft. Diese war bis zum achtzehnten Jahrhundert in dem, was man gemeinhin »Philosophie« nannte, inbegriffen; seit damals aber ist das Wort »Philosophie« in seiner theoretischen Bedeutung auf die abstraktesten und allgemeinsten Gebiete der wissenschaftlichen Disziplinen beschränkt. Es heißt oft, die Philosophie mache keine Fortschritte. Allein das ist ein bloßer Streit um Worte: sobald man nämlich über eine alte Streitfrage endgültig Sicherheit gewonnen hat, wird dies neue Wissen der »Wissenschaft« zugerechnet und so die Philosophie der ihr gebührenden Anerkennung beraubt. Bei den Griechen und bis herauf zu Newton gehörte die Theorie der Planeten zur »Philosophie«, weil sie unsicher und abstrakt war; Newton aber entzog diese Disziplin dem freien Meinungsstreit und machte sie zu einer neuen, die nun eine andere Art der Vorbildung erforderte als damals, als sie noch grundsätzlichen Zweifeln unterlag. Eine Evolutionstheorie besaß schon Anaximander im sechsten Jahrhundert v. Chr.; er verfocht die Abstammung des Menschen von Fischen. Das war Philosophie; war es doch bloße Spekulation, die ausführlichen Beweismaterials entbehrte. Darwins Evolutionstheorie hingegen war Wissenschaft, beruhte sie doch auf der Aufeinanderfolge von Lebensformen, wie man sie in Fossilien vorfand, und auf der Verteilung von Tieren und Pflanzen in vielen Weltgegenden. Man könnte sogar, nicht ganz zu Unrecht, scherzen: Wissenschaft ist, was wir wissen; Philosophie, was wir nicht wissen.« Man sollte aber hinzufügen, dass die philosophische Spekulation über das, was wir noch nicht wissen, sich als wertvolle Vorstufe exakter Wissenschaft erwiesen hat. Die Vermutungen der Pythagoreer über Astronomie, von Anaximander und Empedokles über biologische Evolution, und von Demokrit über den atomistischen Aufbau der Materie lieferten den späteren Wissenschaftlern Hypothesen, auf die sie ohne die Philosophen vielleicht nie verfallen wären. Wir dürfen sagen, dass die Philosophie im theoretischen Sinn des Wortes wenigstens zum Teil in der Formulierung großzügiger, allgemeiner Hypothesen besteht, welche die Wissenschaft noch nicht überprüfen kann; wird es möglich, sie zu überprüfen, so werden sie, falls bestätigt, ein Teil der Wissenschaft und zählen nicht mehr als »Philosophie«.

Der Nutzen der Philosophie im theoretischen Sinn des Wortes erschöpft sich nicht in Spekulationen, auf deren Bestätigung durch die Wissenschaft wir in absehbarer Zeit hoffen dürfen. Gewisse Leute sind von dem, was die Wissenschaft weiß, so beeindruckt, dass sie darüber vergessen, was sie nicht weiß; anderen wieder liegt so viel mehr an dem, was sie nicht weiß, dass sie ihre Errungenschaften schmälert. Jene, die glauben, die Wissenschaft sei alles, werden selbstzufrieden und siegessicher und schmähen jedes Interesse an Fragen, die nicht so klar umrissen und bestimmt sind, wie es die naturwissenschaftliche Behandlung erfordert. In der Praxis neigen sie zur Auffassung, dass Fachkenntnis den Platz der Weisheit einnehmen könne, und dass es »fortschrittlicher« und daher besser sei, einander mit den letzten Errungenschaften der Technik zu töten, als einander mit altmodischen Mitteln am Leben zu erhalten. Andererseits verfallen die Verächter der Wissenschaft in der Regel irgendeinem althergebrachten und gefährlichen Aberglauben und weigern sich, den ungeheuren Fortschritt der Menschheit und die Hebung ihres Wohlstandes anzuerkennen, die Wissenschaft und Technik bei weiser Anwendung ermöglichen würden. Beide Geisteshaltungen sind beklagenswert; den richtigen Weg weist uns die Philosophie, indem sie uns das Ziel, zugleich aber auch die Grenzen der Wissenschaft klar vor Augen führt.

Wollen wir alle ethischen oder Wertfragen vorläufig beiseite lassen, so gibt es eine Anzahl rein theoretischer Fragen von ewigem und leidenschaftlichem Interesse, welche die Wissenschaft wenigstens zur Zeit nicht beantworten kann. Gibt es ein Leben nach dem Tod in irgendeiner Form, und wenn ja, ist es zeitlich begrenzt oder aber ewig? Kann der Geist über die Materie herrschen, oder beherrscht diese ihn gänzlich, oder ist vielleicht beiden ein gewisses Maß an Unabhängigkeit eigen? Hat das Universum einen Sinn, oder treibt es blinder Zwang? Oder ist es etwa ein bloßes Chaos, ein Durcheinander, in dem unsere vermeintlichen Naturgesetze nur die Auswüchse unserer eigenen Ordnungsliebe sind? Wenn es einen Schöpfungsplan gibt, kommt darin dem Leben mehr Bedeutung zu, als die Astronomie uns glauben machen will, oder ist unsere Überbetonung des Lebens bloße Engstirnigkeit und Selbstüberhebung? Ich kenne die Antwort auf diese Fragen nicht, glaube auch nicht, dass jemand anderer sie kennt; ich glaube aber, dass das menschliche Leben ärmer würde, wollte man sie vergessen oder sich mit eindeutigen Antworten ohne schlüssige Beweise zufriedengeben. Das Interesse an solchen Fragen wachzuhalten und die vorgebrachten Antworten kritisch zu prüfen, ist eine der Aufgaben der Philosophie.

Wer rasche Vergütung und genaue Abrechnung über geleistete Arbeit und Lohn liebt, wird unzufrieden sein mit einem Studium, das beim derzeitigen Stande unseres Wissens nicht zu sicheren Ergebnissen kommen kann und nur die vermeintlich zeitraubende fruchtlose Meditation über unlösbare Probleme fördert. Dieser Ansicht kann ich mich ganz und gar nicht anschließen. Irgendeine Philosophie ist allen Menschen, ausgenommen den ganz Gedankenlosen, Bedürfnis; bei mangelndem Wissen aber wird sie fast unvermeidlich eine törichte Philosophie sein. Daraus folgt die Aufspaltung der Menschheit in rivalisierende Gruppen von Fanatikern, deren jede überzeugt ist, ihre eigene Spielart des Unsinns sei die heilige Wahrheit, die der Gegenseite aber fluchwürdige Ketzerei. Arianer und Katholiken, Kreuzfahrer und Moslems, Protestanten und Päpstliche, Kommunisten und Faschisten haben in den letzten 1600 Jahren weite Zeiträume mit nichtigen Streitigkeiten ausgefüllt, während doch ein wenig Philosophie beiden Parteien in allen diesen Auseinandersetzungen gezeigt hätte, dass keine von beiden sich mit Grund im Recht glaubte. Der Dogmatismus ist ein Feind des Friedens und eine unüberwindliche Schranke auf dem Wege zur Demokratie. Heute ist er zumindest ebensosehr wie früher das größte geistige Hindernis der menschlichen Glückseligkeit.

Das Verlangen nach Sicherheit ist dem Menschen eingeboren; dennoch ist es eine geistige Untugend. Unternimmt man mit seinen Kindern bei unsicherem Wetter einen Ausflug, so werden sie eine dogmatische Antwort verlangen, ob es heiter sein oder regnen wird, und sie werden von einem enttäuscht sein, wenn man es nicht sicher sagen kann. Dieselbe Art Versicherung verlangt man im späteren Leben von jenen, die sich erbötig machen, Völker ins Gelobte Land zu führen. »Liquidiert die Kapitalisten, und die überlebenden werden die ewige Seligkeit genießen!« »Rottet die Juden aus, und es werden nur Ehrenmänner übrig bleiben!« »Tod den Kroaten! die Serben an die Macht!« »Tod den Serben; die Kroaten an die Macht!« Solcherart sind die Schlagworte, die in unserer Zeit bei den Massen weitgehend Anklang gefunden haben. Schon ein Quentchen Philosophie würde die bereitwillige Aufnahme solchen blutdürstigen Unsinns verhüten. Aber solang der Mensch nicht gelernt hat, bei Mangel an Beweisen mit seinem Urteil zurückzuhalten, wird er von selbstsicheren Propheten irregeführt werden, und seine Führer werden höchstwahrscheinlich ignorante Fanatiker oder aber betrügerische Scharlatane sein. Die Ungewissheit ist schwer zu ertragen; doch das gilt auch von den meisten übrigen Tugenden. Zur Aneignung jeder Tugend gibt es eine eigene Disziplin; die beste Disziplin, um sich Zurückhaltung im Urteil anzueignen, ist die Philosophie.

Soll jedoch die Philosophie einem positiven Zweck dienen, so darf sie nicht bloßen Skeptizismus lehren, denn so schädlich der Dogmatiker ist, so unnütz ist der Skeptiker. Dogmatismus und Skeptizismus sind beide in gewissem Sinne absolute Philosophien: der eine ist überzeugt von seinem Wissen, der andere von seinem Nichtwissen. Was die Philosophie beseitigen muss, ist die Gewissheit, sei es nun die des Wissens oder des Nichtwissens. Das Wissen ist kein so festumrissenes Konzept, wie man gewöhnlich meint. Anstatt zu sagen »Ich weiß das«, sollten wir sagen »Ich weiß etwas ziemlich sicher; es läuft ungefähr auf folgendes hinaus.« Gewiss ist dieser Vorbehalt etwa hinsichtlich des Einmaleins kaum notwendig; aber das Wissen um praktische Dinge entbehrt nun einmal arithmetischer Gewissheit und Genauigkeit. Behaupte ich etwa »Demokratie ist gut«, so muss ich zunächst zugeben, dass ich das nicht so sicher weiß wie, dass zwei mal zwei vier ist, und ferner, dass »Demokratie« ein etwas unklarer Begriff ist, den ich nicht genau bestimmen kann.

Daher sollten wir sagen: »Ich bin ziemlich sicher, dass es gut ist, wenn ein Regierungssystem einige jener Merkmale besitzt, die den Verfassungen Englands und Amerikas gemeinsam sind«, oder so ähnlich. Und eines unserer Lehr-und Bildungsziele sollte es sein, einer solchen Feststellung von der Rednertribüne aus mehr Wirkung zu sichern als dem üblichen politischen Schlagwort.

Denn die Erkenntnis, dass unser gesamtes Wissen mehr oder weniger unsicher und vag ist, genügt allein nicht; wir müssen zugleich lernen, nach der besten Hypothese zu handeln, ohne dogmatisch an sie zu glauben. Um noch einmal auf den Ausflug zurückzukommen: obwohl man zugibt, es werde vielleicht regnen, bricht man doch auf, wenn man schönes Wetter für wahrscheinlich hält, trägt jedoch auch der gegenteiligen Möglichkeit Rechnung, indem man Regenmäntel mitnimmt. Der Dogmatiker würde die Regenmäntel zuhause lassen. Dieselben Richtlinien gelten auch, wo es um wichtigere Dinge geht. Allgemein kann man sagen: alles, was als Wissen gilt, lässt sich nach Sicherheitsgraden einteilen; zuoberst stehen Arithmetik und die Tatsachen der Sinneswahrnehmung. Dass zweimal zwei vier ist, und dass ich in meinem Zimmer am Schreibtisch sitze, sind Aussagen, an denen jeder ernste Zweifel meinerseits pathologisch wäre. Fast ebenso sicher weiß ich, dass gestern schönes Wetter war; aber doch nicht ganz so sicher, denn das Gedächtnis spielt uns in der Tat zuweilen seltsame Streiche. Weiter zurückliegende Erinnerungen sind schon zweifelhafter, besonders dann, wenn gewichtige emotionale Gründe eine trügerische Erinnerung bedingen; solche, wie sie zum Beispiel Georg IV. glauben ließen, er habe die Schlacht bei Waterloo mitgemacht. Wissenschaftliche Gesetze können der Gewissheit sehr nahe kommen oder aber nur eben wahrscheinlich sein, je nach dem Stande der Beweisführung.

Handelt man nach einer Hypothese, deren Unsicherheit man kennt, so hat man sein Handeln so einzurichten, dass es nicht allzu schlimme Folgen hat, wenn die Hypothese falsch ist. Im Falle unseres Ausflugs kann man es in Kauf nehmen, durchnässt zu werden, wenn alle Teilnehmer gesund und kräftig sind, nicht aber, wenn einer davon so schwächlich ist, dass er Gefahr läuft, sich eine Lungenentzündung zuzuziehen. Oder nehmen wir an, Sie treffen einen Anhänger von Herrn Kannegießer. Sie werden ihn mit Recht in ein Wortgefecht verwickeln dürfen, denn der Schaden wird nicht groß sein, wenn Herr Kannegießer wirklich ein so großer Mann war, wie seine Jünger glauben. Sie würden aber Unrecht tun, ihn auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen; denn das Übel, bei lebendigem Leib verbrannt zu werden, ist sicherer als jede theologische Behauptung. Wären natürlich Kannegießers Anhänger so zahlreich und so fanatisch, dass es um Leben und Tod ginge, so würde die Frage schon schwieriger; doch unberührt davon bleibt der allgemeine Grundsatz, dass eine unsichere Hypothese nicht ein sicheres Übel rechtfertigen kann, außer es wäre ein gleiches Übel unter der gegenteiligen Annahme gleich sicher.

Wir sagten oben, die Philosophie habe sowohl ein theoretisches als auch ein praktisches Ziel. Es ist nun an der Zeit, uns dem letzteren zuzuwenden.

Bei den meisten Philosophen der Antike war eine Theorie des Universums eng verquickt mit einer Lehre, wie man sein Leben am besten einrichten solle. Einige von ihnen gründeten Bruderschaften, die eine gewisse Ähnlichkeit mit den späteren Mönchsorden aufwiesen. Sokrates und Plato entrüsteten sich über die Sophisten, weil diese keine religiösen Ziele verfolgten. Soll die Philosophie im Leben der Laien eine ernsthafte Rolle spielen, so darf sie nicht ablassen, für irgendeine Lebensführung einzutreten. Sie übernimmt damit eine Aufgabe, die früher die Religion erfüllte; doch mit gewissen Unterschieden. Der wichtigste ist, dass es hier keine Berufung auf die Autorität gibt, sei es die der Überlieferung oder eines heiligen Buches. Der zweitwichtigste ist, dass ein Philosoph nicht versuchen sollte, eine Sekte zu gründen; Auguste Comte versuchte es, sein Versuch schlug aber verdientermaßen fehl. Der dritte ist, dass man auf die geistigen Tugenden mehr Gewicht legen sollte, als man es seit dem Untergang der hellenischen Kultur gemeinhin tat.

Es besteht ein bedeutsamer Unterschied zwischen den Lehren der alten Philosophen und jenen, die unserer Zeit angemessen sind. Die alten Philosophen wandten sich an eine müßige Herrenschicht, die nach ihrem Gutdünken leben und, wenn es ihr beliebte, selbst eine unabhängige Stadt gründen konnte, mit Gesetzen, die der Niederschlag von ihres Meisters Lehren waren. Die überwältigende Mehrzahl der heutigen Gebildeten besitzt diese Freiheit nicht; sie müssen sich in dem gegebenen Rahmen der Gesellschaft ihren Lebensunterhalt verdienen und können in ihrem Privatleben keine umwälzenden Neuerungen einführen, ohne vorher solche umwälzende Neuerungen in Politik und Wirtschaftsleben durchzusetzen. Daraus folgt, dass die ethische Überzeugung eines Menschen heute mehr auf der politischen Bühne und weniger im Privatleben zum Ausdruck kommen muss, als das im Altertum der Fall war. Und der Plan zu einer guten Lebensführung muss heute weniger ein individueller denn ein sozialer Plan sein. Als solchen hat ihn denn auch unter den Alten schon Plato im »Staat« entworfen; aber viele von ihnen hatten eine mehr individualistische Auffassung vom Sinn und Zweck des Lebens.

Unter diesem Vorbehalt wollen wir nun sehen, was die Philosophie zur Ethik zu sagen hat.

Um mit den geistigen Tugenden zu beginnen: das Studium der Philosophie ist gegründet auf den Glauben, dass das Wissen ein Gutes ist, selbst wenn das, was man weiß, schmerzlich ist. Wer vom Geist der Philosophie durchdrungen ist – er sei Philosoph vom Fach oder nicht – wird wünschen, dass seine Überzeugungen so wahrheitsgetreu seien, als er sie nur gestalten kann, und wird das Wissen lieben, das Verweilen im Irrtum hassen. Dieser Grundsatz hat weitreichendere Folgen, als es zunächst scheinen möchte. Unsere Überzeugungen entspringen den verschiedensten Quellen: was uns Eltern und Lehrer in der Jugend erzählten, was mächtige Organisationen uns einreden, damit wir nach ihrem Willen handeln, was unsere Befürchtungen entweder verkörpert oder mildert, was unsere Selbstachtung hebt, und so weiter. Aus allen diesen Quellen kann uns durch Zufall die richtige Überzeugung kommen; wahrscheinlich aber werden sie uns in die entgegengesetzte Richtung führen. Daher wird uns nüchternes Denken zu einer genauen Überprüfung unserer Überzeugungen veranlassen, damit wir erkennen, welche von ihnen wir überhaupt mit Grund für wahr halten. Wenn wir klug sind, so werden wir diese befreiende Kritik besonders auf jene Überzeugungen anwenden, an denen zu zweifeln uns am schmerzlichsten ist, und auf jene, die uns am ehesten in gewaltsamen Konflikt mit Menschen bringen können, die gegenteiliger, aber ebenso unbegründeter Ansicht sind. Könnte diese Geisteshaltung Gemeingut werden, so würden wir geistigen Auseinandersetzungen ihre Hitze und Schärfe nehmen und daraus unschätzbaren Gewinn ziehen.

Eine zweite geistige Tugend ist die allgemeine Betrachtungsweise, die Unparteilichkeit. Ich empfehle hierzu folgendes Exempel: Wenn in einem Satz, der eine politische Überzeugung ausdrückt, Worte vorkommen, die in verschiedenen Lesern verschiedene, aber starke Gefühle wecken, so versuchen Sie, sie durch Buchstaben A, B, C, usw. zu ersetzen und dann nicht mehr an die jeweilige Bedeutung dieser Abkürzungen zu denken. Nehmen wir an, A sei England, B Deutschland und C Russland. Solange Sie noch daran denken, was die Buchstaben bedeuten, wird Ihre Meinung über das Gelesene zum größten Teil davon abhängen, ob Sie Engländer, Deutscher oder Russe sind, was vom logischen Standpunkt aus ganz unerheblich ist. Wenn Sie in den Anfangsgründen der Algebra Beispiele rechnen über A, B und C, die einen Berg ersteigen, so nehmen Sie an den betreffenden Herren keinen gemütsmäßigen Anteil, und Sie tun am besten, die Lösung mit unpersönlicher Korrektheit zu erarbeiten. Würden Sie jedoch A mit sich selbst, B mit ihrem verhassten Nebenbuhler und C mit dem Lehrer gleichsetzen, der die Aufgabe gestellt hat, so würde Ihre Rechnung durcheinandergeraten, und Sie würden zweifellos herausfinden, dass A der erste und C der letzte ist. Bei der Auseinandersetzung mit politischen Problemen ist diese gemütsmäßige Voreingenommenheit schlechthin unvermeidlich, und nur Sorgfalt und lange Übung können Sie befähigen, darüber so objektiv zu denken wie über das Algebraexempel.

Das Denken in abstrakten Begriffen ist natürlich nicht der einzige Weg zur ethischen Unparteilichkeit. Sie lässt sich genau so gut, ja vielleicht sogar besser auf dem Wege der Nachempfindung verallgemeinerter Gefühle erreichen. Doch fällt dies den meisten Menschen schwer. Wenn Sie hungrig sind, so werden Sie sich, nötigenfalls auch unter großen Anstrengungen, Nahrung verschaffen; wenn aber Ihre Kinder hungrig sind, werden Sie vielleicht noch größere Anstrengungen machen. Wenn Ihr Freund dem Hungertode nahe ist, werden Sie sich wahrscheinlich bemühen, seine Not zu lindern. Wenn Sie aber hören, dass ein paar Millionen Inder oder Chinesen vom Tode durch Unterernährung bedroht sind, dann ist das Problem so ungeheuer und so fern, dass Sie es wahrscheinlich bald ganz vergessen, es sei denn, Sie tragen irgendeine amtliche Verantwortung dafür. Dennoch kann man bei entsprechender Veranlagung, durch lebhafte Einfühlung die ethische Unvoreingenommenheit erwerben. Besitzt man diese ziemlich seltene Gabe nicht, ist die Gepflogenheit, praktische Fragen nicht nur konkret, sondern auch abstrakt zu betrachten, der beste Ersatz.

Interessant sind die Beziehungen zwischen logischer und emotionaler Unvoreingenommenheit in der Ethik. Das Wort »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« predigt emotionale Unparteilichkeit; der Ausspruch »Ethische Vorschriften dürfen keine Eigennamen enthalten« dringt auf logische Unparteilichkeit. Diese beiden Forderungen klingen sehr verschieden; prüft man sie aber, so wird man in ihrer praktischen Bedeutung kaum einen Unterschied finden. Wohlmeinende werden die überlieferte Form vorziehen, Logiker vielleicht die andere. Ich weiß nicht recht, welche dieser beiden Menschengattungen zahlreicher ist. Jedes der beiden Gebote würde, wenn die Staatsmänner sich dazu bekennten und die von ihnen vertretenen Völker sie annahmen, rasch zum Tausendjährigen Reich führen. Juden und Araber würden zusammenkommen und sich sagen: »Wir wollen zusehen, wie wir für uns beide zusammen das größtmögliche Gute erhalten können und nicht allzu kleinlich danach fragen, wie es zwischen uns verteilt wird.« Offensichtlich würde jedem der beiden Völker weit mehr von dem zufallen, was zum Glücklichsein gehört, als jedes für sich allein heute bekommen kann. Dasselbe träfe auf Hindus und Moslems zu, auf die chinesischen Kommunisten und die Anhänger Tschiangkaischeks, auf Italiener und Jugoslawen, Russen und westliche Demokraten. Aber leider ist in allen diesen Auseinandersetzungen auf keiner Seite Logik oder Wohlwollen zu erwarten.

Man kann nicht verlangen, dass junge Leute, die sich eifrig wertvolles Fachwissen aneignen müssen, viel Zeit für das Studium der Philosophie erübrigen können. Aber selbst in der kurzen Zeit, die sich ohne Beeinträchtigung der Fachausbildung leicht erübrigen lässt, kann die Philosophie dem Studenten gewisse Dinge schenken, die ihn zu einem viel wertvolleren Menschen und Staatsbürger machen werden. Sie kann ihn an exaktes und sorgfältiges Denken gewöhnen, nicht allein in der Mathematik und den Naturwissenschaften, sondern auch in Fragen von weitreichender praktischer Bedeutung. Sie kann der Auffassung vom Sinn und Zweck des Lebens eine unpersönliche Weite und Tiefe verleihen. Sie kann dem Einzelnen einen gerechten Maßstab an die Hand geben für sich selbst im Verhältnis zur Gesellschaft, für das Verhältnis des heutigen Menschen zu seinen Vorgängern und Nachfahren, und für die ganze Menschheitsgeschichte im Verhältnis zum astronomischen Kosmos. Indem sie ihn groß denken lehrt, hilft sie ihm die Ängste und Nöte der Gegenwart überwinden und schenkt ihm soviel heitere Gelassenheit, als ein feinfühliger Mensch in unserer zerquälten und unsicheren Welt nur erringen kann.