Das Krankenhausgelände von Sundby lag im grauen Regen da. Die Farbe blätterte von den Doppeltüren ab, die vermutlich zur Kapelle führten. Erst war der Krebs im einen Lungenflügel aktiv geworden, dann im Unterleib, dann hatte er zum Abschluss in die Leber gestreut. Ihre letzten Wochen hatte sie im Morphiumrausch verbracht. Ib wollte nicht darüber sprechen. Ich wusste nur, dass sie ihn in einem wachen Moment darum gebeten hatte, ihr bei seinem nächsten Besuch Nagellack und eine Flasche Rotwein mit Schraubverschluss mitzubringen, die sie vor dem Personal verstecken könnte.
Die Tropfen liefen an einem schwarzen Lattenzaun hinunter, der einen auf der anderen Straßenseite gelegenen Friedhof umgab. Dort also lagen Menschen begraben, deren Hinterbliebene sich ein mit einem Namen versehenes Grab wünschten, das sie besuchen konnten. Sie wollten es mit Blumen und Buchsbaum bepflanzen, sie hatten vor, Tränen zu vergießen. Ich blieb stehen und betrachtete die hohen Lanzen, die ihre Spitzen in den Himmel ragen ließen und gemeinsam einen Zaun ergaben. Ich stellte mir Ritter vor, die hier begraben waren, Ritter in Rüstung und zu Pferde, Seite an Seite, die Lanzen straff und parallel in die Luft gereckt. Ib war hineingelaufen, um zu fragen, warum die Türen der Kapelle abgeschlossen waren.
Eine ältere Frau wanderte auf dem Friedhof hin und her und schien den richtigen Grabstein zu suchen. Hier und dort bückte sie sich mühsam und entfernte wilden Mohn und andere Pflanzen von den Namen und buchstabierte sich hindurch, während sie den Nasenrücken wie eine Ziehharmonika kräuselte, um ihre Brille oben zu halten. Stian stand ein Stück von mir entfernt, zusammen mit Mutter und Lotte. Keine von uns hatte einen Regenschirm mitgebracht. Mutter schüttelte sich die Regentropfen aus den Haaren, wie ein Hund, als Ib endlich die Schlüssel brachte und die Tür öffnete.
Der Innenraum war gerade groß genug für einen Sarg und zehn Stühle, die ihn in einem dichten Halbkreis umstanden. Die Wände waren kahl, abgesehen von einem schlichten Messingkreuz, ohne Jesus. Das hier war offenbar nicht die eigentliche Kapelle, sondern ein Nebenraum. Der Boden war von grau gefugten, weißen sterilen Fliesen bedeckt. Es gab in dem Raum nicht eine einzige Blume. Der Sarg ruhte auf einer Holzkonstruktion mit praktischen Rädern.
Zwei ältere Frauen erschienen Arm in Arm, sowie wir die Kapelle betreten hatten; wir fuhren herum, weil kein Licht mehr durch die offene Tür fiel, und da standen sie dann. Ich kannte sie nicht, aber Ib stellte sie munter als zwei welke Blumen des Røde-Kro-Theaters vor. Die eine, die violette Haare hatte, hielt einen gut gemeinten Rosenstrauß in der Hand. Die andere blieb mit versteinertem Gesicht stehen. Die mit den Rosen erzählte, ihre Freundin sei durch einen Schlaganfall taub geworden.
»Aber wir möchten doch so gern von unserer Thalia Abschied nehmen. Sie war doch unser großer Star, noch besser sogar als Marlene. Es war so schade, dass sie ihre Karriere aufgeben musste. Findet es also hier statt?«
Die Rosen waren tiefrot, fast schon schwarz.
»Hier findet gar nichts statt«, sagte Mutter mit harter Stimme. »Aber hier ist es. Und danach ist Schluss.«
Die Rosen wurden auf den Sargdeckel gelegt, und wir nahmen Platz. Unsere Knie waren nur Zentimeter vom Sarg entfernt, nur Stians nicht. Wir warteten auf den Krankenhauspastor. Wir warteten schweigend. Und ohne dass Mutter oder Ib das gewollt hätten, versanken wir routinemäßig in Begräbnisstimmung, mit im Schoß gefalteten Händen, die Blicke zu Boden gesenkt – zu dem kleinen Teil, den wir davon sehen konnten, da Sarg und Knie uns den Blick versperrten. Wir räusperten uns, bewegten vorsichtig die Füße. Die beiden älteren Damen saßen nebeneinander und bewunderten die mitgebrachten Rosen. Ein weißes Band hielt die Stängel zusammen, kräftige Stängel mit stahlharten Dornen.
Dort lag sie also, drinnen in der Dunkelheit. Klein und tot. Bald würde sie zu Asche verbrannt, fast vernichtet werden. Finger, Haare, Kniegelenke und Becken, Nase und Mund, alte vertrocknete Brüste, die einst hungrige Babymünder gefüllt hatten. »Therese, ich habe einen Künstlerinnenkörper. Einen Körper, der von den harten Forderungen der Kunst gequält worden ist, von der unermüdlichen Arbeit, eine Muse für Trauer und Freude und Schönheit zu sein!«
Ich nahm Stians Hand. Er zog sie zurück. Er wollte unbedingt die Hände falten. Ich nahm noch einmal seine Hand, musste sie von der anderen losreißen. Immer wieder versuchte er, sie zur ückzuerobern.
»Stillsitzen«, flüsterte ich wütend.
Der Krankenhauspastor war groß und bleich und hatte abstehende wässrige Ohren. Ein weißes Viereck mitten auf dem schwarzen Kragen unter seinem Kinn wies als Einziges auf sein Amt hin. Seine Augen irrten hektisch an unseren Gesichtern entlang; an den Gesichtern dieser Menschen, die eine alte Frau ins Unbekannte schicken wollten. Er selber hatte sie wohl kaum lebendig erlebt. Nachdem er uns gemustert und vergeblich Tränenspuren gesucht hatte, faltete er die Hände, senkte den Kopf und schloss die Augen. So blieb er stehen, wie in ein lautloses Gebet versunken. Ein Gebet, um uns zu trotzen. Ein Gebet für die Frau, um die es hier ging.
»Na los!«, sagte Ib mit Lippen, die wie ein schmaler Strich aussahen.
Der Pastor erwachte zum Leben, richtete einen ausdruckslosen Blick auf Ib und sagte dann: »Wir sind heute hier zusammengekommen, um Abschied zu nehmen von Amalie >Thalia< Jebsen, geboren am 12. Mai 1907, gestorben ...«
»Danke. Wir wissen, dass sie tot ist. Dem Himmel sei Dank«, sagte Ib.
»Also los, bringen wir es hinter uns«, sagte Mutter und rieb sich mit steifen Fingern über die Stirn.
Der Pastor räusperte sich noch einmal, dann wurde sein Blick plötzlich warm, als er sah, dass die Frau mit dem violetten Haar weinte. Er lächelte ihr zu, ein professionelles Lächeln, das genau bis zu seinen Nasenlöchern reichte. Er lächelte so lange, bis die Violette laut schluchzte und Ib stöhnte: »O verdahammmmmt!«
»Amen«, sagte Mutter.
Nun nahm der Pastor einen kleinen Eimer, der am Sargende gestanden hatte, an dem Ende, wo vermutlich Omas Kopf lag. Es war ein weißer Plastikeimer mit einem blauen Spaten. Er wirkte restlos fehl am Platze.
»So einen hab ich auch«, rief Stian.
»Pst«, machte ich.
»Aber ich hab so einen!«
Mutter lachte laut und schrill.
»Von der Erde bist du gekommen ...«, der Pastor ließ ein wenig Erde vor die Rosen auf den Sargdeckel rieseln.
»Zur Erde wirst du zurückkehren ...«
Er traf nicht genau. Stian sah interessiert zu, wie die Erde auf die weißen Fliesen fiel. Beim dritten Versuch ging noch viel mehr daneben.
»Aus der Erde wirst du dereinst auferstehen.«
»Gott behüte«, sagten Mutter und Ib im Chor, tauschten einen Blick, lächelten und erhoben sich, öffneten die Tür und traten hinaus in den Regen. Stian glitt vom Stuhl und rannte hinter ihnen her. Ich ging zu den beiden Damen, gab jeder eine Hand und wartete, bis beide mich ansahen, dann flüsterte ich: »Friede deiner Seele, Thalia. Wir versenken deinen Staub in Liebe.«
»Amen«, sagte die Violette. Die Taube nickte, als meine Lippen sich nicht mehr bewegten.
»Jetzt wird gefeiert«, hörte ich Ib draußen rufen. Als ich aus der Kapelle kam, schwenkte er Stian durch die Luft, durch den Regen. Stian lachte ein wunderbares, perlendes Lachen, und ich wünschte, ich sei es, die ihn mit ausgestreckten Armen in den Himmel hielt, während er so sehr lachte. Mutter hatte sich eine Zigarette angesteckt. Lotte hielt ihre Brieftasche in der Hand und blätterte in den Geldscheinen. Die alte Dame zwischen den Grabsteinen war nicht mehr zu sehen. Der Mohn leuchtete wie blutige Becher vor dem vielen Grün. Die Lanzen der Ritter standen noch immer in Reih und Glied. Mutters Wolken aus Zigarettenrauch wurden von den Regentropfen durchlöchert.
»Jetzt sollte dein Großvater hier sein«, sagte Mutter. »Es hätte ihm gefallen, wie wir von der alten Hexe Abschied nehmen.«
»Mein Großvater hat sie aber geliebt«, sagte ich.
»Fängst du schon wieder an«, sagte Mutter.