Mogens war nun schon zwölf Jahre, es war später Herbst, er schaute den Mädchen hinterher, von einem Tag auf den anderen war ihm aufgegangen, mit welcher Begeisterung er sie ansah, aber seine Mutter war doch die Beste. Er hätte sie gern häufiger berührt, sah aber ein, dass er zu alt dafür war. Es war lange her, dass sie ihn in die Arme genommen und mit ihm hinaus in die Heide gelaufen war, während der Wind ihre goldenen Haare aus ihrem Nackenknoten befreite. Sie fehlte ihm, er träumte von ihr. Wenn sie ihn abends an sich drückte, wollte er sie fast nicht loslassen. Der Duft ihres Nackens ließ ihn einen süßen Geschmack verspüren. Er wurde verlegen, wenn ihr Busen ihn berührte, wenn sie ihm die Haare schnitt. Es machte ihn glücklich, im heißen Sommer ihre nackten Knöchel zu sehen. Er hätte sie gern um die Taille gefasst und sie innig an sich gezogen. Er war erleichtert, weil sie nach seiner Geburt keine weiteren Kinder bekommen hatte, wusste aber nicht, warum.

Sie war noch immer jung. Die Falten in ihrem Gesicht waren durchaus nicht hässlich. Sie schienen auf die Haut gezeichnet worden zu sein, ganz bewusst gezeichnet. Und ihre Augen waren so klar und munter wie damals, als sie in jedem freien Moment ihre Lebensfreude geteilt hatten. Und sie hatte doch den Vater, um noch mehr Kinder zu machen. Seltsam, dass sie das nicht taten. Sie schliefen zusammen in dem breitesten, größten Bett, und es passierte ja nachts, dass man beschloss, ein Kind zu bekommen. Das wusste er immerhin. Frode hatte ihm allerlei Details über die Entstehung von Kindern mitgeteilt, aber darauf achtete er nicht, seine Mutter war nicht so. Die Mädchen dagegen tauchten immer häufiger in seinen Gedanken auf, vor allem Adeline und Jakobine, die Schwestern auf Hof Abelsbæsk. Er begriff nicht, warum sie sich so aufführten. Wenn sie ihn entdeckten, dann lachten sie nur und rannten davon, und er konnte ihre Beine sehen, die zum Vorschein kamen, wenn beim Laufen die Röcke wirbelten. Sie waren wie Vögel, es war unmöglich, dicht an sie heranzukommen. Und er wollte so gern dicht an sie heran. Er begriff immerhin, dass sie Frauen wie seine Mutter waren, nur in kleinerer Ausgabe, und er hätte gern an ihnen gerochen, sie berührt, sie gekostet.


»Musst du nicht Griechisch lesen?«, fragte Elise, als er sich zu ihr in die Küche gesetzt hatte.

»Hab ich schon.«

»Kannst du es jetzt?«

»Nein. Wo ist meine Mutter?«

»Im Hafen. Die Boote kommen herein. Deine Mutter wollte ein wenig frischen Fisch mitgebracht haben.«

Dann würden auch Carlchen und Peter kommen, wenn sie die Netze ausgebreitet hatten. Auch Peter fuhr jetzt jeden Tag zum Fischen hinaus, mit demselben Boot wie Carlchen.

Elise reinigte Messer und Gabeln in einer Mischung aus Asche und Lauge, um den Gestank von eingelegtem Hering und Zwiebeln zu entfernen. Es war kühl und halb dunkel in der Küche. Er dachte an Mädchen und frisch gefangenen Fisch und an Herodots unerträgliche lange griechische Sätze, die in seinem Kopf turmhoch aufragten. Er würde sich bis an den Rest seines Lebens an die Stimmung in diesem Moment erinnern, an jede Einzelheit; welche Kleidung er trug, was er unmittelbar davor gedacht hatte, wie Elises Hände sich emsig an den blanken Messerklingen zu schaffen machten. Denn es war der Tag, an dem er lernte, dass Unschuld ein unfassbarer Begriff ist, bis zu dem Moment, in dem man sie für immer verliert. Diese Unschuld bestand in dem Glauben, dass man, wenn man nur einen Fuß vor den anderen setzte und die Welt auf ehrliche Weise durchwanderte, nur das Böse erleben würde, das man ohnehin erwarten musste, zum Beispiel Strafarbeiten oder Unwetter oder Magenschmerzen oder zu trockene Graubrotstücke in saurer Milch. Mogens hatte die Welt im Griff. Das Leben war eingeteilt in Behagen und Unbehagen, in Tag und Nacht, in Anwesenheit und Abwesenheit, in Freizeit und Pflicht. Aber von Leben und Tod hatte er keine persönliche Vorstellung. Das änderte sich erst, als er in der Ferne seine Mutter schreien hörte, und als Elise die Messer losließ und die Hände in die Schürze schob, und als sie dann einen Schrei ausstieß, wie Frauen das tun, wenn sie dem Schrei einer anderen anhören können, dass etwas wirklich Entsetzliches passiert ist.

Zwei Männer brachten Carlchen zwischen sich. Seine Lippen waren blau. Er bewegte sich nicht. Aus seinen Haaren strömte Wasser. Er hatte rosa Schaum am Kinn und in den Mundwinkeln und hatte beide Schuhe verloren. Die Mutter und Peter riefen den Vater und schrien, Carlchen sei tot.

Der Vater kam ohne Hemd und mit zerzausten Haaren aus dem Schlafzimmer. Das war fast das Schlimmste, ihn so zu sehen. Dann stimmte überhaupt nichts mehr, dann war die Welt für immer in Stücke gegangen, und man hatte erfahren müssen, wie ein plötzlicher Tod sich in die Normalität hineinbohrt, jenseits von menschlicher Würde und den üblichen Verhaltensregeln. Mogens glitt lautlos an der Wand zu Boden, während der Vater vor dem Jungen auf die Knie fiel, diesem Jungen, der kein Kind mehr war, sondern ein junger, kräftiger Mann von siebzehn Jahren, ein lebhafter und geselliger junger Mann, ein tüchtiger Fischer, der für ein eigenes Boot sparte und deshalb abends für andere Netze flickte und andere Arbeiten erledigte.

Mogens lauschte den Worten, die gerufen wurden. Alle riefen, obwohl sie in dieser einen Kammer zusammen waren. Sie riefen, er sei mit dem Netzblei untergegangen, in einem harmlosen Gebiet mit regelmäßigen Wellen habe sich ein Seil um seinen Fuß gewickelt. Sie hatten vielleicht zehn Minuten gebraucht, um ihn hochzuholen. Und da war es schon zu spät gewesen. Sie hatten ihm in den Rücken gehämmert und ihn auf den Kopf gestellt, aber ihm war kein Lebenszeichen mehr zu entlocken gewesen.

Die Mutter kniete neben dem Vater und warf den Kopf hin und her, als sei der zu schwer für ihren Hals. Der Vater hatte beide Hände um den Kopf des Jungen gelegt und murmelte einen Wortstrom, den sonst niemand verstand. Überall auf dem Boden war es nass, durch die Stiefel, durch den toten Bruder, durch die Tränen. Mogens weinte nicht. Er atmete nur ein und aus und versuchte, nicht darauf zu achten, wie eng seine Kehle jetzt war. Er kannte diese Menschen nicht, nicht den Vater, nicht die Mutter. Sie waren fremd. Und Carlchen lag dort und war es doch nicht.

»Jetzt ist unser Sohn bei Gott dem Vater«, hörte er seinen Vater endlich sagen, mit tonloser, nicht zu erkennender Stimme. Es war für die Verhältnisse des Vaters eine kurze Mitteilung, und deshalb fügte er noch hinzu: »Gott hat ihn zu sich genommen, Christina, es war Sein Wille und Sein Recht.«

»Nein, nein, nein«, flüsterte sie.

»Doch«, sagte der Vater und stand auf.


Mogens ging ebenfalls, als die Fischer sich zurückzogen. Niemand merkte, dass er das Haus verließ. Er wusste, dass Carlchen mit einem Mädchen zusammen gewesen war. Frode kannte sich aus. Er hätte gern gewusst, was es für ein Gefühl gewesen war, Carlchen zu sein. Jeden Tag aufzustehen und er zu sein. Sich auf das Fischen zu freuen oder sich davor zu grauen, je nach Wind und Wetter. Sich in Gedanken hinter diesem Gesicht zu befinden, das Carlchen war, dieses Gesicht zu besitzen, sich auf dieses Mädchen zu freuen, dessen Namen nicht einmal Frode kannte, und dann plötzlich nicht mehr da zu sein. Gott hatte ihn getötet. Und damit gewartet, bis Carlchen siebzehn geworden war. Dann hatte Er unerwartet zugeschlagen, bei schönem Wetter, als niemand sich um die Menschen auf See Sorgen machte und deshalb auch nicht für sie betete. Mogens konnte nicht fassen, was Carlchen verbrochen haben mochte. Hatte er gegen die Gebote versto ßen? Nein. Er nickte sonntags in der Kirche manchmal ein, sollte das die Strafe sein? Nein, denn dann würde fast ganz Paullund im Meer versinken.

Mogens tappte blind zur Heide hoch und schwor, von nun an nie mehr zu Gott zu beten. Und wenn er Gott vergaß, dann konnte Gott auch ihn vergessen und ihn in Ruhe lassen. Auch dann, wenn er ein junger Mann von siebzehn Jahren war, der vielleicht sparte, um sich ins Erwachsenenleben einkaufen und zusammen mit einer Frau in einem breiten Bett liegen zu können.


Die Heide war fast abgeblüht. Er setzte sich auf ein Büschel Heidekraut. Das knirschte trocken unter ihm. Er musste an die fünfzehnhundert Menschen denken, die im Frühjahr mit dem Ozeanriesen untergegangen waren, mit der Titanic. Fünfzehnhundert. Der Vater hatte ihnen das aus der Zeitung vorgelesen, es war eine entsetzliche Geschichte, eben weil sie alle ertrunken waren, der große Albtraum eines Fischerdorfes. Aber trotzdem - es war nur eine Geschichte gewesen, ebenso unbegreiflich wie der Untergang Sodoms. Jetzt aber dachte er: fünfzehnhundert. Tausend Menschen und dann noch einmal fünfhundert. Ein Mensch, und dann noch eintausendvierhundertundneunundneunzig Menschen. Die eine ebenso große Leere hinterließen wie Carlchen – war das möglich? Dass es eben so war? Dass jeder Tod eines Menschen in jedem einzelnen Fall ebenso unbegreiflich war wie der von Carlchen?

Das Erbstueck
titlepage.xhtml
cover.html
e9783641098988_fm01.html
e9783641098988_fm02.html
e9783641098988_ata01.html
e9783641098988_toc01.html
e9783641098988_ded01.html
e9783641098988_fm03.html
e9783641098988_p01.html
e9783641098988_c01.html
e9783641098988_c02.html
e9783641098988_c03.html
e9783641098988_c04.html
e9783641098988_c05.html
e9783641098988_c06.html
e9783641098988_p02.html
e9783641098988_c07.html
e9783641098988_c08.html
e9783641098988_c09.html
e9783641098988_c10.html
e9783641098988_c11.html
e9783641098988_c12.html
e9783641098988_c13.html
e9783641098988_c14.html
e9783641098988_c15.html
e9783641098988_c16.html
e9783641098988_c17.html
e9783641098988_c18.html
e9783641098988_c19.html
e9783641098988_p03.html
e9783641098988_c20.html
e9783641098988_c21.html
e9783641098988_c22.html
e9783641098988_c23.html
e9783641098988_c24.html
e9783641098988_c25.html
e9783641098988_c26.html
e9783641098988_c27.html
e9783641098988_p04.html
e9783641098988_c28.html
e9783641098988_c29.html
e9783641098988_c30.html
e9783641098988_c31.html
e9783641098988_c32.html
e9783641098988_c33.html
e9783641098988_c34.html
e9783641098988_c35.html
e9783641098988_c36.html
e9783641098988_c37.html
e9783641098988_c38.html
e9783641098988_p05.html
e9783641098988_c39.html
e9783641098988_c40.html
e9783641098988_c41.html
e9783641098988_c42.html
e9783641098988_c43.html
e9783641098988_c44.html
e9783641098988_c45.html
e9783641098988_c46.html
e9783641098988_c47.html
e9783641098988_c48.html
e9783641098988_c49.html
e9783641098988_c50.html
e9783641098988_p06.html
e9783641098988_c51.html
e9783641098988_cop01.html