Für meine süße, kleine Therese, schrieb meine Großmutter auf ein Stück weißes Papier, das sie an einer Golduhr befestigt hatte. Die Uhr lag in ihrer Nachttischschublade, der Zettel war mit einem Gummi am Armband festgemacht.

Diese Wörter waren mit seegrüner Tinte geschrieben. Die Armbanduhr war einer von zwei Gegenständen, die sie mir vermachen wollte; mir und keiner anderen. Das Gummiband war rot und brüchig. Alle ihre Habseligkeiten waren mit Gummis umwickelt, sie schienen sorgfältig zusammengezurrt worden zu sein, um auf eine lange Reise oder einen Umzug mitgenommen zu werden. Wir fanden sogar Gummibänder um kleine Gläser mit zugeschraubten Deckeln, so als solle das Glas an sich zusammengehalten werden. Ich kann sehen, wie Omas kleine runzlige, krallenhafte Hände mit dem abblätternden rosa Nagellack die Gummis um die Gläser wickeln – eine sinnlose Tätigkeit –, und ich kann hören, wie totenstill es derweil im Haus ist.


Es war die Verlängerung dieser Stille, auf die meine Mutter mich aufmerksam machen wollte, als sie am Telefon sagte:

»Mutter ist tot.«

Und dann lachte sie. Sehr lange. Ein lautes, schroffes Lachen mit keuchendem Atem.

»Oma ist tot?«

»Ja. Ist das nicht fantastisch?«

Der kleine Stian stand mit einem Stück Klopapier neben mir, ich hatte ihm gerade die Nase putzen wollen.

»Ist Oma etwa tot?«, rief er.

»Nein, nicht deine Oma«, sagte ich. »Meine Oma. Die Mutter deiner Oma.«

Ich klemmte mir den Hörer zwischen Kinn und Schultern und putzte Stian die Nase, drückte ein Nasenloch nach dem anderen zusammen. Auf jeder Seite zweimal blasen, eine gemeinsame Aktion seiner Nase und meiner Finger, die keine Worte brauchte. Danach lief er auf braunen, dünnen Beinen und mit eifrig wackelnden Ellbogen auf die Veranda hinaus.

»Ich höre, dass du dich freust, Mutter.«

»Ja. Ich bin so glücklich, Therese! Ich ... und Ib geht es auch so, er hat angerufen, wir sind so ... so ... Und du musst mit nach Kopenhagen kommen! Endlich können wir das ganze Haus durchsehen, können alle Schubladen und Schränke öffnen. Das wird fantastisch, Therese.«

»Ich kann mir im Moment keine Reise nach Kopenhagen leisten, Mutter.«

»Ich lade dich ein. Das wird fast wie ein Kurzurlaub. Und Ib hat doch Stian noch nie gesehen! Gott, wird das schön ...«

Wieder lachte sie, ein verirrtes Mädchenlachen, dem ich atemlos lauschte. Die langen Vorhänge vor der Balkontür bewegten sich leicht, so wie Vorhänge das im Spätsommer immer tun, so wie alle Vorhänge das zu allen Zeiten getan haben. Ich fing an zu weinen, gab mir aber alle Mühe, meine Mutter das nicht merken zu lassen.

»Lädst du mich wirklich ein?«

»Ja. Wirklich. Wir bekommen doch das Haus, Therese. Das wird kein Problem.«

Ich sagte, dass ich an diesem Abend nicht mehr bei ihr vorbeischauen könne, dass das wirklich unmöglich sei, dass ich keinen Babysitter hätte. Sie fand sich sofort mit dieser Erklärung ab und erzählte, dass sie eine Flasche Wein öffnen, sich in den Sonnenwinkel auf der Veranda setzen und richtig feiern wollte.

Ich sagte, bis dann, und blieb ganz still am Telefontisch sitzen. Ich legte die Hände in den Schoß und musterte sie. Wie viele Jahre hatte ich die Möglichkeit gehabt, sie den Hörer hochheben und Omas Telefonnummer wählen zu lassen? Oder einen Brief zu schreiben? Oder hinzufahren? Ich war neun Jahre zuvor von zu Hause ausgezogen. Neun Jahre lang hatte ich die Möglichkeit gehabt, mich gegen die Loyalität gegenüber meiner Mutter zu entscheiden. Auf jeden Fall hatte ich die Möglichkeit gehabt, es zu verbergen. Aber Oma hätte das nicht geschafft. Sie hätte sich den Triumph nicht verkneifen können. Sie hätte mich wie eine Trophäe vor Mutters Gesicht hin und her geschwenkt.


Stian vergaß alles, bis er im Kinderfernsehen sah, wie eine tote Katze beerdigt wurde. Er brach in Tränen aus. Er sagte: »Du bist traurig, du, Mama.«

»Weinst du deshalb?«

»Oma ist doch nicht tot?«

»Nein. Sie lebt, genau wie immer. Und weißt du was, wir fahren mit ihr zusammen nach Kopenhagen. Du und ich und Oma. Kopenhagen liegt in Dänemark.«

»Wo Oma gewohnt hat, als sie noch klein war?«

»Ja. Genauda.«

»Wo ihre Mama tot ist?«

»Ja.«

»Sehen wir sie dann? Wo sie doch tot ist?«

»Das weiß ich nicht. Ich glaube nicht. Möchtest du das?«

»Ist sie ganz weiß und hat sich zu einem Klumpen zusammengerollt?«

»Sie liegt bestimmt auf dem Rücken.«

»Die Katze, die tot war, lag wie ein Klumpen da. Die lag nicht auf dem Rücken.«

»Tiere liegen nicht so oft auf dem Rücken. Das liegt daran, dass sie auf vier Beinen gehen. Menschen gehen auf zwei, deshalb liegen sie auf dem Rücken.«

Das hörte sich natürlich und logisch an, obwohl ich im Moment den Zusammenhang nicht durchschauen konnte. Aber Stian war mit dieser Antwort zufrieden. Seine Hand lag kurz und braun und krumm über der Armlehne des Sessels, in dem er saß. Er hielt es für selbstverständlich, dass sie dort lag und lebendig war, dass sie dort lag und auf ihn wartete, auf den Moment, in dem er beschloss, sie zu etwas zu benutzen.

»Du gehst aber nicht tot, Mama?«

»Nein. Spinnst du? Nie im Leben. Mama wird immer hier sein.«


Ich dachte, er würde darum bitten, in dieser Nacht in meinem Bett schlafen zu dürfen, aber das tat er nicht. Ich hätte mich gerne ganz und gar auf ihn konzentriert; mich seinem Schlaf angepasst, auf seinen Herzschlag gehorcht und gesehen, wie seine Augenlider im Traum zitterten. Aber stattdessen lag ich allein in der Dunkelheit, mit einem Schuldgefühl, das alle guten Erinnerungen an meine Großmutter überlagerte. Ich lag mit trockenen Augen in der Dunkelheit und spürte, wie überraschend warm es unter der Decke geworden war. Es war eine Wärme, die von meinem eigenen Körper stammte, eine Wärme, über die ich keine Kontrolle hatte. Endlich würde ich zu ihr fahren dürfen.

Das Erbstueck
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