Langsam erwachsen zu werden, handelte davon, dass sie mit geheimen Gedanken leben musste, bis sie ihre eigene Wohnung finden, bis sie die Tür hinter sich schließen und alles laut sagen konnte, egal, ob jemand es hören wollte oder nicht. Deshalb war sie mit fünfzehn Jahren überglücklich, als ihre Mutter sie in ein Internat gab. In eine Schule, wo man die ganze Zeit wohnte und nur jedes zweite Wochenende nach Hause fahren durfte. Schon nach der Konfirmation, die Tante Oda und die Mutter in Gottes Namen ausrichteten, und die während einer Hitzewelle im Garten gefeiert wurde, begann sie, sich auf den Herbst zu freuen. Tante Oda schenkte ihr eine nagelneue Armbanduhr, die alte wurde mit keinem Wort erwähnt. Und die Mutter erlaubte es ihr, eine Perlenkette und Perlenohrringe zu tragen. Die Konfirmation an sich war unwichtig, es ging darum, konfirmiert zu sein. Das Fest an sich war ein Fest wie alle anderen, es gab zu essen und zu trinken, und zwischen Mutter und Vater herrschte ein stummer Waffenstillstand. Onkel Dreas hielt eine weltfremde Rede mit Floskeln über die Reihen der Erwachsenen, und Onkel Frode schlief mit seiner Zigarre im Schatten ein und brannte sich ein Loch in sein neues weißes Jackett. Anne-Gine wurde noch immer nicht eingeladen, aber Tutt und Käse-Erik kamen. Sie schenkten ihr einen Goldring. Es interessierte Ruby absolut nicht, wie sie und die Eltern ihre finanziellen Angelegenheiten geregelt hatten und ob sie noch befreundet waren oder nicht. Für sie war der Goldring die Hauptsache.
Sie biss sich nicht mehr in die Knie. Sie konnte sich nur noch vage an diese Gewohnheit erinnern. Der Dachboden war zu einem blöden kleinen Loch geschrumpft, wo sie sich nur mit Mühe aufrecht halten konnte. Er war gefüllt mit Kästen voller alter Kleider und ausrangierten Spielsachen. Familie Holgersen zog nach Ärhus, keine neue Freundin nahm Sofies Platz ein. Ruby besaß einen Körper, der nur ihr gehörte, einen Körper, der leuchtete, wenn sie ihn wusch, der sich in ihren Kleidern schwenkte, der die Mutter zum Wahnsinn trieb. Beide zählten die Tage bis zum Schulbeginn. Der Vater wirkte still und bedrückt. Ib brachte aus seiner Schule eine Mitteilung mit, weil er den Feueralarm ausgelöst hatte. Worauf die Mutter sich glücklich die Zeit damit vertrieb, ihm Hausarrest zu verpassen und alle Türen und Fenster zu bewachen und sich bei Ruby zu beschweren, die mit Engelszungen antwortete. Denn dahinter wartete die Freiheit von zu Hause.
Doch zwei Jahre in der Realschule Forum entpuppten sich als alles andere als Freiheit. Ihr Zimmer musste sie mit einer kleinen Schwedin teilen, die sieben Jahre alt war, als sie dort eintraf. Yvonne, die aus einem Waisenhaus stammte. Ruby machte sie sofort zu ihrer Sklavin. Das war die Strafe dafür, dass die kleine Drecksgöre ihr die Möglichkeit nahm, hinter einer geschlossenen Tür allein zu sein. Yvonne putzte Schuhe und spitzte Bleistifte und füllte das Tintenfass, sie wusch Unterwäsche und putzte den Fußboden, während Ruby sie tadelte, bis sie herzzerreißend weinte und behauptete, ihr Onkel aus Schonen werde kommen und Ruby mit einem dicken Stein totmachen.
Die Lehrer hasste sie, unter anderem, weil sie ihr kein Einzelzimmer gegeben hatten. Lehrer Poulsen war Vegetarier, hatte immer eine Seifenschale voller Weizenkeime neben sich stehen und schlug mit seinem Zeigestock wild um sich, wenn jemand eine falsche Antwort gab. Die Jungen liebten ihn, weil er Fortpflanzungslehre gab, ein Fach, das zur Entlassung führen konnte, das wusste Ruby sehr wohl. Sie fand es widerlich, sich anhören zu müssen, wie ein Fötus wuchs. Allein das Wort Fötus war schon schlimm genug. Und dann das viele Blut, der Schleim und die Flüssigkeiten, die dabei eine Rolle spielten, es war zum Erbrechen! Die Vorstellung eines Storchs mit einem Kind in einem breiten Seidentuch, das aus seinem Schnabel hing, und der dann durch die Nacht zu einem wartenden Elternpaar flog, das das Kind geschehen machen wollte, war viel besser.
Lehrer Poulsen war verheiratet mit einer winzig kleinen Frau mit braunen Haaren, die ihren Kopf wie ein blanker Helm umgaben, sie waren an den Wangenknochen glatt abgeschnitten, und der Pony schien aus Glas zu sein. Alle nannten sie Püppi. Als Ruby Püppi zum ersten Mal auf dem Gang sah, stellte sie ihr ein Bein. Sie wusste nicht, wer diese Person war, und hielt sie für eine neue Schülerin. Zur Strafe gab es fünfzehn Hiebe mit dem Zeigestock auf die Fingernägel, was Ruby über sich ergehen ließ, weil sie noch immer darüber staunte, dass der hässliche Lehrer Poulsen mit der kleinen Püppi verheiratet war; dass sie sich vermutlich küssten und zusammen im Bett lagen und einander im Nachthemd sahen. An diesem Abend musste Yvonne Boden und Treppe zweimal putzen. Ruby war nicht zufrieden. Sie konnte noch immer Seifenflecken sehen.
Die anderen aus ihrer Klasse konnte sie nicht ausstehen. Die waren ungezogene Kinder, die von zu Hause weggeschickt worden waren, so wie sie selber. Freche Jungen und armselige Mädchen. Sich mit ihnen bekannt zu machen, über Frotzeleien und Verschwörungen gegen die Lehrer hinaus, das kam nicht in Frage. Die Vorstellung, sich ihnen anzuvertrauen, war ungeheuerlich. Die Wochenenden zu Hause wurden zu Lichtblicken, und Rubys Erwartungen wurden vorher himmelhoch gesteigert. Am Sonntagabend waren die Erwartungen dem Erdboden gleichgemacht, und sie musste zurück in die Schule. Drei, vier Tage später fing sie wieder an, sich zu freuen.
Sie spielte mit dem Gedanken an Flucht. Es wäre nicht schwierig. Sie brauchte nur loszugehen, mit ihrer Tasche mit Kleidern. Aber wenn sie weglief, dann musste es gut durchdacht und für immer sein. Nählehre? Kochlehre? Einen Mann zum Heiraten? Letzeres verbot sich von selbst. Sie hatte noch nie einen Mann geküsst oder einen getroffen, der sie gern geküsst hätte. Und Geld hatte sie nicht. Das hätte sie dann stehlen müssen. Aber von wem? Stehlen und weglaufen. Irgendwo ankommen, ohne Papiere oder Zeugnisse. Nein.
Das Gute in ihrem Leben kam von Tante Oda. Sie holte sie an den Wochenenden ab, wenn Frau Mogens Thygesen mitteilte, sie könne ihre Tochter übers Weekend leider nicht zu Hause haben. Wie Tante Oda davon erfuhr, war für Ruby ein Rätsel. Sie fragte auch nie danach.
Und es war auf einer Führung durch das Schloss Rosenborg, mit Tante Oda, im Ballsaal, als Ruby, siebzehn Jahre alt, im Unterleib Schmerzen hatte und etwas Feuchtes, Tropfendes spürte. Sie schob die Hand nach unten und zog sie blutverschmiert wieder hoch. Sie stöhnte laut auf und hatte keine Lust, sich die Finger abzulecken. Trotz Lehrer Poulsens waghalsiger Fortpflanzungslehre hatte sie keine Ahnung, warum sie blutete. Poulsen baute seinen Unterricht auf das empfangene Kind auf, das im Mutterleib wachsen sollte, bis die Mutter von ihm entbunden werden konnte. Wie es dort hineingekommen war, geh örte zu den tausend Dingen, nach denen man nicht fragen durfte. Tante Oda zog sie mit neugierigem Blick aus dem Saal und nach Hause in den Schrebergarten. Onkel Dreas wurde in den Garten geschickt, um sein Bier zu gießen, und Tante Oda durchwühlte ihre Schränke und fand einige selbst gestrickte Binden. Ruby weinte, zum ersten Mal seit Jahren.
»Hat deine Mutter denn gar nicht mit dir darüber gesprochen? Ich kann es nicht glauben. Ich weigere mich, es zu glauben. Dass sie nicht... bei ihrer einzigen Tochter ...«
»Aber was ist das denn?«
»Es hat keinen Namen, es heißt einfach Bauchweh.«
»Aber es ist nicht im Bauch, es ist in ... der Muschi. Und sie muss doch rein sein. Immer.«
»Das weiß ich. Dass es nicht im Bauch sitzt. Daran kann ich mich noch erinnern, obwohl es viele Jahre her ist. Aber so heißt es eben. Schau her. Zieh dich aus, hol dir eine frische Unterhose und leg den Lappen hinein. Die anderen Lappen nimmst du mit in die Schule.«
»Brauch ich sie in der Schule? Kommt denn noch mehr Blut? Ach, Tante Oda ... das tut ja so weh!«
»Ja, es kommt noch mehr. Einige Tage lang. Und danach jeden Monat. Das bedeutet, dass du jetzt selber Kinder bekommen kannst.«
»Aber ich will keine Kinder. Ein Kind? Ein lebendiges Kind? DAS WILL ICH NICHT!«
»Aber, aber. Ich habe gesagt, dass du das kannst. Aber du hast ja keinen Mann. Komm her.«
Ruby fiel ihr um den Hals und schluchzte in den Geruch der runzligen, braun gefleckten Tante-Oda-Haut und des frisch gewaschenen Kreppkleides.
»Ich versteh das nicht, Tante Oda. Ich will nicht ...«
»Hör mir zu!« Sie schob Ruby weg und umfasste ihre Schultern. »Wenn Blut kommt, bedeutet das, dass du kein Kleines bekommst. Wenn du mit einem Mann zusammen bist, und wenn er ... den Strom in dich fließen lässt, dann ist das gefährlich. Dann kann es sein, dass du beim nächsten Mal nicht blutest. Verstehst du?«
»Ja«, sagte Ruby. Und damit hatte sie ihre Tante Oda zum ersten Mal angelogen.
Sie machte ihr Examen rechtzeitig vor dem Skandal. Fräulein Lumby, die Leiterin der Realschule Forum, wurde angezeigt, weil sie sich angeblich an einem Schüler vergangen hatte, einem damals siebzehnjährigen Jungen namens Alfred. Alfred war strohdumm und hatte Fräulein Lumby lange Zeit in ihren Privatgemächern bedient, um sich bessere Noten zu sichern. Irgendwann später im Sommer gestand er die Sache weinend seinem Vater, und Fräulein Lumby landete sofort im Gefängnis. Das wurde erzählt. Es gab einen gewaltigen Skandal, von dem sogar im Hellelidenvej auf Amager zu hören war. Die Mutter verlangte von Ruby die Einzelheiten, aber die konnte keine liefern. Weshalb sie sie erfand, Episoden darüber, wie Alfred von einem errötenden Fräulein Lumby mitten aus der Stunde herausgeholt worden war. Dass Alfred den Jungen gegenüber damit geprotzt hatte. Dass er geschenkte Schokolade verteilt, dass Fräulein Lumby sich auch auf die Schreibtische mehrerer anderer Jungen gelegt hätte. Dass Albert ein ganzes Wochenende in Fräulein Lumbys Zimmer eingeschlossen gewesen war. Die Mutter war glücklich und entsetzt, und sie freundeten sich ein wenig an. Je mehr Einzelheiten Ruby auftischte, desto umgänglicher wurde die Mutter.
»Gott sei Dank hast du rechtzeitig die Prüfung gemacht«, sagte sie und seufzte dramatisch.
Die Schule wurde für immer geschlossen. Für einige Zeit kamen Internate dann ein wenig aus der Mode. Besserungsanstalten für richtig böse Buben hatten dagegen Zulauf. Was Ruby nichts anging. Das war ein abgeschlossenes Kapitel. Sie hatte Alfred kaum je bemerkt, und Fräulein Lumby war klein und grau, mit feuchten Lippen und großem Busen, eine Frau, die nur bei größeren Veranstaltungen und beim Empfang neuer Eltern zu sehen war. Dass der kleine Alfred seinen Strom in dieses alte Gespenst hatte fließen lassen, war ihr ein Rätsel. Was es mit diesem Strom auf sich hatte, war ein noch viel größeres Mysterium. Es gab so viel, was sie nicht wusste. Wann würde das Leben endlich anfangen? Die Erwachsenen begriffen alles und hielten es für selbstverständlich – geschah das über Nacht? Zu welchem Zeitpunkt würde sie in den Spiegel schauen und darin eine Erwachsene erblicken?
Die Anzeige entdeckte sie im Amagerbladet, zwei Monate vor ihrem achtzehnten Geburtstag. Die Kopenhagener Post bot Lehrstellen für Telefonistinnen an. Sie ging zum Vorstellungsgespräch. Dort hieß es, sie könne am Tag nach ihrem 18. Geburtstag anfangen, das sei die unterste Altersgrenze. Außerdem brauche sie die Unterschrift ihres Vaters, da sie erst in einigen Jahren mündig sein werde. Und für die Telefondamen stünden in der Ahlefeldsgade Zimmer bereit.
Telefondame. Das war die Zukunft. Das war die Tür, die geschlossen und von innen versperrt werden konnte. Und wenn sie hinausging und einige Kronen übrig hatte, konnte sie sonntags im Strandpavillon sitzen und eine Tasse Tee ausdehnen und zu den Feinen gehören. Ihr Zeugnis schmuggelte sie aus der Kommode des Vaters und überreichte es im Büro der Kopenhagener Telefongesellschaft AS. An dem Abend, an dem im Café Takstgrensen ihr 18. Geburtstag gefeiert wurde, weil die Mutter zu Hause kein Fest veranstalten mochte, und weil es im Garten natürlich zu kalt war, erzählte sie alles. Die Mutter brach in lautes Jammern aus, der Vater verstummte, und Ib setzte sich sofort auf Rubys Schoß und flüsterte: »Und ich kriege ein eigenes Zimmer. Danke, Schwesterherz.«
»Aber mein kleines Mädchen, willst du wirklich deine Mutter verlassen? Das meinst du doch nicht im Ernst? Ruby, mein Schatz, das geht nicht. Das darfst du nicht. Das wäre lebensgefährlich. Du bist nicht reif genug, um allein zu wohnen.«
»Und wie alt warst du? Als du...«, setzte Onkel Dreas an.
»Das war damals! Ich war viel reifer als Ruby! Ich wusste alles über das Leben. Viel zu viel, leider.«
Die Mutter schluchzte und warf sich fast über den Tisch. Der Vater streichelte ihren Rücken, eine seltene Liebkosung. Ruby schluckte und schluckte. War es denn möglich, dass ihre Mutter doch etwas von ihr wissen wollte?
Aber als sie nach Hause kamen und die Mutter kein Publikum mehr hatte, klang es plötzlich ganz anders.
»Wie konntest du! Vor allen Leuten! Und ich saß da wie eine Idiotin und wusste von nichts! Eine Mutter muss so etwas wissen. Ich werde dir nie verzeihen! Und ich hoffe, das Zimmer ist möbliert, denn von hier bekommst du nichts, wir brauchen alles selber, wo dein Vater sich nie etwas Neues leisten kann.«
»Es ist möbliert. Ich brauche nur Bettzeug.«
Die Unterschrift des Vaters bekam sie am nächsten Tag, zusammen mit fünfzig Kronen, von denen die Mutter nichts erfahren durfte.
Sie feierte die erste Nacht in ihrem eigenen Heim mit einer ganzen Schale voll Trauben und Kerzen. Sie saß an ihrem eigenen Fenster und schaute hinaus auf den 0rstedspark, wo eine Taubenschar mit scharfem Flügelschlag aufflog. Sie sahen aus wie ein getupftes Tuch, das im Wind wehte. Der Strand würde ihr fehlen. Die Möglichkeit, jederzeit hinlaufen zu können. Aber auch im Internat hatte sie ja ohne überlebt. Und die Arbeit war das pure Kinderspiel: mit Hilfe eines Doppelsteckers die Kundschaft mit der Zentrale zu verbinden. Als Telefondame Ruby Thygesen würde sie einen professionellen und gleichgültigen Tonfall für ihr ja bitte einüben.
»Ja bitte, bitte«, flüsterte sie und stopfte sich eine Traube in den Mund.
Das Zimmer war braun und dunkel und eng, und an der Wand hing ein Gemälde, das einen Ausschnitt der Insel Lolland zeigte. Das stand darunter.
»Mein erstes Zimmer war noch kleiner«, sagte der Vater, als er sie mit Decke und Kissen in die Stadt brachte. Die Mutter hatte nur geschnaubt, als sie gefragt hatten, ob sie mitkommen wolle. »Mich wirst du nicht so schnell als Gast erwarten können.«
Ehe er nach Hause fuhr, nahm der Vater sie in den Arm und flüsterte mit tränenerstickter Stimme: »Ich habe immer nur dein Bestes gewollt, Ruby. Immer. Aber ich habe es nicht erreicht. Ich habe deine Mutter einmal geliebt, ich habe sie jeden Abend auf der Bühne gesehen und ihr Blumen geschickt, bis sie mich in ihre Garderobe einlud. Und ich habe dich geliebt, vom ersten Moment an, in dem ich dich gesehen habe. Ich hätte so gern...«
»Ich weiß, Papa. Sei nicht traurig.«
Er hielt sie noch immer an sich gedrückt, ließ nicht los, als habe er Angst, sein Gesicht zu zeigen. Sie dachte an die verräterische Traubentüte in ihrer Tasche und daran, dass sie sich auf das Alleinsein freute, während er so traurig war. Sie schob ihn vorsichtig von sich fort.
»Ich schaff das ganz bestimmt, Papa. Deine Brille beschlägt.«
Sein Rücken war krumm und alt, als sie die Tür hinter ihm schloss. Das Leder seiner Absätze war zu einem helleren Farbton abgenutzt.
»Ich besuche euch doch«, sagte sie.
Er nickte, ohne sich umzudrehen. Sie schloss ab und lächelte. Das Zimmer war zu klein, um Platz für schlechtes Gewissen zu haben, jedenfalls an diesem Abend. Sie öffnete das Fenster, kehrte der Stadt den Rücken, wandte sich ihrem Zimmer zu, dem Paradies.
Ein Waschbecken mit Rissen im Porzellan zeugte vom wilden Leben früherer Telefondamen. Es gab kaltes und heißes Wasser. In der Toilette draußen auf dem Flur lief dauernd das Wasser, und beim Spülen seufzte der Spülkasten zuerst vor Erleichterung, dann hatte Ruby den Eindruck, dass der halbe 0resund über sie hereinbrach.
Die anderen Damen, die hier wohnten, waren so jung wie sie selber. Sie wirkten ordentlich und ein wenig ängstlich und gingen mit kleinen, leisen Schritten über den Gang und drückten ihre Taschen an sich. Sie wollte nicht zu viel Energie in den Versuch stecken, sich mit ihnen bekannt zu machen. Die Vorstellung, dass jederzeit Fremde ihr Zimmer betreten konnten, war wirklich nicht verlockend.
Die Tauben flogen und flogen und kamen nicht zur Ruhe. Wenn sie ihre Sache sehr gut machte, könnte sie darum bitten, in die Fernsprechabteilung versetzt zu werden. Ein wenig Französisch und Englisch konnte sie ja, das verdankte sie dem Internat, und Deutsch sprachen sie alle. Die Zahlen waren das Wichtigste. Die Nummern.
»Un deux trois quatre, one two three four, five, six, fiftysix, just a moment, please, un moment, s’il vous plaît, einen Moment, bitte ...«
Endlich machte sich das viele Büffeln bezahlt, diese viele Lernerei, das Brüten über den Schulbüchern. Ruby widmete den Lehrern, die sie gehasst hatte, einen dankbaren Gedanken. Bedeutete das alles nun, dass sie glücklich war? Sie spuckte sich einen Traubenkern in die Hand und betrachtete ihn. Einen Keim mit der Möglichkeit, zu einer üppigen Rebenranke zu werden. Sie wollte ihn in Blumenerde einpflanzen und auf die Fensterbank stellen.