Zehntes Kapitel

In welchem sich die Nebel verdichten

Regierungsrat Voigt schritt in seinem engen Zimmer hin und her und umkreiste den verloren auf seinem Stuhl sitzenden Lewis wie ein Wolf seine Beute.

„Ich weiß nicht, ob ich Sie loben oder schelten soll!“ Er hielt inne und sah aus dem Fenster, durch dessen Scheiben grell das Morgenlicht ins Zimmer fiel und ihn scharf als Schattenriss zeichnete.

„Zwar haben Sie mir gute Dienste geleistet, wodurch Sie in so kurzer Zeit schon ein paar Namen und Hintergründe haben liefern können.“ Dann drehte er sich um und sah Lewis scharf an. Diesem schien es, als glomm es in Voigts Augen auf, feurige Punkte im dunklen Gesicht, das vom Gegenlicht konturiert wurde.

„Aber dass Sie sich selbst in Gefahr gebracht haben, indem Ihr Name und Ihr Gesicht einer gefährlichen Person bekannt wurden, das ist wohl nicht in meinem, geschweige denn in Ihrem Sinne!“

Lewis verschränkte die Finger, damit Voigt nicht sah, wie sehr ihm die Finger zitterten. „Das war ein bedauerlicher Zufall, den ich ...“

„Natürlich bereuen Sie ihn! Das ist keine Frage.“ Voigt legte die Hand ans Kinn. Seine Finger schienen dürr, und die Nägel wirkten auf Lewis wie Klauen, die im Licht schimmerten. „Vielleicht sollte ich Ihnen sagen, wie sehr Sie künftig auf der Hut sein müssen, um nicht in arge Bedrängnis zu geraten.“

Lewis zuckte schwach die Achseln und versuchte, das Kinn ein wenig zu recken. „Ich werde es schon zustande bringen, mich vor Klingen oder Kugeln zu schützen ... indem ich ihnen aus dem Weg gehe ...“

Voigt verschränkte brüsk die Arme. „Lewis! Erinnern Sie sich, wie ich bei unserem ersten Zusammentreffen erwähnte, dass es sich bei den Schwarzen Brüdern um Menschen handelt, die sich nicht allein mit geistiger Giftmischerei zufriedengeben?“

Lewis zog den Kopf ein. „Ja. Das bedeutet wohl, dass diese nicht allein Komplotte und Aufruhr anzetteln, sondern auch ...“ Lewis sog die Luft ein. Dann begriff er. „Keine Klingen und keine Kugeln?“

„In der Tat!“, brummte Voigt. „Diese Unholde verstehen sich auf die bedenkliche Kunst der unbemerkten Giftmischerei und wissen, wie man die furchtbaren Todeswässer mit Namen Aqua Tophana und Aqua Lauro-Cerasi anmischt, die unmerklich langsam, aber unwiderruflich sicher töten.“ Er nickte, und seine Brauen hoben sich wie Portalbögen über die stechenden Augen. „Ich bezweifle, dass Sie der täglichen Nahrungsaufnahme ebenso leicht aus dem Weg gehen können wie Menschen, die Degen oder Pistolen tragen.“

„Sie haben recht“, sagte Lewis eingeschüchtert. „Zumal sich Pistolen trefflich verbergen lassen.“

„Sie sehen es also ein“, meinte Voigt, und seine Stimme klang etwas milder als sonst, ohne aber den schnarrenden Unterton zu verlieren. Er nahm ein gefülltes Glas vom Schreibtisch, ging zu Lewis hinüber und gab es ihm. „Einen Arrak auf den Schrecken?“

„Gern“, antwortete Lewis und streckte eine zitternde Hand danach aus.

„Falsch! Ganz falsch!“, bellte Voigt und zog das Glas heftig zurück.

Lewis war entsetzt zusammengezuckt.

„Sie dürfen nicht so unvorsichtig sein!“, schalt Voigt. „Nehmen Sie keine Getränke an, die sich bereits im Glas befinden. Selbst wenn man vor Ihren Augen einschenkt, müssen Sie darauf achten, dass auch jemand anderes aus derselben Flasche sein Glas erhält, und auch dann müssen Sie ein Auge auf das Glas selbst haben, ob nicht schon zuvor etwas darin war. Achten Sie auch auf pulverige Rückstände an Rändern oder Boden des Trinkgefäßes.“

Lewis nickte mit bebenden Lippen.

„Hier dürfen Sie natürlich eine Ausnahme machen.“ Voigt lächelte raubtierhaft und gab Lewis endlich das Glas. Der trank und spürte mit Entspannung, wie die wärmende Flüssigkeit in seinen Magen strömte.

Voigt hob ein anderes Glas, drehte es kurz im Licht. „Nach diesem kurzen Vortrag möchte ich Ihnen danken. Gute Arbeit.“ Er trank auch. „Ich denke freilich, Sie sollten Jena eine Zeitlang meiden.“

„Das freut mich zu hören.“ Lewis war erleichtert. Seine Nachrichten hatten ihn tatsächlich seines Auftrages entledigt.

„Von nun an werden Sie verstärkt in Weimar Augen und Ohren offen halten!“

Lewis seufzte, und Voigt lächelte.

„Freuen Sie sich, die Sache wird sehr amüsant. Sie werden oft ins Theater gehen, denn dorthin begeben sich nicht nur die braven Bürger, sondern auch die Aufrührer, die dort – umgeben von der leichten Muse und bei all den freiheitlichen Bühnenworten – eventuelle Mitläufer zu finden glauben. Auf, mein englischer Freund! Zur Jagd in Thalias und Melpomenes Wäldern!“

Voigt lachte, es klang wie eine Raspel, die sich in Eisen fraß, und Lewis wünschte sich halbherzig, in seinem Glas wäre nicht allein Arrak gewesen.

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Der September gestaltete sich für Lewis recht angenehm. Zwar befand sich Herder mittlerweile in Jena – ihm waren die Umstände dort verständlicherweise weniger widrig als Lewis –, aber sie schrieben einander häufig und herzlich. Selbst Hardenberg hatte einen Brief gesandt, in dem er noch einmal den Vorfall bedauerte und zum Ausdruck gab, wie sehr ihm daran läge, demnächst eine weitere Zusammenkunft anzustreben. Ohne Zwischenfälle, wenn möglich.

Zur Zerstreuung – und Erfüllung seiner Pflichten – fand sich Lewis bald zum ersten Male vor dem herrschaftlichen Komödien- und Redoutenhaus ein und verbrachte hernach so manche Vorstellung im zweiten Parterre. Zuvor und danach parlierte er mit all den Damen und Herren, die er bereits kennengelernt hatte: Wieland und Bertuch waren da und Bode und auch von Knebel sowie Corona Schröter, welche ihm allerdings weniger herzlich gegenübertrat als noch in Tiefurt. Es mochte sein, dass sie ihm den näheren Kontakt zu Goethe übelnahm.

Die Herzoginmutter selbst war dann und wann ebenfalls anwesend, zusammen mit Louise Auguste, der vormaligen Prinzessin von Hessen-Darmstadt, die nun die Gemahlin des Herzogs Carl August war. Mit ihnen kamen das Fräulein von Göchhausen und andere Hofdamen, die sich zunächst wie eine Traube um die Herzoginnen scharten, nur um den unbekannten jungen Engländer hernach wie die Bienen zu umschwirren. Lewis überstand diese Angriffe, weder wurden ihm tiefere Stiche zuteil, noch hatte er welche auszuteilen. Das besorgte Böttiger für ihn, wenn auch nicht allzu geräuschvoll. Dieser war auf Drängen seiner Frau auch oft bei den Schauspielen zugegen und nutzte die Gelegenheit, um seine Zunge zu schärfen.

Die Abende verflogen mit Kotzebues Menschenhass und Reue, Ifflands Frauenstand und Hagemanns Ludwig der Springer. Überrascht war Lewis, in Schröders Die Zwillingsbrüder eine Bearbeitung einen Stückes von Regnard zu sehen, das er selbst schon in Paris erlebt hatte. In der deutschen Fassung war es jedoch derart flach und vulgarisiert, dass Lewis später im Scherz verkündete, eine Farce zum selben Sujet verfassen zu wollen, mit dem ganz und gar nicht enthüllenden Titel: Die Zwillinge. Oder: Ist es er selbst oder sein Bruder? Vor allem der massige Bode lachte darüber herzhaft und sparte nicht mit Schulterklopfen.

Immerhin gab sich der Richard Löwenherz in der Bearbeitung von Andree ebenso ritterlich und edel wie das Original, das Grétry und Sedaine geschrieben hatten. Auch hierüber konnte Lewis beredt Auskunft geben, wobei er die Tatsache, in Paris gewesen zu sein, mit Bedacht herunterspielte. Schließlich sollte er nicht in irgendwie geartete Verdachtsmomente geraten, sondern vielmehr darauf achten, ob sich andere derart hervortaten. Aber selbst nach verschiedenen bürgerlichen Familienstücken flammten keine Reden auf, und auch ausgelassene Operetten lockten nichts hervor.

All dies mochte an einem ernüchternden Ereignis liegen: Die Franzosen hatten inzwischen Frankfurt und Mainz besetzt, und dieser Hinweis auf einen schlichten Eroberungskrieg verdross die deutschen Anhänger der Revolution, ob im Bürgertum oder im einfachen Volk.

Voigt gab Lewis bei einem weiteren Treffen gegenüber offen zu, dass man im Geheimen Rat Überlegungen anstellte, was bei einer etwaigen Eroberung Weimars durch die französischen Truppen wohl zu tun sei. Er bot Lewis an, bei weiterem Vorrücken der Franzosen ihn seiner Dienste zu entledigen, und stellte ihm frei, jederzeit abzureisen. Auch müsse sich dieser im Klaren sein, dass es möglicherweise zu einem Krieg zwischen Frankreich und England kommen könne, in welchem Falle ihm eine Abreise sogar dringend anzuraten sei.

Lewis dankte Voigt, versicherte diesem aber seine Loyalität, solange es ihm möglich war.

Ablenkung von den Weltereignissen fand er bei den Treffen, den Bällen, den Soupers und Konzerten, welche die Herzoginmutter bei Hofe gab. Am ersten Abend, den Lewis im Wittumspalais verbringen sollte, bot sich wie schon zuvor Wieland als Begleiter an. Es sollte ein Treffen der sogenannten Tafelrunde sein, zu der Anna Amalia regelmäßig einlud und bei der die neuesten Dichtungen gelesen und besprochen wurden, wie man sich auch im Malen und Zeichnen übte. In der Tasche seines Rockes barg Lewis die englische Übersetzung einiger Strophen des Oberon, die er fertiggestellt hatte und Wieland am heutigen Abend überreichen wollte.

Als sie durch das eiserne Gittertor fuhren, das sich zwischen zwei mit steinernen Vasen verzierten Pfeilern öffnete, grunzte Wieland mit unterdrücktem Lachen. „Nehmen Sie besser den Hut ab, junger Lewis!“

Lewis sah nach draußen. „Ist die Herzoginmutter gekommen, um uns zu begrüßen?“

„Nein“, sagte Wieland, „aber wir sind auf heiligem Boden.“

„Wie das?“, fragte Lewis. „Das Palais ist weltlicher Besitz.“

„Schon, aber es steht auf dem Grund eines Franziskanerklosters. Neben der Einfahrt können Sie noch Überreste des Gemäuers sehen.“

„Oh“, entgegnete Lewis und stieg aus, als die Kutsche endlich hielt. Er wartete auf Wieland.

„Treten Sie nicht allzu fest auf“, warnte der, als sie zur Pforte des Palais gingen.

„Ist etwas mit dem Pflaster?“

„Damit nicht – eher mit dem, was darunterliegt. Dieser Hof ist der ehemalige Kirchhof der Franziskaner. Sie wollen doch nicht den Zorn eines alten Klosterbruders auf sich ziehen, oder?“

Lewis verzog das Gesicht. „Nicht, wenn es sich irgend vermeiden lässt. Lassen Sie uns schnell hineingehen.“

Wieland ging langsam und gemächlich hinter Lewis her, der erst wieder aufatmete, als er in den Schatten des Eingangs trat. Im Palais konnte sich Lewis davon überzeugen, dass dies alles wesentlich prächtiger war als in Tiefurt. Bilder, Leuchter und Statuen leuchteten und blitzten von den Wänden und aus Ecken heraus. Das Tafelrundenzimmer selbst war schlichter ausgestattet, als solle hier nichts von den geistigen Gesprächen ablenken.

Hier hatten sich um den Tisch schon einige Herrschaften versammelt, und sie erhoben sich nun und begrüßten die Neuankömmlinge. Lewis fühlte sich sehr an den Abend in Tiefurt erinnert und ließ sich ohne Aufregung in die Vorstellungen und Gespräche treiben. Er lernte den Kammerherrn der Herzoginmutter kennen, Friedrich Hildebrand von Einsiedel auf Scharfenstein, einen gestreng wirkenden Herrn mit dunklem Uniformrock und Epauletten, der eine Schwäche für das Würfelspiel hatte, stets Würfel in der Westentasche bei sich trug und auch sogleich mit Lewis paschen wollte, bis ihn Bode davon abhielt. Daraufhin stritten die beiden in halb amüsiertem Ton, wer besser musizieren könne, Bode auf der Violine oder Einsiedel auf dem Violoncello. Schließlich kamen sie umhin, dass keiner von ihnen brillieren konnte, wenn es der stümpernde Seckendorff – Gott habe ihn selig – komponiert habe, wie damals, als ...

Lewis wandte sich ab, Böttiger hatte ihn, wie so oft, auf solcherlei Dinge vorbereitet, so dass er nicht ganz befangen dabeistehen musste. Immerhin war er froh, dass Goethe nicht zugegen war, denn mit diesem sollte sich Einsiedel auf so mancher Landpartie ziemlich gerauft haben, ab und an sogar bis zur blutigen Nase.

Umso erfreulicher war die Zusammenkunft mit dem Kaufmann Charles Gore und dessen Töchtern Emily und Eliza, die entzückt waren, einen Landsmann zu treffen. Gore war ein gesetzter Herr, ein wenig älter als Wieland, und seine Töchter waren in den mittleren Jahren. Lewis erinnerte sich der pikanten Einzelheiten, die Böttiger ihm anvertraut hatte, und bemühte sich, das Gespräch möglichst wenig auf den Herzog zu bringen. Was ihm recht gut gelang, denn schließlich kannte er ihn nicht. Dafür bot die gemeinsame englische Heimat ausreichend Gesprächsstoff.

Im Anschluss hielt Lewis die Zeit für gekommen, Wieland seine Gabe zu überreichen. Der fühlte sich ausnehmend geehrt, und nachdem Lewis seine Übertragung in der Runde zu Gehör gebracht hatte, erntete er großes Lob, vor allem von Wieland selbst und den Gores.

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Von diesem Erfolg angespornt, machte sich Lewis daran, Goethes Erlkönig und noch einige andere Gedichte ins Englische zu übersetzen. Nach den eindrucksvollen Abenden im Festsaal des Wittumspalais mit seiner hohen, von Schmuckbändern gesäumten Decke und den Wänden aus rosenfarbenem Marmor, in deren Verlauf das Parkett abwechselnd von den Beinen der Festtafeln und den Beinen der Tanzenden belastet wurde, genoss Lewis die Stille seines Zimmers. Sein Verhältnis zu Eleonore war freundschaftlicher denn je und von keinerlei Unannehmlichkeiten gestört, und Böttiger selbst wusste so manches Neue von sich zu geben und auch einzufordern.

Eines Abends schrieb Lewis erneut einen Brief an seine Mutter:

Nichts und niemand kann höflicher sein als die Leute, die zum Hof gehören. Die beiden Herzoginnen sind äußerst freundlich und entgegenkommend. Wir haben nichts als Bälle, Soupers und Konzerte. Ich langweile mich zu Tode, doch ist es stets ein Trost, daran zu denken, dass ich dies in bester Gesellschaft tue.

Einige Dinge sind allerdings nicht ganz so elegant und wohlgeordnet wie in England: Messer und Gabeln werden sogar an des Herzogs Tafel nicht gewechselt. Die Damen räuspern sich und spucken in den Räumen in einer Weise, die sehr anstößig ist, doch da, wie gesagt, die Herzoginnen sehr freundlich sind und überhaupt jedermann so außergewöhnlich gefällig ist, amüsiere ich mich alles in allem recht wohl.

Da klopfte es, und der Laut des Erschreckens, der aus Lewis’ Munde kam, wurde offenkundig als Aufforderung zum Eintreten verstanden.

Eleonore kam herein. „Guten Abend, Herr Lewis“, sagte sie heiter.

„Guten Abend“, entgegnete er und wollte hastig ein Blatt Papier über den Brief legen, als ihm bewusst wurde, dass die Tinte noch nicht getrocknet war und verschmieren würde.

„Sie verfassen etwas Geheimes?“, mutmaßte Eleonore und lächelte.

„Nein“, widersprach Lewis, der ahnte, dass Eleonore nach neuerlichen Schauermären dürstete. „Ich schreibe nur einen Brief, an meine Mutter ...“ Lewis biss sich auf die Zunge.

Eleonore hob die Hand vor den Mund. „Aber Ihre Frau Mutter ist doch ...“

Lewis seufzte. „Kommen Sie doch ganz herein, Frau Böttiger, und setzen Sie sich. Wir haben schon das eine oder andere Geheimnis geteilt, und Sie waren stets so gut zu mir, da scheint es mir nur gerecht, Sie auch in dieses einzuweihen.“

Eleonore nahm Platz und legte die Hände ineinander.

Lewis atmete tief durch. „Ich gestehe Ihnen, ich verleugne meine Mutter. Nicht, weil ich sie hasse, nein, im Gegenteil, ich liebe sie. Ich hasse meinen Vater, der sie betrog und verließ, und diese Scham lastet so auf mir, dass ich sie gegenüber anderen für tot erkläre, um nicht über die wahren Verhältnisse sprechen zu müssen.“ Er räusperte sich. „Nun ist es heraus. Ich fühle mich zumindest Ihnen gegenüber besser.“ Er lächelte schwach und wusste nicht, ob er sich wirklich erleichtert fühlte.

Eleonore sah ihn mit großen Augen an. „Das ... tut mir leid.“

„Danke. Aber nun lassen Sie uns nicht weiter davon reden, und schweigen Sie auch bitte anderen gegenüber. Ich schätze Ihren Mann sehr, und ich muss sagen, dass meine Abneigung gegen die Ehe – aus Gründen, die ich eben angerissen habe, aber nicht näher vertiefen will – sich durch Ihrer beider Ansehen um ein Winziges abgeschwächt hat, aber dennoch: Sagen Sie ihm bitte nichts, denn ich befürchte ...“

Eleonore sah zu Boden und legte die Hand an den Mund. „Ich weiß, mein Ehemann ist ein Schwatzmaul ...“ Zwischen ihren Fingern hindurch konnte Lewis erkennen, wie sie lächelte – und wie unangenehm ihr dies war.

„Allerdings“, sagte er, um sie von ihrer Qual zu erlösen. „Ein großes!“

Eleonore hob den Blick, sah, wie Lewis auch lächelte, und nahm die Hand vom Mund. „Ein sehr großes!“, lachte sie.

„Ein außerordentliches Schwatzmaul!“, lachte auch Lewis. Dann sagte er immer noch lachend: „Nun gehen Sie doch zu ihm und richten ihm einen schönen Gruß von mir aus!“

Eleonore stand auf. „Das werde ich. Gute Nacht!“ Sie lächelte noch einmal und schloss dann die Tür von außen.

Lewis atmete pfeifend aus. Er war froh, so leicht aus dieser Situation herausgekommen zu sein. Dann blickte er auf den Brief, dessen Tinte nun trocken war. Ohne noch einmal hinzusehen, legte er ihn fort. Vielleicht war jetzt der richtige Zeitpunkt, um an seinem Lustspiel zu schreiben. Er lachte noch einmal, als wollte er sich vergewissern, dass es ihm gelänge, dann tauchte er die Feder ein.

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Ab und an schrieb er einen kurzen Bericht über die Dinge, die er aus den Mündern der Weimarer Gesellschaft vernommen hatte, und ließ ihn Voigt zukommen. Natürlich gab er nicht wieder, dass etwa der alte Herder sich wiederholt und vehement als Parteigänger der Revolution in Frankreich geäußert und die militärische Intervention gegen sie heftig verurteilt hatte, wenn er gar seine Meinung kundtat, dass es nur einen Stand gäbe, nämlich das Volk, und dass der Erbadel eingebildet sei, sich früherer Verdienste auch nach Jahrhunderten noch zu rühmen.

Lewis hatte zunächst angenommen, nur im Kreis um die Herzoginmutter Anna Amalia werde so offen und frei geredet, hatte aber dann in den politischen Disputationen den Eindruck gewonnen, dass man selbst in Anwesenheit des Herzogs Carl August kaum anders gesprochen hätte. Weimar war im Flickenteppich der deutschen Staaten zwar nur ein kleines Land, hatte sich jedoch als Sprecher der Unabhängigen positioniert, um weder Wien noch Berlin das Wort zu reden, und das hatte der kunstsinnige Herzog auch dadurch erreicht, dass er den deutschen Dichtern und Denkern Weimar als Stätte des freien Geistes offenbart und deshalb so viele von ihnen im Umfeld seines Hofes versammelt hatte. Das geistige Zentrum Deutschlands war Weimar geworden, und Lewis fühlte sich in solchen Gesprächsrunden stolz, dass er hier ohne große Gesten aufgenommen worden war.

So konnte er bei seinen Meldungen auch dem zwingenden Argument folgen, dass nichts allzu arg und verfänglich sei, wenn es im Umfeld des Hofes geäußert wurde. Stattdessen konzentrierte er sich auf unbedachte Nebensätze, aus denen sich möglicherweise schließen ließ, dass jemand den Deckmantel der freien Gedanken zu mörderischem Handeln ausnutzte.

An einem feuchten Spätseptembertag verließ Lewis in der Dämmerung das Haus, den Umschlag mit seinem Bericht unter dem Rock verborgen, und strebte auf den Park an der Ilm zu. Zeit und Stunde schienen ihm günstig, denn wer würde um diese Zeit und bei diesem Wetter über die Wege wandeln und ihn bei seinem heimlichen Tun beobachten? Die Bewohner Weimars saßen in ihren Zimmern und Stuben und ließen den Regen Regen sein. Lewis hatte einen Regenschauer abgepasst, und jetzt lief er gemächlich über das glänzende Pflaster, den Kragen des Mantels ein wenig hochgeschlagen, da ab und an ein Windstoß sprühende Tropfen von den Bäumen schüttelte. Im Park troffen die Äste vor Nässe, und leichter Dunst stieg aus der Ilm auf. In der Mitte der Floßbrücke blieb Lewis stehen und sah aufs Wasser hinab, dessen Oberfläche schon hier und da mit vergilbten Blättern gesprenkelt war.

Lewis hatte Tage zuvor in Herders Volksliedern gelesen und dort vor allem über dem Wassermann verweilt. Wenn auch aus dem Dänischen übertragen, so schien ihm diese Mär sehr gut hierher zu passen, vor allem, weil ihm Eleonore erzählt hatte, an manchen Stellen der Ilm hausten Nixen – Wasserfrauen also. Hier im Park zeige sich dann und wann eine wunderschöne Jungfrau im weißen Kleid und mit langen, gelben Haaren. Ihr Schloss indes liege an einer der tieferen Stellen der Ilm, und zwar in der Nähe der roten Brücke bei Tiefurt. Mitunter käme das Wasservolk zur lustigen Gesellschaft und zum Tanz herauf auf die Auen der Ilm, doch währe das Vergnügen – das man als Mensch nur selten zu Gesicht bekäme – stets nur bis Mitternacht, denn dann müssten die Nixen wieder in ihrem feuchten Element sein.

Lewis fragte sich, ob die Wasserfrauen nach der fraglichen Zeit von ärgeren Geschöpfen im Tanz abgelöst würden oder ob sie gar durch diese vertrieben wurden. Er spähte ins Wasser, das mit dem schwindenden Licht immer dunkler und undurchsichtiger wurde. Schatten schienen über den Grund zu tanzen, doch sicher waren es nur die der Blätter, die die Strömung davontrug.

Lewis stieß sich vom hölzernen Geländer ab und machte sich auf den Weg zu dem hohlen Baum, in dem er seinen Bericht zu deponieren hatte. Dann und wann schaute er sich um, ob ihn auch niemand beobachtete. Wieder hatte Regen eingesetzt, und Lewis fröstelte ein wenig. Die Bäume ließen die schweren Tropfen über sich ergehen, während Lewis von einem Stamm zum anderen huschte, um durch das Blätterdach ein wenig Schutz zu erlangen. In den Büschen und Stauden ringsum raschelte es, als Wasser von Blatt zu Blatt perlte; von der Ilm hörte Lewis leises, stetiges Klatschen.

Endlich hatte er den Baum erreicht. Mittlerweile klebten einige gelbliche Blätter an seinen Schuhen, die Strümpfe waren feucht, und er bedauerte nun doch, diese Stunde und diesen Tag gewählt zu haben. Er griff in seinen Rock, angelte den Brief heraus und schob ihn in die Öffnung, die in der zerfurchten Rinde des Stammes kaum zu erkennen war. Dann ging er rasch auf den Pfad zurück.

Die Regenwolken hatten das ohnehin schwache Licht noch verdüstert, und der Schleier des herniederprasselnden Wassers tat ein Übriges, Lewis die Sicht zu erschweren. Mit um den Körper geschlungenen Armen lief er zurück über die Brücke, drehte sich trotz des Regens noch einmal um, als wolle er sich versichern, dass er mit seinen auf den Holzbohlen polternden Schritten keine Nixe im Schlummer gestört hatte – und erschrak.

Im Dunkel der Bäume jenseits der Brücke stand eine Gestalt, schemenhaft und kaum von den Stämmen zu unterscheiden. Lewis war wie erstarrt. Jetzt löste sich der Schatten ein wenig aus dem Hintergrund, und Lewis konnte deutlich den nass schimmernden Hut und den umgehängten Mantel erkennen. Als die Gestalt mit einem Mal langsam den Arm hob, rannte Lewis in die feuchte Dämmerung, lief und lief, bis er den Park verlassen und sicher zu Hause angelangt war.

Doch als er wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, musste er sich eingestehen, dass er nicht wusste, ob es sich bei der Geste der Gestalt um eine Drohung oder um einen Gruß gehandelt hatte. Sicher war er sich nur, dass er auf keinen Fall einer Ilmnixe begegnet war. Ob ihm dies freilich lieber gewesen wäre, wollte er sich nicht beantworten.

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Irgendwann Anfang Oktober begann Lewis, Goethe zu vermissen, ohne es sich selbst eingestehen zu wollen. So wie ihm einige Personen bei Hofe mitgeteilt hatten, es fehle den Zusammenkünften an Glanz, jetzt, wo der Herzog außer Landes sei, so schien es Lewis, als habe Weimar mit dem Geheimrat einen Lebensfunken eingebüßt. Sicher waren all die Theaterbesuche und höfischen Zusammenkünfte sehr amüsant, aber doch, so schien es ihm, kein Vergleich zu den Dingen, die er mit Goethe erlebt hatte. Lewis schalt sich im selben Augenblick solcher Gedanken, denn schließlich hatte im Bergwerk sein Leben auf dem Spiel gestanden, aber nichtsdestoweniger ...

Dies schien ihm die rechte Stimmung, sich an die Übertragung von Goethes Erlkönig zu machen. Er las das Gedicht einige Male, um Stimmung und Klang zu erfassen, und dann setzte er sich nieder und warf die ersten Verse aufs Papier.

Draußen schlug in einiger Entfernung ein Fensterladen im aufkommenden Wind. Lewis stand auf, trat ans Fenster und blickte hinaus. Es war noch heller Nachmittag draußen, ein wenig trübe, aber angenehm, wie es ihm schien. Einige Blätter von den Bäumen des Kirchhofs wehten in die Jakobstraße. Lewis blickte zurück auf die Blätter, die seinen Sekretär übersäten. Er lächelte, als ein Gedanke in ihm hochstieg: Was, wenn er den Erlkönig Goethe zu Ehren nicht allein von Papier zu Papier übertrug, in der dumpfen Kammer sitzend, trocken und warm? Was, wenn er hinausging, um die wahre Essenz des Werkes zu erfahren und damit eine tiefempfundene Nachdichtung in englischer Sprache zu verfassen?

Lewis sprang vom Fenster weg, ergriff Mantel und Hut und war im nächsten Moment durch die Tür. Mit leuchtenden Augen steckte er den Kopf ins Zimmer Karl Böttigers und unterrichtete ihn in knappen Worten von seinem Vorhaben. Böttiger war erstaunt und wusste kaum etwas zu entgegnen, als Lewis auch schon grüßte und verschwand. Auf der Straße atmete er tief die kühle Luft ein und ging raschen Schrittes quer durch die Stadt zu dem Mietstall, in dem – auf Anweisung Voigts – ein Pferd für ihn bereitstand, welches er in Anspruch nehmen konnte, wann immer er es für nötig hielt. Ein bärtiger Knecht sattelte ihm den Falben und brummte etwas von aufziehendem Nebel.

„Genau den suche ich!“, rief Lewis und schwang sich in den Sattel. Das Tier ließ sich ruhig führen, und Lewis trabte langsam nach Süden zur Stadt hinaus. Sowohl Weg als auch Pferd waren ihm vertraut: Ein paar Wochen zuvor war er mit einer Jagdgesellschaft der Herzoginmutter geritten, und der erste Abschnitt des Tages war der Ausflug nach Berka gewesen, dem kleinen Städtchen an der Ilm, wo sich das herzogliche Jagdzeughaus befand. In dem weiten Bau standen die Fuhrwerke, Kutschen und Schlitten, die für eine stattliche Pirsch vonnöten waren, sowie all die Gerätschaften und Waffen, mit denen man das Wild zur Strecke bringen konnte, und davon gab es reichlich in dem großen Waldgebiet auf der Harth, rings um die drei Hügel, die Berka umstanden.

Dorthin zog es Lewis nun, da ihm die Landschaft zugesagt hatte und der Weg in einem weniger gemächlichen Tempo als dem einer Jagdgesellschaft auch rasch zu bewältigen war. Auf freiem Feld angelangt, gab Lewis dem Falben die Sporen und ritt schnell dahin, immer in Sichtweite des Ilmlaufes.

Bald kam der Nebel auf und zog in immer dichteren Streifen heran, die alten Weiden am Fluss wurden grauer und grauer, und das Rascheln der dürren Blätter verstummte. Tageslicht sickerte durch den Dunst und erhellte die scheinbar zusammengeschrumpfte Landschaft genug, dass Lewis bequem seinen Weg finden konnte. Er fühlte sich herrlich, sog die feuchte Luft in seine Lunge und trieb das Pferd an, damit ihm der Wind ins Gesicht blies. Der Nebel schluckte die Hufgeräusche zum Teil, zum anderen schien er sie zu verzerren, so als folge im Abstand ein weiterer Reiter. Lewis warf einen Blick über die Schulter zurück, erkannte aber nur Nebelfetzen, die weißgrau heranwaberten.

Vor ihm tauchte die dunkle Wand des Waldes auf, und Lewis lenkte den Falben ins Gehölz. Der Pfad war gerade noch zu erkennen unter den Schleiern, die über ihn krochen und sich schreckhaft vor den Hufen des Tieres zurückzogen. Zu beiden Seiten standen die Stämme dicht an dicht, krallten sich mit den Wurzeln in die feuchte Erde und mit den Ästen in den nassen Himmel. Manche Zweige ragten über den Pfad, zu knorrigen Klauen geformt, und Lewis duckte sich lachend unter ihnen hinweg. Schäume wirbelten im Dunst, als Lewis und sein Pferd die weißen, spinnwebdünnen Vorhänge aus Nebel zerrissen, die sich zwischen den Bäumen über den Weg spannten. Die Schemen formten sich zu Gestalten, die Veitstänze vollführten, ohne auch nur den Boden zu berühren. Sie drohten und griffen nach Lewis, der behände auswich und keck zurückwinkte.

„Es ist nur ein Nebelstreif!“, lachte er, worauf er rasch nach seinem Hut greifen musste, den ihm ein neidischer Ast beinahe vom Kopf gerissen hatte.

Am Wegesrand krochen Wald- und Erdgeister aus ihren Höhlen und starrten Lewis mit glühenden Augen an. Unter Wurzeln hervor und an Baumstämmen vorbei riefen und zischten sie dem dahin Reitenden hinterher, doch zu verweilen, aber Lewis winkte nur und antwortete mit Gelächter.

Bald stieg der Pfad an, und Lewis erkannte, dass er sich am Fuße eines der Hügel um Berka befand. Der Wald lichtete sich und mit zunehmender Höhe auch der Nebel. Lewis klopfte dem Falben aufmunternd gegen den Hals und lenkte ihn die Steigung hinauf. Wie angenehm sich doch Bergaufstiege zu Pferde gestalteten!

Dann hatte Lewis die Kuppe erreicht. Ein lichtes Wäldchen stand hier, und die Aussicht ins Tal offenbarte die kochende, dampfende, wogende Tiefe, aus der sich nur die höchsten Baumspitzen und einige Hügel erhoben. Von Berka stach nur der Kirchturm hervor. Gegenüber erkannte Lewis den vom Wind zerzausten Nadelwaldschopf des Hexenberges, auf dem sich eine alte Richtstätte befand. Demzufolge musste er sich auf dem Schlossberg befinden, und als er sich umdrehte, sah er auch die Überreste der mittelalterlichen Grafenburg. Die Fundamente und Mauern ragten aus dem gelblichen Gras, zwischen den grauen Steinen wuchsen Flechten. Einschnitte und Löcher klafften in den Reihen der Quader, und von einigen Befestigungen waren allein die Fundamente geblieben. Lewis wusste, dass man den Löwenanteil der gebrochenen Steine drunten in Berka verbaut hatte, vor allem im Jagdzeughaus.

Er saß ab und ließ das Tier grasen. Jetzt wollte er ein wenig die Trümmer erkunden, um noch mehr Eindrücke in sich aufzunehmen. Was konnte ihn das alte Gemäuer schrecken, wo er schon den Naturgeistern widerstanden und ihnen kühn ins Fratzenantlitz gelacht hatte?

Auch der Rückweg bereitete ihm keine Sorgen – selbst wenn ihn seine Sinne täuschen würden in Nacht und Nebel, so würde der treue Falbe ohne Fehl den Weg zurück in seinen Weimarer Stall finden.

Lewis rückte sich den Hut zurecht und ging auf die Mauern zu, die sich verwittert hinter Himbeersträuchern duckten. Er stieg über die Trümmer, die den Grund übersäten und kletterte auf eine schiefe Mauerkrone, um sich einen Überblick zu verschaffen. Im Geiste malte er sich aus, wie die Burg vor Jahrhunderten ausgesehen hatte. Ein glanzvoller Sitz, so schien es ihm. Am entfernten Ende des Ruinenfeldes erblickte er eine interessante Ansammlung von Mauerresten und Fundamenten, und so stieg er von seinem Aussichtspunkt und ging, erneut Quadern und Brocken ausweichend, über das, was wohl einst ein Hof gewesen war.

Er strich durch ein Gestrüpp, bog die Zweige zur Seite und versuchte, sein Ziel nicht aus den Augen zu verlieren, als er mit einem Mal den Boden unter den Füßen verlor und mit einem Aufschrei in die Tiefe stürzte.

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Als Lewis erwachte, schrak er hoch und stieß sich den Kopf an hartem Gestein. Seiner trockenen Kehle entrang sich gerade einmal ein heiseres Krächzen. Er befühlte seinen Kopf, streifte dabei schmerzhaft den Stein, der ihn umgab und blickte auf. Über ihm, in vielleicht anderthalb Mannslängen Höhe, zeigte sich ein annähernd kreisrundes, von Grasfäden gesäumtes Stück Himmel von blass-bleierner Farbe, in das einige kahle Zweige wie schwarze Blitze hineinragten. Im Licht, das zu ihm hinabfiel, konnte Lewis erkennen, dass er in einem alten Brunnen lag. Zu Lewis’ Glück war dessen Umrandung eingestürzt und der Schacht von der ursprünglichen bis auf die jetzige Tiefe mit Schutt und Trümmern gefüllt. Wer wusste, ob er einen tieferen Sturz heil überstanden hätte? Allerdings hatten die Steinbrocken das ihre getan und Lewis Rücken und Seite arg geschunden.

Vorsichtig bewegte er sich. Gebrochen hatte er sich offenbar nichts, wohl aber tüchtige Prellungen davongetragen. Glücklicherweise hatten auch Zweige und Gras, das am Brunnenboden wuchs, seinen Aufprall gedämpft.

Er stöhnte leise. Wieder unter der Erde!

Lewis richtete all seine Aufmerksamkeit auf das Stück Himmel, das so beruhigend nahe schien, und atmete tief. Er fixierte das helle Rund und maß mit den Augen die kurze, ach so kurze Entfernung, die ihn von der Erdoberfläche trennte.

„Kein Grund zur Aufregung“, sprach er im Geist zu sich. „Das ist zu bewältigen.“ Er würde den Rand des Brunnenschachtes ergreifen können, wenn er nur aufstand und sich etwas streckte, und die eingebrochenen Wände boten Griffe und Tritte, gaben überall Halt, so dass die kurze Kletterei gar keine Anstrengung werden würde. Lewis hob erst den Kopf, dann den Oberkörper und setzte sich schließlich auf. Sein Körper schmerzte durch die Bewegung, aber es war kein Schmerz, der ihn alarmiert hätte. Vorsichtig zog er die Beine unter den Körper und ging auf die Knie, um sich dann an den Wänden abstützend langsam hochzuziehen.

Da hörte er von oben ein Rascheln. „Sein Pferd“, dachte er sich. Vielleicht streifte es ganz in der Nähe umher, und wenn er rief, könnte er es dadurch vielleicht herbeilocken und die herabhängenden Zügel ergreifen ... dann aber fiel ihm ein, dass er das Tier nicht unnötiger Gefahr aussetzen sollte. Es war besser, wenn es dem Brunnenschacht fernbliebe, wenn es auch sicher nicht töricht genug wäre, blind hineinzustapfen, wie er es getan hatte.

Da raschelte es erneut, lauter und heftiger, und mit einem Mal hörte er Stimmen, die durcheinander sprachen. Lewis wollte seinem ersten Impuls folgen und rufen, doch dann besann er sich: Wer mochte zu dieser Stunde und bei dieser Witterung die Ruinen auf dem Schlossberg aufsuchen? Gewiss niemand, der die Aussicht bestaunen wollte, denn bei diesem Nebel gab es nichts im Tal zu sehen. Auch musste es bald dunkel werden, dem Farbton des Himmels nach zu urteilen.

Lewis schüttelte den Kopf. Er war selbst erstaunt, wie vorsichtig er durch all die Ereignisse der vergangenen Wochen geworden war und wie schnell ihm Verdächtigungen in den Sinn kamen. Das da oben mochten Bauern sein, Jäger oder Reisende, die vor dem Nebel auf die Anhöhe geflohen waren, um sich zu orientieren.

Lewis reckte sich und wollte mit Händen und Füßen Halt suchen, um sich so weit hochzuziehen, dass er aus dem Brunnenschacht hinausblicken konnte, als er die Stimmen deutlicher vernahm. Mehrere Männer waren es, und er konnte einen tiefen Bass von einem heiseren Flüstern, einen weichen Singsang von einem scharfen Tonfall unterscheiden. Aber er erschrak zutiefst, als er eine schneidende, vor Hass triefende Stimme hörte, die er schon einmal vernommen hatte und die er nie würde vergessen können. Irgendwo über ihm, zwischen den Ruinen der alten Burg, stand der Magister Gottwerth Heinrich Löber mit seinen Schwarzen Brüdern und beriet sich im Geheimen, plante neues, schändliches Tun, und er, Lewis, saß in dem eingefallenen Brunnenschacht wie der Fuchs in der Falle. Wenn sie ihn entdeckten, war es um ihn geschehen!

Lewis nahm die Hände sachte von den gemauerten Wänden und ließ sich langsam und lautlos zu Boden sinken. Sollte einer der Männer einen beiläufigen Blick in den Schacht werfen, so presste Lewis sich immerhin in die Schatten der Tiefe, um nicht sogleich erspäht zu werden. Aber wie er da so kauerte, die steilen, kalten Wände um ihn herum, ohne die Möglichkeit, sie zu verlassen, in dem schwindenden Licht des immer dunkler werdenden Himmelsrunds über ihm, da kroch erneut die alte Angst vor dem Lebendigbegrabensein in ihm hoch. Langsam und schwach erst, so dass er sie niederringen und zurückhalten konnte, doch dann wuchs und wuchs sie und war bald so stark, dass Lewis der eisige Schweiß auf die Stirn trat.

Er versuchte, sich nicht überwältigen zu lassen, starrte auf den sich verdüsternden Himmelskreis über ihm und lauschte dann den Gesprächen der Männer dort oben. Er wollte eher ihrem Ränkeschmieden lauschen, das ihm sicher das Blut in den Adern stocken lassen würde, als hier unten dem Wahnsinn zu verfallen. Wenn die Männer bald verschwänden, wenn sie gingen, ohne ihn bemerkt zu haben, dann kannte er ihre Pläne, konnte sie Voigt mitteilen und möglicherweise die schlimmen Taten vereiteln, die über Weimar hereinbrechen würden und vielleicht Menschen träfen, die er schätzte und achtete.

Dafür lohnte es sich, gegen die Angst und die Gefahr aufzubegehren!

Erneut schob und zog Lewis sich auf die Füße, reckte und streckte sich und lauschte, das Gesicht nach oben gewandt.

Gerade hatte der Mann mit der tiefen Stimme einen Satz beendet, als Löber dazwischenfuhr. Lewis hörte, dass er ausspie und dann mit einer Stimme wie Eis sprach, die Lewis in den Ohren klirrte: „Auch wenn die Arbeiten wie geplant fortgeschritten sind, Tristram, so bin ich doch der Ansicht, ein schneller Schlag kann zum Erfolg führen. Warum warten, wenn Abaris und Aeschylus schon jetzt in unsere Hände gelangen können? Je früher, desto besser!“

Der Bass erdröhnte, nachdem er kurz gehustet hatte, spöttisch: „Du Heißsporn! Wann wirst du Bedachtsamkeit lernen? All die Jahre an der Universität, und noch immer keinen Sinn für das rechte Maß und die rechte Zeit. Wir gehen vor wie geplant. Wir haben zu viel an Mühen aufgewendet, um alles durch Unbedachtheit zu zerstören.“ Er hustete wieder.

Dann erklang wieder das heisere Flüstern, und Lewis musste sich anstrengen, um überhaupt etwas zu erlauschen.

Allerdings musste er gestehen, dass er die Reden der Vorigen zwar verstanden, keineswegs aber begriffen hatte. Was waren das für seltsame Namen, mit denen die Männer sich anredeten? Abaris? Was für ein Mensch sollte das sein, aus welchem Lande sollte er stammen? Aeschylus war ein griechischer Name, Tristram ein englischer ... da hatte Lewis plötzlich den Eindruck, die Bassstimme, dieses schallende Lachen kämen ihm bekannt vor ...

Der heisere Flüsterer klang gequält: „Ich muss Cetaos zustimmen. Die Zeit ist gegen uns. Voigt hat so manchen in Verdacht, unter anderem dich, Tristram.“

„Wohl, wohl!“, murmelte der, „aber auch Decanus und viele andere in Heropolis. In Butus steht Decius unter Verdacht, und die Schuld dafür ist eindeutig bei dir zu suchen, Cetaos! Was musstest du dich auch öffentlich mit ihm zeigen!“ Er hustete abermals. „Aber sei’s drum. Ich bin erkältet, deshalb sollten wir hier nicht länger im Freien herumstehen. Gehen wir hinunter.“

Lewis zuckte zusammen. Plötzlich raschelten Schritte dicht an der Öffnung des Brunnens vorbei. Er hielt den Atem an und duckte sich.

Eine Stimme, die er zuvor noch nicht gehört hatte, meldete sich zu Wort. Sie war wohlklingend, doch von schwerem Akzent geprägt. „Ich bin auch dafür, den Herzog so bald wie möglich zu töten.“

Lewis schlug die Hand vor den Mund, um den Laut seines scharfen Einatmens zu ersticken. Darum ging es also!

Löber zischte: „Richtig! Je früher es geschieht, desto länger kann das Ereignis seine Wirkung entfalten! Das Volk erhebt sich, durch uns angestachelt, und der Adel fällt!“

Der Mann mit dem Akzent sprach weiter: „Ich denke, dass diese Erschütterung auch den Geist schwächen wird, von dem, den ich ...“

„Genug jetzt!“ Der Bass hustete erneut. „Wir beraten und entscheiden, wenn die anderen eingetroffen sind. Wir werden das Für und Wider eines früheren Schlages abwägen. Bis Mitternacht ist alles getan. Aber jetzt hinab, zu Wein und Wärme.“ Er hustete noch ein paar Male, dann raschelten seine schweren Schritte davon, gefolgt von anderen, deren Geräusche das Brummen der Stimmen übertönten. Dann war es still.

Lewis wischte sich den Schweiß von der Stirn. Eine Verschwörung, ein Aufstand, eine Revolte, und das alles mit der Ermordung des Herzogs zu Anbeginn!

Er atmete heftig. Jetzt waren alle Angst und Beklemmung verflogen. Er musste so schnell als möglich aus diesem Loch heraus und nach Weimar! Dort musste er Voigt verständigen und warnen, musste ihm nahelegen, die Verschwörer zu stellen. Er konnte es schaffen – bis Mitternacht wollten die Verschwörer sich noch in der Nähe aufhalten, und es war gerade erst dunkel geworden. Wo immer dieser Ort war, vielleicht in Berka, denn dieser Tristram hatte davon gesprochen, hinunterzugehen – man konnte die Männer fassen.

Denn Lewis hatte eine Ahnung, nein, es war Gewissheit, wer Tristram, der Mann mit der Bassstimme und dem dröhnenden Lachen, war. Johann Bode! Zwar war die Stimme durch die offenkundige Erkältung verändert, doch immer noch ähnlich genug dem, dessen Lewis sich von den Zusammentreffen her erinnerte, und dann der verräterische Deck- oder Ordensname – denn darum musste es sich handeln! Die Liebe zu Lawrence Sternes humoristischem Helden Tristram Shandy – oder Schandi, wie Bode ihn eingedeutscht hatte – hatte diesen unvorsichtig werden lassen und Lewis einen Hinweis auf seine Identität gegeben. Sowie die Erwähnung, dass er von Voigt verdächtigt werde – mehr Beweis brauchte es nicht, Bode gehörte wie Löber zu den Verschwörern, zu den Schwarzen Brüdern, und diese führten Schreckliches im Schilde.

„Nichts wie raus aus diesem Loch“, spornte Lewis sich an und suchte mit Händen und Füßen nach Lücken im Mauerwerk, um emporzuklettern. Wo nur sein Pferd sein mochte? Geflohen bei der Ankunft der Schwarzen Brüder? Entdeckt konnten sie es nicht haben, denn dann wären sie sicher alarmiert und auf der Hut gewesen und hätten nicht über ihre Pläne gesprochen, sondern den Reiter gesucht. Lewis nickte. Sicher graste sein Falbe an der abgewandten Seite der Ruine und wartete brav und treu auf ihn.

Nun aber hinaus! Lewis griff zu, in Spalten, Erdreich und lockeren Mörtel, rammte die Stiefelspitzen in Fugen und Löcher und zog sich empor. Erdklumpen und Steinchen rieselten.

Fast hatte er den Rand des Brunnenschachts erreicht, als sich ein Schatten über ihn schob. Arme griffen nach ihm und rissen ihn hinauf, auf den grasbewachsenen Boden. Noch ehe er einen Laut der Überraschung oder des Schreckens von sich geben konnte, presste sich eine kräftige Hand über seinen Mund, und eine Stimme flüsterte: „Still! Es kann jeden Augenblick jemand auftauchen. Ihnen geschieht nichts.“

Dann packte jemand ihn an den Schultern und stellte ihn auf die Füße. Im Dämmerlicht sah er sich einem dunkel gekleideten Mann gegenüber, der den Hut tief ins Gesicht gezogen hatte. „Rasch!“, sagte dieser. „Wir müssen fort! Da entlang!“

Lewis wurde mit sanfter Gewalt in eine Richtung geschoben, die von dem Brunnenschacht und auch von den Ruinen wegführte. Hinter einer Mauer sah er das Licht einer Fackel aufleuchten. Auch davon entfernten sie sich rasch und so geräuschlos, wie es möglich war. Der Fremde leitete ihn umsichtig durch das mit Trümmern übersäte Gelände.

Lewis sah, dass sich der Nebel verzogen hatte, der Himmel war nahezu klar, nur einige Wolkenfetzen zogen vor dem Mond dahin. Aus dem Hintergrund erklangen Stimmen, die wohl zu den von Bode erwähnten Neuankömmlingen gehörten. Sie wurden wieder leiser, als sowohl diese Männer in den Ruinen verschwanden als auch Lewis und sein Retter sich entfernten. Es ging ein Stück den baumbestandenen Hang hinab, und dort standen zwei Pferde im Gebüsch, von denen eines Lewis’ Falbe war.

Der Fremde schob Lewis zu seinem Tier und bedeutete ihm aufzusitzen. Dann stieg er selbst auf und lenkte sein dunkles Pferd hangabwärts. In Lewis wuchs der Drang, seinem Pferd die Sporen zu geben und zu fliehen, denn er wusste nicht, wer sich hinter seinem Retter verbarg – vielleicht war es nur eine List der Schwarzen Brüder.

Der Fremde bemerkte Lewis’ Zögern und drehte sich im Sattel um. „Kommen Sie schon“, drängte er halblaut, als fürchtete er, in der Nähe könnten noch weitere Männer herangekommen sein. „Wir haben etwas zu erledigen, Herr Lewis!“

Lewis zuckte bei der Nennung seines Namens zusammen.

Da hob der Fremde seinen Hut vom Kopf, und im gleichen Moment riss der Wolkenschleier vor dem Mond, und dessen helles, silbernes Licht erleuchtete das Antlitz des Mannes.

„Krafft!“, stieß Lewis hervor.

„Höchstselbst“, bestätigte sein Gegenüber knapp. „Aber nun los, wir haben ein Stück Weges vor uns und wenig Zeit!“ Er trieb sein Pferd an, und Lewis setzte auf dem seinen hinterher.

Während sie durch die Nacht in Richtung Weimar hetzten, brachen aus Lewis die Fragen heraus, die an ihm nagten. „Wie war es möglich, dass Sie zur Stelle waren, um mir zu helfen?“, rief er zu Krafft hinüber. „Ich ...“

„Ich bin Ihnen seit Weimar gefolgt.“

„Durch den Nebel? Ich glaubte einmal, etwas gehört zu haben ...“

Krafft nickte missmutig. „Die schlechte Sicht zwang mich, näher an Ihnen zu bleiben, als ich es sonst bei einer Verfolgung tue.“

„Aber ...“ Lewis sah konsterniert zu Krafft hinüber, so dass dieser ihn darauf aufmerksam machen musste, wieder auf den Weg zu achten. „Heißt das, Sie haben mich schon häufiger verfolgt?“

„Sicher“, nickte Krafft. „Ich habe Sie seit Martinroda kaum mehr aus den Augen gelassen. Goethe hielt dies für besser, und wie Sie sehen, hat er recht behalten.“

„Sie waren die Gestalt im Park? An jenem Regentag?“

„Auch. Wenn Sie nicht geflohen wären, hätte ich Sie begrüßt und eine plausible Erklärung für mein zufälliges Zugegensein bieten können.“

„Warum dachte Goethe denn, dass es besser sei, mich zu überwachen?“ Lewis fühlte sich unangenehm gegängelt. Nicht allein, dass er Voigt zu Diensten sein musste, nun erfuhr er auch noch, dass er keinen selbständigen Schritt unternehmen konnte, ohne beobachtet zu werden. Immerhin war er ein wenig beruhigt, dass er es sich nicht eingebildet hatte, verfolgt zu werden, und es war ihm sehr recht, zu erfahren, dass es sich um Krafft gehandelt hatte und um keinen Schwarzen Bruder.

Krafft entgegnete ausweichend: „Lassen Sie mich Ihnen nur sagen, der Herr Geheimrat hat so seine Ahnungen – und seine Informationen.“

„Falls Sie glauben, mich vor der Wahrheit schützen zu müssen, unterschätzen sie meinen Charakter und meine Aufmerksamkeit. Ich kann mir genug zusammenreimen, beginnend mit den schwarzen Reitern vor Tiefurt bis hin zu dem Anschlag im Stollen. Alles fügt sich zusammen!“

„Tut es das?“ Krafft klang beinahe amüsiert, aber Lewis ignorierte es.

„Ich habe, als ich in dem Brunnen verborgen war, genug mit angehört: Die Schwarzen Brüder planen den Umsturz und ein Komplott, den Herzog zu ermorden, und ich denke, dass der Mann im Bergwerk den Geheimrat töten wollte – als enger Vertrauter des Herzogs ist auch er den Brüdern im Wege.“

Krafft nickte. „Diese Deduktion liegt nahe. Wenn ich auch annehme, das Geschehnis in Martinroda bezog sich nicht allein auf Herrn Goethe.“

„Aber die Schwarzen Brüder sind sich uneinig! Vielleicht wollten einige den Plan früher in die Tat umsetzen?“

„Sie haben die Gespräche doch gehört, ebenso wie ich! Diese Menschen tun nichts Unüberlegtes, niemand würde vorpreschen und das Ränkespiel aus dem Gleichgewicht bringen.“

„Sie haben wahrscheinlich recht. Der Mann im Bergwerk schien, wie auch sein Gefährte, eher verzweifelt. Er war kein gedungener Mörder.“

„Aber einen solchen werden sie auf den Herzog ansetzen! Hoffen wir, dass wir Weimar zeitig erreichen, um Hilfe zu holen. Voigt wird Soldaten entsenden, um die Schwarzen Brüder festzusetzen.“

„Glauben Sie, man kann sie fassen? Auch wenn es hieß, sie seien bis Mitternacht in Berka, wie soll man sie finden? Sie versammeln sich doch an einem bestimmten Ort, und wenn die Soldaten Berka durchkämmen, könnten die Verschwörer aufmerksam werden und fliehen!“

Krafft lachte. „Das wird nicht geschehen! Die Schwarzen Brüder sitzen in der Falle, wenn die Soldaten beizeiten eintreffen. Die Burschen hocken wie die Hasen im Bau, oben auf dem Schlossberg!“

Lewis schüttelte den Kopf. „Sie sind in der Ruine?“

„Nein“, erwiderte Krafft, „sie sind unter der Ruine! Ich habe alles beobachtet. Als ich Ihnen auf den Berg gefolgt war, blieb ich im Hintergrund, damit Sie mich nicht entdeckten.“ Er räusperte sich. „Im Übrigen war es töricht von Ihnen, Weimar zu verlassen und allein durch den Nebel zu reiten. Eine Unachtsamkeit, und es wäre um Sie geschehen gewesen, auch ohne Zutun der Schwarzen Brüder.“

Lewis wollte sich zunächst gegen die Schelte auflehnen, fragte aber dann: „Warum sollten mich die Schwarzen Brüder überhaupt ... nur weil einer von ihnen ...“

„Die Sache mit Löber ist nur eine Facette, eine persönliche Sache, die auf Sie ausgeweitet wurde, weil Sie Hardenberg kennen.“

„Sie wissen darum?“

„Natürlich! Ich war auch in Jena. Ganz in der Nähe, als Sie und die beiden anderen jungen Herren sich im Garten versteckten.“

„Sie waren dort und haben nicht eingegriffen? Einen schönen Schutzengel hat mir Goethe auf den Hals gehetzt, wenn Sie mir die Bemerkung erlauben!“

„Nun, nun!“, tat Krafft empört. „Ich hätte mich schon meiner Aufgabe gewidmet, wenn es zum Äußersten gekommen wäre!“ Er winkte ab. „Es scheint sich aber so zu verhalten, dass die Schwarzen Brüder ein Interesse an Ihnen hegen!“

Lewis stockte der Atem. Also doch? „Aber warum ...“

„Hoffen wir, dass wir es nicht dadurch herausfinden, indem Sie es am eigenen Leibe erfahren. Dies zu verhindern, bin ich da, und dieses Mal ist es noch gutgegangen. Also lassen Sie mich weiter berichten: Ich sah, wie Sie bei Ihrem Erkundungsgang durch die Ruine plötzlich verschwanden. Ich eilte herbei, um zu sehen, was geschehen war, als ich hörte, wie sich Stimmen näherten. Nun, da ich die schwarzmaskierten Gestalten sah, ahnte ich, um wen es sich handelte.“ Krafft stieß geringschätzig die Luft aus. „Ich weiß allerdings nicht, warum sich diese Männer verkleiden. Entweder halten sie ihre Gesichter auch untereinander verborgen, was auch zu den geheimnisvollen Ordensnamen passen würde. Oder sie misstrauen selbst so gut ausgewählten und versteckten Versammlungsorten wie der Ruine.“ Er schüttelte kurz den Kopf.

„Die Männer kamen also näher. Es blieb mir nur, Ihr Pferd am Zügel zu ergreifen und rasch dorthin zu führen, wo auch das meine verborgen war. Dann ging ich zurück. Ich musste schließlich erfahren, wohin Sie verschwunden waren und Sie notfalls, wenn Sie entdeckt würden ... aber daran denken wir besser nicht, da es schon zu diesem Zeitpunkt fünf Männer waren. Ich verbarg mich hinter einem Mauerrest und lauschte.“

Krafft grinste schief. „Im Grunde war Ihr törichter Ausritt also doch zu etwas nütze. Durch Ihre seltsame Berufung, unerhörte Ereignisse anzuziehen, können wir vielleicht das Schlimmste verhindern, indem wir die uns nun bekannten Pläne der Schwarzen Brüder vereiteln.“

„Wenn wir diese fassen könnten ...“

„Erinnern Sie sich: Es bleibt Zeit bis Mitternacht, und um Ihre vorige Frage zu beantworten, wo sich die Verschwörer aufhalten: In der Ruine müssen noch einige Kellerräume erhalten geblieben sein. Ich sah, wie die Männer in der Tiefe verschwanden. Dann suchte ich nach Ihnen, dort, wo ich Sie zuletzt gesehen hatte, und tatsächlich waren Sie dort, in jenem Brunnenschacht.“

„In dem ich doppelte Todesängste auszuhalten hatte: begraben zu sein und jederzeit von Meuchelmördern entdeckt zu werden.“ Lewis schüttelte sich. „Schrecklich!“

„Nun ist es überstanden“, entgegnete Krafft munter.

„Hoffentlich“, antwortete Lewis leise.

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In Weimar angekommen ritt Krafft gemeinsam mit Lewis sogleich zum Haus des Regierungsrats und schilderte diesem die gegebenen Umstände. Voigt hatte sich zu dieser Stunde schon in sein Studierzimmer zurückgezogen und trug eine dunkelrote Hausjacke und ein besticktes Käppchen, das seiner sonst so diabolischen Erscheinung etwas Gütiges gab. Dies währte jedoch nicht lange, denn kaum hatte er auch nur einen Teil des Berichtes vernommen, riss er sich die Kappe vom Haupt und schleuderte sie auf den Tisch.

„Lewis! Was sagte ich über Vorsicht? Sicher, Sie haben nicht unbedacht aus einem Glas getrunken, aber das war noch dümmer! Einsam durch die Gegend zu reiten und sich nahezu von diesen Mordgesellen fangenzulassen!“

Lewis sah keinen Sinn darin, sich gegen diese Tirade aufzulehnen, und so überließ er es Krafft, den tobenden Voigt von den Missständen fortzuargumentieren und ihn auf die Hauptsache hinzuweisen. Voigt wurde mit einem Schlag eiskalt und ruhig. Er verließ das Arbeitszimmer, und Krafft und Lewis folgten.

„Ich alarmiere sogleich Garnisonskommandeur von Germar. Er soll mit einem Trupp Husaren gegen dieses Schlangennest vorgehen und die Brut ausräuchern.“ Er warf die Hausjacke ab, griff sich seinen Tagesrock und hatte ihn kaum über Armen und Schultern, als er auch schon aus den bequemen Schuhen in die Stiefel schlüpfte.

„Sie, Lewis, begeben sich auf der Stelle in Ihr Quartier, und Sie, Krafft, sorgen dafür, dass er dorthin gelangt. Im Anschluss kommen Sie zur Garnison, Sie werden mir, von Germar und seinen Männern den Weg zeigen.“

Im Gehen knöpfte er den Rock zu und öffnete einen Schrank, dem er eine Pistole und einen Degen samt Gehenk entnahm. „Sie haben Ihre eigenen Waffen?“

„Das habe ich, und ich kann mir kaum einen besseren Grund denken, sie einzusetzen.“ Krafft schaute so grimmig, dass er dem teuflischen Voigt in nichts nachstand.

Der nickte knapp und legt sich den Gurt um. „Dann hoffen wir, dass sie schwarzes Verschwörer-Blut zu schmecken bekommen.“ Voigt ging durch den Flur und riss die Tür auf. „Herr Lewis?“

„Herr Regierungsrat?“ Lewis wünschte sich nichts mehr, als sein sicheres Zimmer zu erreichen. Dieses kriegerische Getue flößte ihm gehörigen Respekt ein, und ihm war nicht wohl in seiner Haut. Was wollte Voigt von ihm?

„Wenn dieses glückt, werde ich Ihnen Ihren leichtsinnigen Ausritt verzeihen, und möglicherweise gibt es für Sie dann auch nichts mehr, was Sie für mich tun können. Dann wäre es mir eine Freude, Sie aus meinen Diensten zu entlassen.“ Freundlich klang seine Stimme nicht, doch die Worte erfüllten Lewis mit Zuversicht.

Er nickte. „Dann wünsche ich den Herren reiche Beute bei ihrer Treibjagd. Um Berka ist das Glück dem Waidmann hold, wie ich erfuhr, und Schwarzwild ist ausreichend vorhanden.“ Lewis war froh, nur die Feder zu führen und keine Klinge.

Krafft lachte, und selbst Voigt ließ ein Aufwärtsstreben der Mundwinkel erkennen. „Nun auf!“, schnarrte er, und die drei traten in die Nacht hinaus.

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Später, in seinem Bett, grübelte Lewis darüber nach, was er heute erfahren hatte. Die Schwarzen Brüder wollten den Herzog ermorden, hatten Ähnliches bei Goethe versucht, wollten den Umsturz anzetteln und die Macht übernehmen. Gelänge es ihnen, würden sicher auch bald in Weimar, dem dann einstmaligen Herzogtum, die Guillotinen ihr blutiges Werk verrichten. Wer wusste, ob nicht auch in anderen deutschen Staaten Ähnliches geplant wurde? Sollte vielleicht ganz Deutschland zwischen der anrückenden Revolutionsarmee und der im Geheimen geplanten Revolution aufgerieben werden?

Lewis warf sich in den Laken herum. Vielleicht sollte er das Land so rasch wie möglich verlassen?

Aber wie verhielt es sich mit der Gefahr, die ihm persönlich drohte? Krafft hatte ihn sehr beunruhigt, indem er Lewis’ bisher vagen und lediglich aus Gesichten, Visionen und seltsamen Ereignissen geborenen Verdacht erhärtet hatte. Dabei wog die Person Löbers, mit der er nur durch einen Zufall in Verbindung geraten war, nicht so schwer wie die Tatsache, dass Goethe Krafft beauftragt hatte, ihn zu beschützen – oder zu überwachen. Was mochte Goethe dazu bewogen haben? Nur das Ereignis im Bergwerk? Aber Goethe hatte Krafft doch schon zuvor um ein Treffen ersucht – Krafft war gewiss nicht zufällig in dem Gasthaus in Ilmenau erschienen, und dann das Schreiben, das Goethe wahrscheinlich aus der alten Eiche nahe Martinroda entnommen hatte. Was mochte darin gestanden haben, was hatte Krafft Goethe nicht sagen können, solange Lewis zugegen gewesen war … und die beiden Männer im Stollen – welche Andeutungen hatten sie doch gleich von sich gegeben? Lewis konnte sich nur dunkel erinnern. Muntzer hatte von Gleichheit gesprochen, was ein Hinweis darauf sein mochte, dass er revolutionären Gedanken nachhing. Aber Weihrach hatte zuvor ein Geständnis machen wollen, über eine Sache, in die er hineingezogen wurde und die er für Unrecht hielt. So dachte kein Aufrührer! Er wollte Goethe etwas gestehen, was mit der Arbeit im Bergwerk zusammenhing, eine Erklärung dafür liefern, warum es dort keine Fortschritte gab ...

Lewis fuhr hoch. Das war es! Sicher hatten Muntzer und Weihrach die Schwarzen Brüder mit Talent und Arbeitskraft unterstützt, um das Versteck unter der alten Burg auf dem Schlossberg über Berka zu bauen! Krafft hatte von Kellern geredet, in die sich die Männer zurückgezogen hätten. Warum sollten nicht Bergleute – die dann in den Schächten Ilmenaus fehlten – den Hügel unter der Ruine ausgehöhlt haben, damit die Verschwörer einen geheimen Ort für ihre Treffen besaßen?

Lewis nickte, denn dies würde einiges erklären. Ihn packte das Bedürfnis, seine Erkenntnis umgehend jemandem mitzuteilen, aber dann überlegte er sich, dass Krafft, Voigt und die Soldaten dies wohl selbst entdecken würden, wenn sie das Nest der Revolutionäre aushoben. Lewis war nahezu stolz, dass durch ihn – trotz oder vielmehr wegen der Unachtsamkeit, die ihm von Krafft und Voigt vorgeworfen wurde – der ganze Spuk ein Ende hatte. Im Grunde hatte er die Obrigkeit auf die richtige Spur gebracht. Voigt konnte sich nicht beklagen, in ihm, Lewis, nicht einen hervorragenden Spitzel zu haben. Schließlich wurde dem Regierungsrat durch ihn die wichtige Nachricht vom Verschwörernest zugetragen. Fast war Lewis enttäuscht, dass Krafft auch zugegen gewesen war. Ohne ihn hätte er Voigt selbst alles berichten können.

Lewis stutzte. Hatte er alles berichtet? Es schien, als habe er etwas nicht bedacht. Er grübelte und grübelte, doch wollte es ihm nicht in den Sinn kommen. Er spürte, wie müde und erschöpft er war, auch schmerzten ihn die Knochen. Es waren zwei lange Ritte gewesen, und die Aufregung und der Sturz kamen hinzu.

Wie auch immer, Krafft, Voigt und die Soldaten waren auf dem Weg zu den Schwarzen Brüdern, um sie in Gewahrsam zu nehmen, und wenn dies geschehen war, konnte Lewis sich auch wieder sicher fühlen. Die Gefahren, die ihm – aus welchen Gründen auch immer – von den Schwarzen Brüdern drohten, würden mit jenen zusammen ein Ende finden.

Einigermaßen beruhigt sank er ins Kissen zurück und schloss die Augen. Während er in den Schlaf dämmerte, war es ihm, als hörte er von draußen Hufschläge, deren Klang von Metall auf Stein jedoch auch von Meißeln herrühren mochte, die sich in Felsen fraßen.

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In der Nacht suchten ihn keine Dämonen oder Engel in seinen Träumen heim, sondern Bilder von äußerst irdischen Gefahren. Er war wieder in dem alten Brunnenschacht gefangen, doch diesmal blieb er nicht unentdeckt. Gegen den düsteren Himmel über ihm zeichneten sich dunkle Gestalten ab, die auf ihn hinuntersahen. Es war, als sei die runde Scheibe, die die Öffnung des Schachtes umriss, das Zifferblatt einer Uhr, und die zwölf Männer, die sich über den Rand beugten, bildeten die Stundenmarkierungen darauf. Im Traum fragte sich Lewis, warum es wohl zwölf Männer waren, obgleich er doch nur sechs belauscht hatte, doch dann entsann er sich der weiteren, die später hinzukommen sollten. Die zwölf schwarzen Brüder starrten ihn mit feurigen Augen an, die aus den schwarzen Halbmasken herausstachen, die den oberen Teil ihrer Gesichter bedeckten. Unter den dunklen Dreispitzen schien völlige Leere zu herrschen, nur die Augen brannten in höllischem Flammenglast.

Plötzlich erschien in der Mitte des Zifferblattes aus Himmel und dunklen Gestalten ein Zeigerpaar, das aus einer unirdisch geschwungenen Hacke und einer Schaufel bestand. Kein Mensch konnte diese Werkzeuge geschaffen haben, es musste das Bergmannszeug von Gnomen und Erdgeistern sein, das sich dort mit einem Mal unter dem Klirren von Metall auf Stein in Bewegung setzte. Wie das Ticken einer Uhr begleitete das Klirren die Zeiger auf ihrem Weg über das Rund, und jedes Mal, wenn zur vollen Stunde auf einen Mann gewiesen wurde, leuchtete ein Mondstrahl auf ihn. Dann hatten die Zeiger ihren Kreis ganz beschrieben, und sie verschwanden mit einem Krachen, als stürze das Weltgebäude ein. In diesem Augenblick beugten sich die zwölf Schwarzen Brüder vor, öffneten ihre mit Fängen bewehrten Münder und spien Ströme von tödlichem Gift in die Grube, so dass Lewis schreiend vor Angst darin ertrank.

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Lewis fuhr hoch. Im Haus waren Schritte und Stimmen zu hören. Licht fiel durch den Spalt seiner Tür. Benommen stand er auf und wankte hinüber. Er konnte Böttigers Stimme und die seiner Frau erkennen. Vielleicht war etwas mit Karlchen?

Lewis öffnete die Tür und spähte hinaus. Die Stimmen kamen von der Haustür. Er trat ein wenig näher, zum Treppenabsatz hin, als schnelle Schritte auf ihn zukamen. Lewis wich zurück, und dann sah er Krafft die Stufen heraufstürmen, einen Kandelaber in der Hand, das Gesicht rötlich und verschwitzt, die Haare wirr.

Oben angelangt, sah er Lewis, und sein ernstes Gesicht erhellte sich für einen Moment. „Gott sei Dank, Sie sind wohlauf“, sagte Krafft atemlos.

Lewis war noch immer schlaftrunken und verwirrt von dem Traum. Ja, er war dem Gift entronnen, das die Schwarzen Brüder wie die steinernen Wasserspeier eines mittelalterlichen Domes auf ihn hatten hinabregnen lassen. Er nickte, obgleich er sich wunderte, wie Krafft davon wissen konnte. Trotz seiner Benommenheit erkannte er den Kerzenleuchter in Kraffts Hand als einen aus Böttigers Besitz, Krafft musste ihn von diesem erhalten haben. Von unten hörte er Böttiger mit einem Mann sprechen.

„Lewis?“ Krafft bewegte den Kopf und versuchte, ihm in die Augen zu sehen.

„Ja?“, antwortete er.

„Wachen Sie auf!“, fuhr Krafft ihn an und schob ihn in sein Zimmer zurück, um ihn sich dort auf das Bett setzen zu lassen. Krafft entzündete die anderen Kerzen im Zimmer und goss Lewis einen Becher Wasser ein.

Der nahm ihn, trank und erkannte im helleren Licht, dass Krafft einen Riss im linken Rockärmel hatte und eine Schürfwunde am Wangenknochen. „Was ist geschehen?“, fragte er und stellte hastig den Becher fort. Er war nun hellwach.

Krafft zog einen Hocker heran und setzte sich auf die Kante, als wolle er sich keine rechte Rast gönnen. „Wir – das heißt: die Soldaten, der Regierungsrat, der Kommandeur und ich – konnten Berka rechtzeitig vor Mitternacht erreichen ...“

„Wie spät ist es nun?“, unterbrach Lewis ihn.

„Etwa zwei Uhr, schätze ich“, erwiderte Krafft. „Wir kamen den Berg hinauf, und alles war ganz friedlich. Dann entdeckten wir die Pferde der Verschwörer und wussten, sie mussten noch in der Ruine sein. Wir fanden den Eingang zu den Kellern durch den Lichtschein, der nach oben drang – den man allerdings nur dann erkennen konnte, wenn man sich nahe genug zwischen die alten Mauern gewagt hatte. Ein nächtlicher Wanderer dort oben oder gar ein Einwohner Berkas, der zufällig zum Berg geblickt hätte, wäre nie aufmerksam geworden. Von Germar postierte einen Teil seiner Leute draußen, mit angelegten Gewehren, und wir anderen schlichen hinab. Eine Stiege führte uns in die alten Keller, die jedoch wie neu erschienen. Kein Trümmerstück war zu sehen, die alten Keller waren sicher gemauert, und auch neue Gänge waren gegraben, sicher abgestützt wie in einem Bergwerk.“

„Ich ahnte es!“, rief Lewis. „Mir kam die Idee, dass Männer aus Ilmenau dort beschäftigt waren. Deshalb kamen die Arbeiten in der Mine nicht voran, und deshalb ...“

„Richtig!“, nickte Krafft. „Das eröffnete sich später auch uns. Erst einmal aber ging unser Trupp so lautlos wie möglich durch die Gänge. Fackeln steckten in Wandhaltern und leuchteten uns den Weg. Bald hörten wir die Stimmen der Revolutionäre, wie sie ihre Ränke schmiedeten und sich mit ihren geheimen Namen anredeten, die ihre wahre Identität verschleiern sollen. Der Gang weitete sich zu einem großen, unterirdischen Raum, der von Kerzen und Kohlenbecken erleuchtet war und wo Wandteppiche und Banner mit seltsamen Zeichen und Symbolen hingen. Ein runder Tisch stand in der Mitte, um den die Schwarzen Brüder sich versammelt hatten, immer noch maskiert. In dem Augenblick, als sie alle ihre Stimmen erhoben, um sich selbst zu feiern und um das geheime Treffen zu beenden, stürmten wir mit gezogenen Waffen hinein und forderten sie auf, sich zu ergeben. Sie waren zu zwölft, wir waren achtzehn. Dennoch rissen sie ihre Degen heraus und nahmen den Kampf auf. Sie fochten verbissen, als wollten sie um jeden Preis ihre Geheimnisse, von denen sie ohne Zweifel viele besitzen, verteidigen, notfalls mit ins Grab nehmen. Nichtsdestoweniger konnten wir sie überwältigen. Drei von ihnen starben, ebenso einer der Soldaten, je zwei weitere sind verwundet.“

Lewis atmete auf. „Dann ist es ausgestanden! Ich bin froh, dass diese Gesellen nun dingfest gemacht sind. Der Herzog ist gerettet und ...“

„Der Herzog ist in Sicherheit. Noch ehe wir nach Berka ritten, wurde ein Eilbote ins Heerlager entsandt, um vor einem Attentat zu warnen. Nach dem, was wir in jenem geheimen Versteck vernahmen, sollten die Meuchelmörder allerdings erst in einiger Zeit ihr ehrloses Werk begehen. Aber eine Warnung ist auf keinen Fall falsch.“ Dennoch blickte Krafft bitter bei diesen Worten.

„Was ist? Es scheint doch alles gerettet, nun, da die Schwarzen Brüder verhaftet sind und ...“

Krafft sah Lewis fest an. „Zu allem Unglück konnten einige entfliehen.“

Lewis erstarrte, und Krafft seufzte, ehe er ärgerlich weitersprach: „Wir merkten zu spät, dass sich einige Verschwörer zurückzogen, während die anderen umso heftiger Gegenwehr leisteten. Schließlich entflohen sie.“

„Aber doch nur, bis sie vor die Gewehrläufe der Soldaten liefen“, sagte Lewis.

„Leider nein“, antwortete Krafft. „Wir hatten nicht bedacht, dass das unterirdische Versteck einen zweiten Ausgang besitzen könnte. Aber selbst wenn, wie hätten wir wissen sollen, wo der Gang endete? Als wir dort, am Fuße des Hügels, herauskamen, waren nur noch Hufspuren zu sehen.“

„Wie viele konnten entkommen?“, fragte Lewis bang.

„Drei“, antwortete Krafft zähneknirschend.

„Wissen Sie, wer? Was ist mit denen, die wir belauschten?“

„Der, der in jenem Singsang sprach, ist unter den Gefangenen, bei den anderen beiden bin ich nicht sicher. Der mit dem Akzent ist entweder unter den Getöteten oder konnte entfliehen ...“

Lewis setzte sich auf. „Was ist mit Bode? Ich hatte eindeutig Bode erkannt!“

Kraffts Kinn zuckte hoch. „Bode? Johann Bode? Was ist mit ihm?“

Lewis schaute konsterniert. Dann ging ihm sein großer Fehler, seine Achtlosigkeit auf. „Bode! Ich hatte ihn an der Stimme erkannt! Er gehört zu den Schwarzen Brüdern!“

„Was sagen Sie da?“ Krafft sah Lewis streng an.

„Regierungsrat Voigt hatte ihn im Verdacht, Mitglied in einem Orden zu sein und ...“

Trotz seines harten Blickes grinste Krafft. „Da liegt er nicht falsch, und von anderen könnte man das auch ...“ Dann wurde er wieder ernst. „Sprechen Sie weiter!“

„Ich habe Bode schon oft getroffen, und ich bin sicher, unten im Brunnenschacht seine Stimme gehört zu haben! Er gehört zu den Schwarzen Brüdern!“

„Sie sind sicher?“

„Ja ... der Mann hustete zwar, und seine Stimme klang rau, aber ich bin mir sicher, dass es Bode war.“

Krafft sprang von seinem Stuhl auf, dass dieser fast hintüber kippte. „Warum haben Sie das nicht schon früher erwähnt?“

Lewis hob die Hand zur Stirn. „Ich ... es war so viel geschehen, und ... ich muss es in all der Aufregung vergessen haben.“

Krafft packte ihn an den Schultern und zog ihn hoch. „Kleiden Sie sich an, rasch!“

Lewis zögerte, weil er nicht wusste, was er von diesem Befehl halten sollte.

„Machen Sie schon!“, rief Krafft, während er zur Tür ging. „Folgen Sie mir!“

Krafft lief die Treppe hinab und rief schon im Laufen nach Böttiger und von Germar. Lewis kleidete sich rasch und nachlässig an, während unten Stimmen laut wurden. Schnell schlüpfte er in die Schuhe und rannte nach unten.

Dort standen Böttiger und seine Frau mit bangen Gesichtern, Eleonore hatte Karlchen auf dem Arm, der trotz des Tumultes selig schlief. Krafft redete auf einen älteren, aber äußerst kräftig aussehenden Mann in Uniform ein und warf ab und zu entschuldigende Blicke auf die Böttigers. Diese sahen Lewis die Treppe herunterkommen und schauten ihn besorgt an.

„Was ist denn ...“, begann Lewis, doch da wendete sich ihm schon Krafft zu und winkte ihn heran.

„Kommen Sie, Sie müssen uns begleiten!“

Damit ging er mit dem Soldaten, der zweifellos Wilhelm von Germar, der Garnisonskommandeur, war, aus der Tür, nachdem beide die Böttigers gegrüßt hatten. Als Lewis diese passierte, erhielt er einen ermutigenden, aber dennoch furchtsamen Blick von Böttiger. Eleonore schaute furchtsam und verwirrt.

„Ich muss fort ... kurz, hoffe ich ...“, stammelte Lewis und ging vorüber, ohne eine Reaktion abzuwarten, da Krafft von draußen rief. Auf der Straße standen vier Pferde, von denen Soldaten zwei an den Zügeln hielten. Auf den anderen saßen Krafft und von Germar.

„Aufsitzen“, befahl Krafft und wies ungeduldig auf eines der beiden reiterlosen Pferde. Kaum saß Lewis im Sattel, ritten die anderen beiden los, und er folgte notgedrungen. Die zwei Soldaten blieben zurück und postierten sich, wie Lewis sah, neben dem Eingang des Böttigerschen Hauses.

Sie ritten von der Jakobstraße aus in nahezu gerader Linie durch die Stadt, am Markt vorbei und in die Frauentorstraße. Schon dachte Lewis, ihr Weg würde sie zu Goethes Haus am Frauenplan führen, als sie in eine Seitengasse abbogen. Vor einem großen, unscheinbaren Haus hielten sie an und saßen ab.

„Hier wohnt die Gräfin von Bernstorff, Bode ist ihr Verwalter“, erklärte Krafft, als sie zur Tür schritten.

Von Germar pochte vehement an die Tür. Er sah Lewis kurz an. „Hier werden wir wohl erfahren, wo sich Bode angeblich aufhält. Dass er selbst hier ist, bezweifle ich.“ Dann fletschte er die Zähne, dass sein hartes Gesicht sich in tiefe Falten legte.

Nach kurzer Zeit öffnete ein langgesichtiger Diener, der recht verschlafen wirkte. Er rieb sich ein Auge, hob einen Kerzenleuchter und beschien mit überraschtem Gesicht die drei Männer.

„Guten Abend“, grüßte er höflich.

„Wir müssen mit der Gräfin sprechen“, begann Krafft, und von Germar fügte hinzu, als er sah, wie sich Empörung auf dem Gesicht des Dieners breitmachen wollte: „Es geht um Leben und Tod. Ich bin Garnisonskommandeur Wilhelm von Germar.“

Daraufhin trat der Mann zurück und bat die Männer mit einer Geste ins Haus. Von Germar und Krafft polterten über das Parkett, während Lewis ihnen voller Schamgefühl folgte. Wie hatte er nur versäumen können, diese wichtige Entdeckung mitzuteilen! Wer wusste, welches Unheil daraus noch erwachsen würde?

Sie gingen weiter durch die Flure, wobei die Stiefelschritte Kraffts und von Germars durch das Haus hallten. Als sie ein geräumiges Zimmer passierten, drehte sich der Diener mit einem Male um. „Ich werde die Gräfin aufwecken. Derweil bitte ich Sie, hier Platz zu nehmen. Sie müssen nicht das gesamte Haus aufscheuchen. Herr Bode liegt krank in seinem Zimmer, und er braucht Schlaf.“

„Was?“, riefen Krafft und von Germar zugleich.

Krafft warf einen kurzen Seitenblick zu Lewis, der wie vom Donner gerührt dastand.

Der Diener hob eine Hand. „Mäßigen Sie sich doch bitte! Herr Bode ist schwer erkältet und liegt schon den gesamten Tag unter den Decken.“

„Führen Sie uns zu ihm!“, befahl von Germar.

Das Gesicht des Dienstboten wurde noch länger. „Aber was ist mit der Gräfin?“

„Die brauchen wir nicht, es geht um Bode!“, schnappte von Germar, worauf der Diener zunächst zurückzuckte, dann aber seine Lippen spitzte.

„Darf ich fragen, was die Herren eigentlich wünschen?“

Krafft trat einen Schritt vor. „Es geht um das Leben seiner Herzoglichen Hoheit Carl August von Sachsen-Weimar und Eisenach. Führen Sie uns zu Bode!“

Der Diener wurde bleich, drehte sich eilig um und ging voraus. Nach zaghaftem Pochen an einer Tür trat er eingeschüchtert zur Seite und ließ Krafft, von Germar und Lewis den Vortritt.

Schweres Atmen war aus dem Dunkel des Zimmers zu hören. Krafft nahm dem Dienstboten den Leuchter aus der Hand und hob ihn nun, um den Raum zu erhellen. In einer großen Bettstatt an der gegenüberliegenden Wand hob und senkte sich ein gewaltiger Berg aus Decken im Takt des Atmens.

„Bode?“, fragte Krafft leise. „Johann Bode?“

Mit einem Schnarchen regte sich etwas unter den Decken, und ein dickes, gerötetes Gesicht, auf dessen Stirn das wirre Haar klebte, tauchte am Kopfende des Bettes auf. „Was ist denn, Konrad?“, ächzte eine tiefe Stimme, und ein Husten folgte.

Krafft trat heran. „Herr Bode, wir sind hier, um Ihnen eine Frage zu stellen ...“

Bode blinzelte, hustete erneut und sagte dann mit belegter Stimme: „Sie sind es. Was verschafft mir die Ehre, den famosen Krafft – so es denn Ihr Name ist – in meinen Gemächern begrüßen zu dürfen?“ Er wollte lachen, worauf ihn ein neuer Hustenanfall schüttelte.

Krafft sah zu Lewis hinüber, dann richtete er den Blick wieder auf Bode. Er sprach sanfter als zuvor. „Herr Bode, ich bedaure die späte Störung, auch in Anbetracht Ihres Gesundheitszustandes ...“

Bode räusperte sich und blickte an Kraffts Schulter vorbei auf von Germar und Lewis. „Sie, der Major und ... Herr Lewis ...“ Er hob verblüfft die Brauen über den vom Husten tränenden Augen. „Sie werden wohl Ihre Gründe haben, hier zu erscheinen.“

„Die haben wir“, bestätigte von Germar besonnen. Lewis sah, wie der Kommandeur sich unauffällig im Zimmer umblickte und besonderes Augenmerk auf den Fußboden richtete.

Krafft sprach Bode an: „Ich möchte zunächst vorschlagen, das Gespräch auf den Tag zu verschieben, vielleicht auch solange, bis Sie wieder genesen sind.“

Bode nickte. „Das dürfte, wie ich hoffe, nicht allzu lange dauern. Die Erkältung plagt mich schon seit einigen Tagen, bald müsste es besser gehen. Dann stehe ich ganz zu Ihrer Verfügung.“

Krafft richtete sich auf. „Dann darf ich mich noch einmal entschuldigen und Sie nicht länger belästigen. Meine Frage ist beantwortet.“ Er verbeugte sich. „Noch eine gute Nacht und gute Besserung.“

Bode runzelte die Stirn. „Es freut mich, wenn ich Ihnen helfen konnte. Ich gebe allzeit und gern befriedigende Antworten. Gute Nacht, Herr Krafft. Herr Major.“

Von Germar salutierte. Lewis nickte schwach in Bodes Richtung.

Der versuchte, ein wenig zu lachen, hustete jedoch erneut. „Ich hoffe, Herr Lewis, Sie haben erfahren, was auch immer Sie erfahren wollten. Wenn Sie es gewinnbringend verwerten können, wünsche ich mir, einen Blick darauf werfen zu dürfen. Aber nun eine gute Nacht.“

„Gute Nacht, Herr Bode“, gab Lewis kleinlaut zurück und zuckte mit jedem Hustenstoß, den Bode nun von sich gab, zusammen.

„Konrad, führen Sie die Herrn doch hinaus“, bat Bode nun, „und bringen Sie mir dann etwas von Hufelands Tropfen.“ Dann ließ er sich in die Kissen sinken.

Die drei ungebetenen nächtlichen Besucher verließen das Haus, von Konrad schneller hinausgeführt, als ihnen lieb war. Als der langgesichtige Dienstbote nach sehr kalten Abschiedsworten die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, sah Lewis sich seinen äußerst ungehaltenen Begleitern gegenüber.

„Herr Lewis ...“, begann Krafft, der, obwohl man seinen inneren Zustand erahnen konnte, seine Stimme im Zaum hielt.

Lewis bewegte aufgeregt die Hände. „Ich weiß, was Sie denken! Aber ich habe mich nicht geirrt! Ich habe die Stimme Herrn Bodes gehört, dort oben, bei der Ruine!“

Krafft schüttelte gereizt den Kopf. „Dieser Mann ist so erkältet, dass er kaum einen Fuß vor den anderen setzen kann, geschweige denn nach Berka reiten und dort ... ach, Unsinn!“ Er fuhr mit der Hand durch die Luft.

Lewis wich zurück, als habe der Schlag ihm gegolten. „Aber wenn er es doch war? Wenn er zu denen gehörte, die fliehen konnten? Er hätte durchaus rechtzeitig wieder im Bett ...“

Krafft sah Lewis hämisch an.

Von Germar schüttelte den Kopf. „Ich habe das kontrolliert. Bodes Kleidung lag ordentlich auf einem Stuhl. Die Stiefel waren trocken und sauber. Auch gab es keine Spuren von Dreck oder Erde auf dem Fußboden.“

„Aber er hätte das bedenken und die Spuren beseitigen können.“

Krafft schnitt Lewis das Wort ab. „Warum hätte er das tun sollen? Er konnte doch nicht ahnen, dass er verdächtigt wird, dass wir bei ihm auftauchen würden! Nein, Sie sind einer Sinnestäuschung aufgesessen und haben Bode zu Unrecht verdächtigt. Kein Wunder, in Ihrer Lage und bei Ihrer ...“ Krafft brach ab und stieß die Luft aus. „Eine peinliche Situation, kann ich nur sagen. Das Beste wird sein, Voigt erfährt erst gar nichts davon, sonst wird er toben. Auch wenn er selbst Bode im Visier hat, eine solche Spinnerei ...“ Er schnaufte und sagte dann fast zu sich selbst: „Möglicherweise liegt das alles nur daran, dass zwischen den beiden ... aber egal!“

Dann wandte er sich an von Germar. „Lassen wir uns dadurch nicht den Erfolg vergällen! Wir haben den Großteil der Revolutionäre unschädlich gemacht.“

„Korrekt“, pflichtete von Germar bei. „Drei sind tot, und der Rest ist im Kerker. Aus denen werden wir schon herauspressen, wer die Flüchtigen sind!“

Lewis fragte sich, wie das gehen sollte. Schließlich waren doch alle Aufrührer immer maskiert.

Plötzlich fiel der erzürnte Gesichtsausdruck von Krafft ab. Er drehte sich zu Lewis hin, der zu Boden sah. „Lewis ...“, begann Krafft unruhig.

„Ja?“, fragte der schwach und hob den Kopf ein wenig.

„Lewis, Sie haben mich vorhin nicht gefragt, warum wir zu Ihnen gekommen sind, nachdem wir wieder in Weimar waren.“

Lewis sah Krafft an. „Ich dachte, Sie wollten sich überzeugen, dass ich wohlauf bin, weil die Schwarzen Brüder ...“ Er legte die Hand vor den Mund. „Aber das konnten Sie nicht wissen, das habe ich nur geträumt.“

„Was auch immer Sie geträumt haben, die Realität ist bedrohlicher.“ Krafft biss sich auf die Unterlippe. „Ich muss Sie um Verzeihung bitten, dass ich Sie anfuhr, weil Sie in Ihrer Aufregung vergaßen, die Sache mit Bode zu berichten, auch wenn sie sich mittlerweile als falsch herausgestellt hat!“

„Aber warum denn?“

Krafft rieb sich die Wange. Seine Kiefer mahlten unter der mit Bartstoppeln übersäten Haut. „Weil auch ich in der Aufregung etwas vergessen habe. Sie sollten erfahren, dass wir von einer Person sicher wissen, dass sie fliehen konnte.“

Lewis schwirrte der Kopf. Er sann kurz nach und riss dann die Augen auf. „Sie meinen ...“

Krafft nickte. „Gottwerth Heinrich Löber.“

„Sie kamen zum Haus der Böttigers, um mich zu warnen ... und Sie haben Soldaten mitgebracht ... und dort postiert, weil ...“ Lewis schwankte.

„Ja“, sagte Krafft leise. „Ich konnte hören, wie Löber seinen Schwarzen Brüdern verkündete, dass er Sie umbringen wolle.“