Viertes Kapitel
In welchem mit Köpfen gespielt wird
Während die Kutsche durch Tiefurt brauste, mühten sich Lewis und Herder, trotz der Enge und des Rüttelns wieder in ihre Kleidung zu schlüpfen. Wieland schaute amüsiert drein, bot aber keine weitere Hilfe an, als dass er sich möglichst eng in seine Ecke drängte, um den beiden jungen Männern einigermaßen Platz zu bieten.
„Haben Sie übrigens die vier Berittenen gesehen, die uns entgegenkamen?“, fragte er.
Herder hielt beim Versuch, seine Halsbinde zu richten, inne und sah ihn an. „Nein, von welchen Reitern sprechen Sie? Die, die uns abdrängten?“
Wieland stutzte. „Kurz bevor wir den Waldrand und die Brücke erreichten, kamen uns vier Reiter entgegen. Ich glaubte, es seien die, die auch unsere Pferde zum Scheuen gebracht hatten, und hoffte, Sie hätten sie im Sonnenlicht besser erkennen können ...“
„Nein“, sagte Herder. „Da wir gleich neben der Brücke lagerten, hätten wir sie wohl bemerken müssen, nicht wahr, Herr Lewis?“
Lewis nickte. „Ich habe auch nichts bemerkt.“ Er blickte Wieland an. „Möglicherweise gibt es einen Querweg zur Straße durch den Wald.“
Wieland wiegte den Kopf. „Das mag sein.“
Herder rückte sich den Rock zurecht. „Das wär’s.“ Er musterte Lewis. „Wir sind so gut wie neu. Die Herzogin wird nichts zu beanstanden haben.“
Lewis mochte dem zustimmen, soweit es Herder betraf. Der sah aus, als sei das schlammige Debakel nie geschehen. Er selbst fühlte sich allerdings zerzaust und unwohl, gar nicht recht gewappnet für einen Besuch bei den hohen Herrschaften des Adels und des Geistes. Aber dann stellte Herder wieder sein gewinnendes Lächeln zur Schau, und Lewis ließ sich mitreißen. Trotzdem wollte er sichergehen.
„Was meinen Sie, Herr Wieland? Ist das angemessen?“
Der Schriftsteller zog die Nase kraus, was ein beeindruckendes Schauspiel war, und spitzte die Lippen. „Nun, ich könnte jetzt etwas Zweideutiges sagen, um meiner Rolle gerecht zu werden, aber glauben Sie mir, es ist alles in schönster Ordnung.“
Lewis nickte dankbar.
„Außer vielleicht dem einen oder anderen Grashalm in Ihrem Haar.“ Er deutete mit dem Finger darauf. „Aber ich denke, es wird auf dem Weg vom Eingang zum Gesellschaftszimmer den einen oder anderen Spiegel geben ...“
Lewis’ Hand zuckte zu seiner Schläfe und tastete, konnte aber nichts ausfindig machen. Er schaute verwirrt.
Herder schüttelte den Kopf. „Herr Lewis, Sie müssen sich daran gewöhnen, nicht jede Äußerung Herrn Wielands für voll zu nehmen.“
„Ich werde das beherzigen“, sagte Lewis und versuchte, Wieland einigermaßen respektvoll in gespieltem Zorn anzufunkeln.
„Eines dürfen Sie mir aber glauben ...“, begann Wieland.
„Was mag dies sein?“, fragte Lewis misstrauisch.
Wieland wies aus dem Fenster. „Wir sind da.“
Lewis sah hinaus. Sie fuhren in eine malerische Parklandschaft ein, die im späten Licht lag. Zwischen hohen Bäumen konnte Lewis hell verputzte Mauern blitzen sehen, und schon hielten sie vor dem Altan, einem auf Pfeilern stehenden und mit Schindeln gedeckten hölzernen Gang, der das zweigeschossige Haupthaus mit dem Nebengebäude verband.
„Aber“, meinte Lewis, „das ist ja gar kein Schloss.“
„Nein, wie sollte es auch“, erläuterte Wieland. „Früher war es das Pächterhaus des Kammergutes. Aber seien Sie unbesorgt, im Inneren ist es erstklassig eingerichtet.“
„Ich bin keineswegs besorgt“, antwortete Lewis. „Ich bin nur verblüfft, da es stets als Schloss bezeichnet wurde.“
„Der Adel kommt mit den Bewohnern“, stellte Wieland fest. „Aber jetzt hinaus, wir sind schon spät.“
Die drei stiegen aus, und der Kutscher lenkte den Wagen sogleich weiter, um das Bauwerk herum. Herder klopfte abermals seine Kniehosen aus. Dann gingen sie zum Hauptgebäude, unter den vier hohen Bäumen hindurch, bis sie vor dem Tor standen, das von zwei steinernen Bänken gesäumt war.
Wieland klopfte an.
Als sich nichts rührte, drückte er gegen das Holz, und die Pforte schwang auf. Er sah sich zu Herder und Lewis um, zuckte die Achseln und steckte den Kopf ins Innere. Es war still. Wieland öffnete die Tür weiter, bedeutete den beiden jungen Männern, ihm zu folgen.
„Höchstwahrscheinlich sind die Herrschaften schon ins musische Gespräch vertieft, und die Dienerschaft ist im Nebenhaus in der Küche, wer weiß? Als treuester Gast kann ich mir den selbsttätigen Eintritt erlauben. Kommen Sie.“
Wieland führte die beiden zur Treppe, ohne Hast, als wolle er Lewis Gelegenheit geben, sich ein wenig zu beruhigen und die Ereignisse des Weges von sich abfallen zu lassen. „Im oberen Stockwerk bewohnt die Herzoginmutter fünf Räume, es gibt auch ein Kabinett und ein Billardzimmer, die dann und wann als Gastzimmer dienen. Gemeinhin quartiert man die Gäste aber beim Bauern Grobe und ein paar anderen Landleuten ein. Das Fräulein von Göchhausen wohnt im Nebengebäude ...“
Lewis erkannte den Namen und erinnerte sich an die Warnungen Böttigers. Er atmete tief ein. Dieser furchtbaren Person würde er also auch begegnen. Aber was konnte ihm heute schon noch Erniedrigendes widerfahren, verglichen mit der schmutzigen Strapaze des Kutschenunglücks? Wohin es wohl die Reiter so eilig getrieben hatte? Waren sie nicht dunkel gekleidet gewesen, hatten sie nicht wie finstere Mordbuben oder Schergen einer bösen Macht ausgesehen? Lewis fühlte sich unwohl, vernahm kaum noch, was Wieland berichtete. Was, wenn die düsteren Gestalten den Weg nach Tiefurt genommen hätten, einer arglistigen Bestimmung folgend? War das der Grund, warum niemand das Klopfen an der Pforte beantwortet hatte?
Waren alle gemeuchelt, dahingemordet? Lewis schüttelte den Kopf. Herrje, er ließ zu, dass seine schauerliche Lektüre ihm Streiche spielte. Er schien doch erschöpft zu sein, und möglicherweise das Sonnenbad ohne Hut ...
Plötzlich vernahm er aus dem oberen Stockwerk einen Schrei. Eine Frau schien in höchsten Nöten.
Aufgeregt sah Lewis die beiden anderen Männer an. Wieland und Herder schienen zunächst erschrocken, gelähmt. Dann beschleunigten sie ihre Schritte, stiegen immer schneller treppauf. Schon rannten sie. Lewis stürmte mit. Seine Ahnung hatte ihn nicht getrogen, dort oben in den Zimmern geschah Furchtbares. Er verspürte Furcht, sah zu seinen Gefährten. Doch er sah in Herders markantem Profil nur die Züge eines entschlossenen Geistes, der zum Handeln bereit war, bereit, die Dame in Fährnis zu retten. Lewis fühlte sich angespornt, wollte es diesem Manne gleichtun. Diesem Mann, der wie die Helden der Romane zu handeln wusste. Er lief, erreichte den Treppenabsatz, drang in ein Zimmer vor, in dem sich nichts Lebendes fand, allein Möbel und Bilder an den hellen Wänden. Seine Sohlen rutschten auf dem mit Intarsien verzierten Parkett. Wieder hörte er die Frau in Not. Lewis wünschte sich eine Waffe, hatte keine, sah keine, aber dessen ungeachtet rannte er voran, hinter sich die Rufe seiner Gefährten, und dann sah er sie, im entfernten Zimmer, die Arme in abwehrender Geste erhoben, um sie herum geduckte Gestalten.
Mit einem Satz war er heran, fing sich am Türrahmen und erstarrte.
Die Frau verstummte. Die Gestalten wandten sich ihm zu. Hinter ihm hörte er die Schritte Wielands und Herders, die zu ihm aufschlossen. Lewis keuchte. Er spürte, wie ihm die Röte der Anstrengung ins Gesicht stieg, und wie diese von der Röte der Scham übertüncht wurde.
Aus der Gruppe der Sitzenden erhob sich Goethe, gekleidet in Tannengrün, und sagte: „Junger Herr Lewis! Ich muss zugeben, Sie verstehen es, ebenso wirkungsvoll aufzutreten, wie ich es vor Ihnen getan habe.“ Er sah in die Runde, dann wieder zu Lewis. „Aber zunächst möchte ich Sie bitten: Nehmen Sie Platz und lassen Sie uns gemeinsam der Kunst der Primadonna Madame Schröter lauschen. Danke.“ Goethe setzte sich.
Lewis zauderte. Zum Glück waren Wieland und Herder da, um ihn zu stützen und vor etwas zu bewahren, das noch mehr Aufruhr verursacht hätte. Nach Halt tastend griff er nach dem Türrahmen, der mit einem Fries aus Blumenranken umspannt war. Während sich die Gäste im Gesellschaftszimmer wieder der Sängerin zuwandten, die sogleich mit ihrem Vortrag begann, zog Wieland einen der dunkel gepolsterten Stühle des Nebenzimmers, in dem sie sich befanden, heran. Er stieß ihn Lewis, den Herder aufrecht hielt, von hinten in die Kniekehlen.
„Verzeihung“, flüsterte er, um die Gesangsdarbietung nicht zu stören, obwohl seine Worte ohnehin in der vollen Stimme Corona Schröters untergingen.
Lewis sackte auf die Sitzfläche. „Ich erbitte Ihre Verzeihung“, flüsterte er und rieb sich mit den Handballen die Schläfen. „Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist. Die letzten Momente erscheinen mir wie von einem Schleier überzogen ...“
Er blickte starr nach vorn, hinein in das Gesellschaftszimmer und auf die schlanke Frau, vierzig mochte sie sein, die in der Mitte der Lauschenden stand. Reiche Falten rosenfarbenen Stoffes umspielten sie, bewegten sich mit ihren Gesten. Das lange, helle Haar der Schröter war mit einem zum Kleid passenden Band auf dem Scheitel gebändigt und fiel in Locken auf ihren Nacken und ihre Schultern. Die Augen schlossen sich dann und wann unter den gewölbten Brauen, um diese oder jene Passsage zu betonen. Auch wiegte sie den Kopf, so dass man ab und an ihre klassische Nase im Profil sehen konnte. Ihr Mund rundete sich fein und entließ jene verzückende Melodie, die Lewis so jäh unterbrochen hatte. Er hatte den Blick immer noch auf die Primadonna gerichtet, als diese in einer ihrer wiegenden Bewegungen innehielt und ihm ins Gesicht sah. Lewis erschrak und senkte das Haupt in Scham.
„Wenn ich mich nicht irre“, raunte ihm Herder zu, der sich mittlerweile ebenfalls eine Sitzgelegenheit besorgt hatte, „ist die Dame nicht besonders erzürnt.“
„Wie kommen Sie auf diesen Gedanken?“, gab Lewis schwach zurück, ohne aufzublicken. „Ich habe mich unmöglich benommen und ihre Kunst gestört.“
„Ich glaubte zu sehen, wie sie in Ihre Richtung geblinzelt hat“, meinte Herder.
Lewis sah ihn aus dem Augenwinkel an. „Sie scherzen!“
„Keineswegs“, antwortete Herder, und Lewis erschien Herders Gesichtsausdruck ernst genug, um seinen Worten Glauben zu schenken.
„Aber ist das nicht ungehörig ...?“, begann er.
„Ungehörig ist es, wenn die jungen Herren nicht mit dem Tuscheln aufhören“, zischte der hinter ihnen sitzende Wieland, indem er sein Antlitz zwischen die Köpfe der beiden schob.
„Jawohl, Herr Wieland“, sagte Lewis eingeschüchtert und reuig, während Herder nur knapp nickte.
„Recht so. Wenn hier jemand spricht, dann werde ich das sein.“ Wieland zog das Haupt zurück, blieb aber weit genug vorgebeugt, damit seine leise Stimme gut zu hören war. „Ich denke, Sie können Ihren Fauxpas am besten wieder gutmachen, indem Sie nicht kleinlaut, sondern gefasst auftreten, und damit Ihnen das gelingt, werde ich Ihnen nun die Anwesenden vorstellen. So wissen Sie, mit wem Sie es nachher zu tun haben, und falls Spontaneität nicht Ihre Stärke ist, können Sie sich für jede Person schon einmal ein Sätzlein bereitlegen. Verstanden?“
„Natürlich“, zischte Lewis, ohne den Kopf zu wenden, ja nahezu ohne die Lippen zu bewegen.
„Sitzen Sie nicht so steif, sonst sind Sie in ein paar Minuten so verkrampft, dass Sie keine gute Figur machen werden.“
Lewis rutschte ein wenig auf dem Polstersessel hin und her und bewegte die ohnehin schmerzenden Schultern so sachte wie möglich, damit es nicht aussah, als zappele er auf seinem Stuhl herum.
„Also“, wisperte Wieland. „Die hochgeborene Gastgeberin sitzt dort hinten zur Linken, in Dunkelblau.“
Lewis schielte in die ihm gewiesene Richtung und sah eine zierliche Frau in den Fünfzigern, mit großen Augen und schmalem Mund, die mit zartem Lächeln der Sangesdarbietung lauschte. Sie war nicht so prächtig gekleidet, wie sich Lewis die Mutter eines Herzogs vorgestellt hätte, sie trug keine Preziosen, um ihren Hals war nur locker ein dünner Schal geschlungen. Die Kostbarkeiten, mit denen sie sich schmückte, bestanden aus Dichtern, Künstlern und Gelehrten, und diese schienen ihr weit wertvoller zu sein als Gold und Juwelen. Lewis konnte das nur bewundern.
„Neben ihr sitzt Karl Ludwig von Knebel, Erzieher des Prinzen Constantin und maßgeblicher Gestalter dieses Anwesens und der umliegenden Parklandschaften“, fuhr Wieland fort.
Lewis schätzte den Mann im senffarbenen Rock auf Ende vierzig, doch dessen verdrießlicher Blick, die hohe Stirn und der verkniffene Mund ließen ihn älter erscheinen.
„Eine recht kapriziöse Natur“, setzte Wieland hinzu. „Vielleicht auch deshalb mit Goethe so gut befreundet. Der sitzt, wie Sie sehen, direkt daneben.“
Kaum hatte Lewis zögerlich, da ihm dessen Zurechtweisung noch in den Ohren klang, seinen Blick auf den Geheimrat gerichtet, da ruckte Goethes Kopf auch schon eine wenig zur Seite, und seine Augen schienen ihn direkt anzufunkeln. Lewis sah rasch nach unten. Er wusste nicht zu entscheiden, ob die folgende Bewegung ein schulmeisterliches Kopfschütteln war oder ob sich Goethe nur zum Takt des Liedes wiegte. Sicher war er nur, dass er das Wohlwollen, das ihm der Geheimrat am vorigen Tag entgegengebracht hatte, nun wieder verspielt hatte. Es graute ihm davor, Goethe gegenüberzustehen, und die Frist bis zu dieser Begegnung schwand mit jeder Note aus der Kehle Corona Schröters. Lewis hob den Blick vorsichtig und sah, dass Goethe sich wieder abgewandt hatte. Er nickte kurz einer kleinen Frau zu, die neben ihm auf einem Stuhl saß. Lewis sah diese im Profil, und hätte ihn nicht schon die markante Nase und die vorspringende Mundpartie aufmerksam gemacht, so ahnte er doch noch mehr, als er sah, wie ein Buckel unterhalb des Nackens hervorsprang, der mit dem cul de Paris des veilchenblauen Kleides wetteiferte.
Wieland schien bemerkt zu haben, wie Lewis’ Schultern sich versteiften. „Master Lewis, entweder Sie haben die unelegante Angewohnheit, Menschen nach ihrem Äußeren zu beurteilen, oder der gute, geschwätzige Böttiger hat Sie mit Informationen versorgt, die ebenso furchtbar wie übertrieben waren.“ Er schnalzte leise mit der Zunge. „Aber wie auch immer, Sie haben richtig erkannt, das ist das Fräulein von Göchhausen. Sie werden sie nachher wohl oder übel kennenlernen müssen und sich selbst einen Eindruck verschaffen.“
Lewis nickte automatisch.
„Die anderen Herren sitzen leider mit dem Rücken zu uns, aber ich kann Ihnen nichtsdestoweniger sagen, dass der Herr im gestreiften Frack mit großer Sicherheit Friedrich Bertuch ist. Er wird gern der Tatsache gerecht, dass er mit Kraus zusammen das Journal des Luxus und der Moden begründet hat, also sehen Sie ihm die Farbkombination nach.“
Lewis konnte nichts Schlimmes an den blauen und cremefarbenen Streifen des Stoffes finden, vielleicht waren die dünnen Linien Rot dazwischen etwas zu extravagant. Dagegen war der letzte der Männer im Raum umso strenger gekleidet. Lewis sah nur den schwarzen Rock und den hellen Kragen, auf den der eisgraue Zopf fiel. Er wartete, dass Wieland etwas anmerken würde, aber diesmal war es Herder, der sprach. „Das ist mein Vater, Johann Gottfried von Herder.“ In diesen wenigen Worten klang so viel Ehrfurcht und Liebe des Sohnes zum Vater mit, dass es Lewis mit Trauer und auch Neid erfüllte. Er hätte nie derart von dem Sekretär des Kriegsministeriums sprechen können, dem er vor siebzehn Jahren als Sohn geboren worden war.
Als mit einem Mal Corona Schröter ihren Gesang beendete und die Zuhörer dezent applaudierten, war Lewis froh, nicht solcherlei Gedanken nachhängen zu müssen.
„Nun“, hörte er Wieland sagen. „Jetzt kommt Ihr Auftritt.“ Lewis, der sich bereits, ohne Nerven zu zeigen, auf dem Parkett von Paris und Wien bewegt hatte, schlug das Herz bis zum Hals. Im Empfangszimmer scharrten die Stuhlbeine leise.
Bertuch und der alte Herder präsentierten sich nun im Profil, doch bevor Lewis sie auch nur genauer in Augenschein hätte nehmen können, traten sie zur Seite, und zwischen ihnen erschien die hohe Gestalt Goethes, der mit weitgreifenden Schritten auf die drei Spätankömmlinge zuging.
Lewis schoss vom Stuhl empor, halb, weil Goethe sich so schnell näherte, halb, weil er für einen kurzen Moment einen Blick der Herzoginmutter auf sich erhascht hatte. Aus dem Augenwinkel sah er neben sich auch Wieland und den jungen Herder aufstehen.
Nun war Goethe heran und baute sich vor den dreien auf. Er sah von einem zum anderen, wobei er bei Herder begann, ihn kurz nickend grüßte, was dieser mit leichtem Diener erwiderte. Dann hob er Wieland gegenüber die Brauen und richtete schließlich seine ganze Ausdruckskraft auf Lewis. Dies dauerte nur wenige Lidschläge an, und doch schien es Lewis wie eine Jahreszeit, vornehmlich eine mit Frost, Sturm und Dunkelheit. Dann öffnete Goethe den Mund und fragte, ohne den Blick von Lewis zu wenden: „Wieland, sag mir, warum diese Verspätung deinerseits, warum das tolldreiste Gebaren von Seiten Master Lewis’, und warum hat der junge Herder Schlamm an seinen Hosen?“
Wieland blies die Backen auf, während Herder so unauffällig wie möglich seine Beinkleider betrachtete. „Teurer Freund, die Narretei magst du allein mir kaum glauben, weswegen ich sie für später aufzuheben gedenke. Momentan scheint es mir sinniger, den Kernpunkt der Aufmerksamkeit allen hier bekannt zu machen.“ Er hob das Kinn, und als Goethe sich halb umwandte, sah der die Gesellschaft im angrenzenden Zimmer mit verhaltener Neugier in seine Richtung blicken.
Goethe blitzte Lewis an. „Nun denn. Folgen Sie mir, junger Herr aus England.“
Dann drehte er sich auf dem Absatz um und schritt mit leicht ausgebreiteten Armen in den Gesellschaftsraum, zwischen den Wartenden hindurch, bis er vor Anna Amalia stehenblieb. Er dienerte leicht und drehte sich mit der gleichen Bewegung zurück zu Lewis, wobei er eine große Geste vollführte. „Verehrte Fürstin, ich erlaube mir, Ihnen vorzustellen: Matthew Gregory Lewis, Engländer und angehender Poet, zurzeit hier in Weimar, um sich zu bilden und bilden zu lassen.“ Er lächelte auf eine Art, die Lewis gern als hinterhältig bezeichnet hätte, wäre es ihm in den Sinn gekommen, eine solche Eigenschaft mit Goethe zu verbinden. So wich aber jeglicher Gedanke aus seinem Kopf, als er das Spalier aus Gästen durchschritt, immer näher auf die noch immer sitzende Herzoginmutter zu. Schließlich stand er vor ihr und verneigte sich tief.
„Your Highness ...“, begann er und merkte zu spät, dass er in seine Muttersprache verfallen war. Er versuchte, sich zu erinnern, wie Goethe die Herzoginmutter angesprochen hatte, doch es gelang ihm nicht. Er blickte betreten auf, um zu sehen, wie Anna Amalia im Licht des Sonnenunterganges, das durch die Fenster fiel, huldreich lächelte.
„Ich möchte Ihnen nachsehen, wie Sie in unsere Runde getreten sind. Ich bezweifle nicht, dass es Gründe gab, weswegen Sie sich so verhalten haben, und da wir hier weilen, um den Musen zu huldigen, sollten Sie es nicht versäumen, uns diese Geschichte zu berichten. Seien Sie also willkommen in meinem Tibur.“
Lewis sah Anna Amalia an und lächelte schief. Es war nicht allein das bescheidene, gütige Auftreten, das ihn sogleich für diese Frau einnahm, die so herrschaftlich und warmherzig zugleich schien. Nein, er verspürte auch sogleich eine tiefe Sympathie für die Herzoginmutter, da sie ebenso wie er mit dem Namen dieses Ortes zu kämpfen hatte. So schien es ihm zumindest, denn er konnte nicht wissen, dass sie wie gewöhnlich den umgänglicheren Namen für den Ort Tiefurt gewählt hatte, als sie von Tibur sprach, und so antwortete er: „Ich bin sehr geehrt und erfreut, dass ich dieser luminösen Gesellschaft hier in Tibur beiwohnen darf.“
Die luminöse Gesellschaft hieß Lewis willkommen, indem sie über die vorwitzige Art des jungen Engländers lachte, der es scheinbar wusste, sich furios einzuführen und das Ganze nonchalant abzutun.
In der folgenden Stunde hatte Lewis sich in allerlei Gesprächen zu behaupten. Nach Ablauf dieser Zeit sollte nämlich, wie Goethe verlauten ließ, ein noch höheres Aufsehen erregender Gast die Gesellschaft beehren und dann, wenn auch nicht mit seiner Persönlichkeit, so doch mit seinem Können die Anwesenden verblüffen. Momentan jedoch befand sich Lewis inmitten des Musenzirkels, dessen Mitglieder sich zwar auch mit den üblichen Gesprächen über Literatur und Lyrik unterhielten, vorrangig jedoch darauf warteten, selbst einige Worte mit dem Neuankömmling zu wechseln. Lewis war froh, dass auch Wieland und der junge Herder am Abenteuer mit der beinahe umgestürzten Kutsche teilgenommen hatten und er diese Geschichte somit nicht jedem seiner Gesprächspartner selbst berichten musste. Im Übrigen vermochte Wieland diese Episode noch fabelhafter auszuschmücken, als er es – selbst mit Hilfe allen Weins der Weimarer Keller – gekonnt hätte, und auch der junge Herder vermittelte das Erlebnis schon jetzt mit der chirurgischen Präzision, die ihm als künftigem Arzt dienlich sein würde. Abgesehen von der Tatsache, dass die Pflicht der Wiederholung von ihm genommen war, schätzte sich Lewis glücklich, dass durch das Kutschenereignis ein wenig Aufmerksamkeit von seiner Person genommen wurde.
Dennoch atmete er tief, als sich seine erste Begegnung mit einem Mitglied des Musenkreises anbahnte. Goethe hatte ihn zuvor beiseite genommen und ihm unmissverständlich mitgeteilt, er sehe keinen Anlass, Lewis den Anwesenden bekannt zu machen. Das möge er doch bitte selbst tun. Goethe wolle den Damen und Herren dies gern mitteilen, um nicht den Eindruck der Unmanierlichkeit zu erwecken, aber damit wolle er es auch bewenden lassen. Lewis hatte wohl oder übel eingewilligt, und nun kam Karl Ludwig von Knebel ebenso zielstrebig und rasch auf ihn zugeschritten wie zuvor Goethe, nur dass die Bewegungen von Knebels etwas unverkennbar Militärisches an sich hatten. Der mürrische Blick, den er während der Rezitationen Corona Schröters zur Schau gestellt hatte, war geblieben, wie Lewis mit Unbehagen feststellte. Er grüßte mit zackigem Nicken, und als er sprach, bewegten sich seine schmalen Lippen kaum, von den genauso schmalen Brauen ganz zu schweigen. „Major von Knebel, angenehm!“
„Der Erzieher des jungen Prinzen Constantin“, entsann sich Lewis der vorangegangenen Lektion Wielands.
Knebel war offenkundig geschmeichelt, und seine Miene hellte sich auf, die harte Querfalte auf der Nasenwurzel glättete sich. „In der Tat“, versetzte er schmunzelnd. „Ich versuchte, all das, was der Herr Geheimrat dem jetzigen Herzog vermittelte, gleichermaßen auch dessen jüngerem Bruder angedeihen zu lassen.“
„Dann genoss der Prinz also eine doppelte Erziehung.“
„Ein interessanter Ansatz.“ Von Knebel sah Lewis prüfend an. „Dennoch möchte ich sagen, da ich mit meinem Freund Goethe so manches Interesse teile, war diese Erziehung aus einem Guss.“ Er sah kurz in Richtung Fenster. „Aber sagen Sie, Sie als Engländer – was halten Sie von diesem Anwesen? Wie Sie vielleicht bemerkt haben, ist die Parklandschaft nach englischem Vorbild gestaltet.“
Lewis konnte sich des Verdachtes nicht erwehren, dass von Knebel nach Komplimenten fischte. „Oh“, entgegnete er. „Nach dem Wenigen, das ich am Ende unserer turbulenten Anfahrt davon habe sehen können, ist alles ganz trefflich gelungen.“
„Das von einem zu hören, der es aus erster Hand wissen muss, ehrt mich besonders!“ Von Knebel strahlte, und mit einem Mal wirkte er um Jahre jünger. „Sie müssen wissen, dass ich vor nahezu zwanzig Jahren Paris besuchte – nun ist dies ja nicht mehr zu empfehlen –, und die dortige Parkgestaltung sagte mir gewiss nicht zu.“
Lewis begrüßte diese Wendung im Gespräch und redete nun seinerseits über Paris, worauf von Knebel wiederum das eine oder andere zu berichten wusste. Dieser Erfahrungsaustausch ging so lange hin und her, bis sich der buntgestreifte Frack näherte, in dem Friedrich Justin Bertuch steckte. Er gesellte sich ohne große Vorrede zu ihnen.
„Ich habe mir erlaubt, ein paar Fetzen Ihrer Unterhaltung aufzuschnappen, aus denen hervorging, dass Sie über Paris reden!“ Dabei lächelte er gewinnend, was seinen Zügen entgegenkam, die nicht unbedingt feist waren, aber doch unverkennbar zu einem Genussmenschen gehörten. Sein Kinn war gerundet und wirkte immer wie neugierig vorgereckt. Auch die Nasenspitze schien äußerst rund, und unter den dichten Brauen schauten warme Augen ein wenig schläfrig hervor.
„Paris! Oh, ich schätze den Luxus und die feine Hofetikette über alle Maßen. Hier geht es manchmal etwas preußisch zu, nicht wahr, Knebel?“
„Ja, ja ...“, brummte der, und mit einem Mal war wieder der griesgrämige Ausdruck auf seinem Gesicht erschienen. Er wandte sich an Lewis. „Ich werde zu Herrn Wieland gehen, den habe ich noch nicht begrüßt. Ich denke, Herr Bertuch hier wird Sie gut unterhalten.“ Dann machte er auf dem Absatz kehrt und ging.
Bertuch schien es nicht zu bemerken, sondern redete sogleich auf Lewis ein. „Ja, recht hat er, zu Wieland zu gehen. So ein fabelhafter Mensch. Sie hatten ja auch schon die Freude, ihn kennenzulernen, nicht wahr? Ja sicher, Sie kamen ja zusammen an. Ein furioser Auftritt übrigens, Respekt! Mit soviel Schwung, obgleich man doch allgemein über das eher lethargische Temperament der Engländer zu berichten weiß. Aber wie so oft ist doch allein die eigene Anschauung die wahre, da stimmen Sie mir sicher zu.“
Lewis schwirrte der Kopf. Dieser Bertuch war reichlich überspannt, und schnell sprach er obendrein. Zumal hatte er die bizarre Angewohnheit, sich ein wenig schief zu halten und seinem Gegenüber vorrangig die linke Seite entgegenzurichten. Er glaubte wohl, dass diese die attraktivere Hälfte seiner selbst wäre. Es schien Lewis erstaunlich, dass dieser Geck der herzogliche Schatullenverwalter war. Ob er in Gelddingen den nötigen Ernst walten ließ, sofern es nicht um Äußerlichkeiten ging, für die es Geld auszugeben galt?
„Ja, sicher“, sagte Lewis langsam.
Bertuch blinzelte und rückte seine linke Seite etwas näher heran. „Aber was von alldem bejahen Sie denn nun? Dass Sie Wieland schätzen, Wieland kennen? Dass Engländer gemeinhin lethargisch sind, Sie aber nicht? Dass man sich möglichst ein eigenes Urteil bilden sollte?“
Lewis wusste nichts zu entgegnen. Immerhin erkannte er, dass Bertuch klug war und sich nicht mit Unverbindlichkeiten abspeisen ließ.
Bertuch hob den Finger. „Ach, Verzeihung, wie konnte ich Sie derart mit Worten überfallen! Sie sind ja erst kurze Zeit in Deutschland, wie kann ich da verlangen, dass Sie einer solchen Kanonade von Wörtern gewachsen sind!“
„Oh, es ist alles richtig“, sagte Lewis schnell und spürte, dass er nicht die passende Formulierung getroffen hatte, denn einen Moment stutzte Bertuch. Ehe Lewis sich jedoch verbessern konnte, sprach sein Gegenüber weiter.
„Ich selbst habe mir vor Jahren mit geradezu rastlosem Aufwand das Spanische beigebracht. Bis tief in die Nächte hinein las und lernte ich, und nach sechs Wochen hatte ich die drei Bücher des Don Quixote absolviert und die Sprache vollkommen inne. Ah, was waren das Götternächte, durchwacht im Genuss Cervante’schen Witzes!“ Er sah schwärmerisch zur Decke. Als er Lewis wieder anblickte, blinzelte er erneut. „Allerdings hat sich die Natur dafür gerächt. Ich bekam heftiges Fieber und eine über alle Maßen gefährliche Augenentzündung, so dass ich einige Wochen gar nichts sehen konnte und besorgt war, ich könnte erblinden! Seit dieser Zeit ist mein rechtes Auge schwach und kurzsichtig, während ich mit dem Linken ein Presbyope bin.“
Lewis fragte sich, was dieser Begriff wohl wieder bedeuten mochte, gab sich aber damit zufrieden, dass er nun wusste, warum Bertuch solch eine seltsame Körperhaltung annahm.
„Seitdem pflege ich zuweilen im Scherz zu sagen, mein rechtes Auge sei das Lehrgeld für die spanische Sprache gewesen.“ Er lachte. „Und Sie, mein guter Engländer, was sind Sie bereit, für die deutsche Sprache zu geben?“
Lewis schluckte, und ihm schossen die Schrecklichkeiten der vergangenen Nächte durch den Kopf. Natürlich war es nicht klug, sich diesbezüglich zu offenbaren, aber er glaubte doch, in Bertuch einen verständigen Geist gefunden zu haben, und so erzählte er, mit etlichen Abstrichen natürlich, um sich nicht als gar zu seltsam erscheinen zu lassen, was ihm bei seinen bisherigen Studien widerfahren war.
Bertuch lauschte interessiert, vor allem dem Part über die literarischen Ambitionen, die Lewis hegte, und ließ verlauten, dass er selbst an allerlei verlegerischen Unternehmungen beteiligt sei, von den eigenen dichterischen Dingen ganz abgesehen. Erst im vergangenen Jahr habe er das Landes-Industrie-Comptoir gegründet, in dem er nach und nach ein großes Unternehmen mit Druckerei, Lithographieanstalt, Manufaktur und Handel einzurichten beabsichtige. Falls Lewis Interesse habe, möge er ihn und seine Familie doch in seinem Anwesen vor dem Tore einmal besuchen.
„Übrigens hat Schiller mein Zuhause schon vor fünf Jahren unstreitig als das schönste Haus in ganz Weimar bezeichnet und gelobt, mit wie viel Geschmack es gebaut und wie vortrefflich möbliert es sei!“ Bertuch warf sich in die befrackte Brust, dass die bauschige Spitze des Halstuches bebte.
Dann sanken seine Mundwinkel jäh. Lewis sah, wie Bertuchs Blick an seinem Kopf vorbeiwanderte und glaubte zunächst an eine weitere Auswirkung von dessen Sehschwäche, als er spürte, wie sich jemand von hinten näherte. Es waren gemessene Schritte, aber doch kraftvoll und zielstrebig, und als Lewis sich umdrehte, sah er die dunkel gekleidete Person Johann Gottfried Herders auf sich zuschreiten. Auch wenn er ihm nicht vorgestellt worden war, so erkannte er doch die Ähnlichkeit zwischen Vater und Sohn, wenn auch dieser hier dreißig Jahre älter war. Um die dunklen Augen spielten deutliche Fältchen, Linien zogen sich von den Flügeln der fein geschwungenen Nase zum Mund, der noch immer volle Lippen hatte, unter denen sich allerdings schon ein weiches Doppelkinn zeigte. Und das Haar zog sich bereits von der Stirn zurück. Herder wirkte freundlich auf Lewis, der sich sowohl der warmen Worte Böttigers erinnerte als auch der persönlichen Begegnung mit dem jungen Herder, und so lächelte er, als sich der Hofprediger näherte.
„Na, Bertuch?“, schnarrte Herder mit Kanzelstimme, als er heran war. „Protzt Ihr wieder mit Eurem kleinbürgerlichen Interieur? Was mag es den jungen Mann hier kümmern, dass Ihr großen Luxus treibt und Euch sogar einen prächtigen Nachtstuhl habt machen lassen? Es war schon recht, dass der Herzog damals Eure Tapeten zerhauen und zerstochen hat, als er mit Goethe das erste Mal zu Euch kam. Zu schade, dass Ihr ihn habt davon abbringen können, auch Eure Spiegel zu zertrümmern, und geschickt, wie Ihr seid, habt ihr Goethen eine Träne und dem Herzog eine Abbitte abgerungen, indem Ihr daraufhin den Sterbenskranken markiertet.“
Bertuch sah Herder fest ins Auge und ließ sich nicht anmerken, wie sehr dieser ihn verletzte. Lewis stand stocksteif daneben, hatte sein Lächeln verschluckt und wünschte, der Fußboden täte sich unter ihm auf, damit er dies nicht weiter mit anhören musste.
Aber Herder sprach weiter, schlug sogar noch einen härteren Ton an, allerdings ohne dabei laut zu werden. „Geht jetzt besser, geht zu Goethe und belästigt diesen jungen Mann hier nicht mit Eurem Getue, damit er nicht verdorben wird.“
Bertuch presste die Lippen aufeinander und wandte sich ab, ohne Lewis noch einmal anzusehen.
Dann nahm Herder den jungen Engländer in Augenschein. Mit einem Mal wurde sein Tonfall sanft, beinahe salbungsvoll. „Du bist also der junge Lewis. In Weimar, um Sprache und Kultur zu lernen. Mein Sohn hat mir schon von dir erzählt. Du seiest klug und umgänglich, was gute Eigenschaften sind, und hier zu lernen wird dir auch gut bekommen, denn ich will’s dir offen sagen, gerade ins Gesicht, wie sich’s gehört, und ohne herumzukriechen: Ich habe einen großen Widerwillen gegen euch Engländer.“
Lewis spürte, wie sich seine Kehle zuschnürte. Da stand dieser dunkel gekleidete Mann, der soeben mit argen Worten Friedrich Justin Bertuch vergrault hatte, und nun ging er auch noch ihn an, ganz abgesehen davon, dass er ihn allzu vertraulich ansprach. Das sollte der liebenswürdige Mann sein, von dem Böttiger geschwärmt hatte?
Herder wandte den Blick keinen Lidschlag von Lewis ab. „Ihr Engländer habt nicht die Anmut der Italiener oder der Schweden, ihr habt die Schwäche der nordischen Völker, die Worte faul und abgeschliffen auszusprechen, und ihr habt außer Shakespeare keinen Poeten hervorgebracht, weil ihr nur ungereimte Gedanken habt. Ihr könnt kein Bild in seiner Gesamtheit erfassen.“
Lewis bebte. Was sollte nun noch kommen? Bei jedem der harten Worte Herders war er zusammengezuckt, und doch wollte er kaum glauben, wie ihm geschah.
„Also sei aufmerksam, junger Engländer. Hier in Weimar kannst du lernen, was du brauchst. Arbeite hart und ...“
Plötzlich drängte sich eine kleine Gestalt neben Lewis. Aus den Augenwinkeln sah er ein veilchenblaues Kleid und schloss kurz die Augen. Die Göchhausen. Das böse Weib hatte gewittert, in welcher Bedrängnis er war und war herangeeilt, um ihm den Rest zu geben. Er atmete schwach ein und ergab sich seinem Schicksal, als er ihre Stimme hörte, die für eine solch verwachsene Person sehr melodisch klang. Der Ton aber war schneidend.
„Herr Herder! Haben Sie in unserem jungen Gast ein Opfer gefunden? Das sieht Ihnen ähnlich. Aber leider muss ich Sie bitten, von Ihrer Beute abzulassen und sich zur Herzoginmutter zu begeben. Sie verlangt nach Ihnen. Also denn, beeilen Sie sich!“
Herder schien all die Spitzen überhört zu haben, denn er verzog keine Miene. Lewis bemerkte, wie sehr die Göchhausen die Anrede betont hatte, als wollte sie damit etwas Besonderes ausdrücken. Als sie die Herzogin erwähnte, wandte er sich zum Gehen, jedoch nicht, ohne Lewis noch einmal ernst anzublicken. „Arbeite hart und lerne!“ Dann ging er.
„Amen“, schloss die Göchhausen spöttisch und feixte, was Lewis zunächst entsetzlich erschien, bei ihrem breiten Mund und ihrem vorspringenden Kinn, ihm aber in Anbetracht der Umstände dann doch ebenfalls ein Lächeln entlockte.
„Sie Armer“, begann die Göchhausen. „Ausgerechnet heute mussten Sie hier zu Gast sein, heute, wo Herder wieder mal gar nicht gut gelaunt ist.“
„Dann hasst er Engländer nur an manchen Tagen?“, fragte Lewis vorsichtig.
Fräulein von Göchhausen lachte herzlich, aber damenhaft. „Nein“, sagte sie. „Er mag sie nie. Aber an manchen Tagen vermag er sich nicht zurückzuhalten. Bei den Treffen, zu denen der Kaufmann Gore samt Tochter anwesend ist, kann er seinen Ekel zügeln. Aus guten Gründen, denn ...“ Sie sah Lewis schalkhaft an. „Wie ich hörte, logieren Sie bei Böttiger. Somit muss ich mich nicht mit Klatsch befassen, ich denke, der Gymnasialdirektor wird Sie wohl aufgeklärt haben, was Emily Gore und unseren Herzog angeht ...“
Lewis nickte. „Ich vermeine, mich an so etwas zu erinnern, in der Tat. Es fiel, glaube ich, in Zusammenhang mit dem Herrn Geheimrat Goethe ...“
„Richtig, die Angelegenheit mit dem Häusertausch, wenn man es so nennen mag. Ich sehe, Sie sind gut unterrichtet. Außer möglicherweise über Herrn Herder, wie mir scheint. Denn ich gehe davon aus, dass Ihnen Herr Böttiger über seinen Gönner nur das Beste zu berichten wusste und die etwas unangenehmeren Dinge ausließ. Eine Abwägung, die er nicht immer vornimmt.“
„Da haben Sie recht.“
„Dann lassen Sie mich einige Erklärungen nachreichen, damit Sie nicht ganz so schlecht auf Herrn Herder zu sprechen sind, auch wenn er Sie so angefahren hat.“
„Oh, ich verübele Herrn Herder doch nicht seine Vor- oder Misslieben, das steht mir nicht zu.“
Fräulein von Göchhausen hob einen spitzen Finger. „Das tut nichts zur Sache. Ihnen ist als – wenn auch intelligenter und sehr fortgeschrittener – Neuling in unserer Sprache doch sicher nicht das Spiel entgangen, das Herr Herder mit seinen Anreden vollführt hat?“
„Oh ja, doch ich dachte mir kaum etwas dabei. Es schien, als wollte er Herrn Bertuch durch die gehobene Anrede besonderen Respekt erweisen ...“
„Nein. Er hält Bertuch für einen Zierbengel. Diese Abneigung scheint er noch aus seiner Zeit in Königsberg mitgebracht zu haben, wo er Schüler Kants war ...“
„Wessen bitte?“, fragte Lewis verwirrt.
„Immanuel Kants, des Philosophen. Sie haben gewiss von seinen Kritiken der Vernunft gehört?“
„Natürlich“, sagte Lewis. „Natürlich.“
„Kant war damals ein ziemlicher Mann von Welt, ein Galan, der bordierte Gewandung trug, gern alle Schneider besuchte und bei ihnen auch gern gesehen war. Er war extrem gesellig und hielt Herder, der ständig über seinen Büchern brütete, an, es ihm gleich zu tun, da man sich nur in der Welt bilden könne.“
„Ich brüte auch über Büchern. Wenn nicht, könnte ich mich nicht mit Ihnen unterhalten.“
„Aber Sie könnten sich auch nicht mit mir unterhalten, wenn Sie bei sich in England geblieben wären. Oder bei den Böttigers.“
„Ja, natürlich ...“ Lewis begann, das Fräulein von Göchhausen mehr und mehr zu schätzen. Sie war klug und redete erfreulicherweise nicht allein von sich. Wenn sie auch dem offenbar in Weimar üblichen Benehmen frönte, über andere viel und detailliert zu sprechen.
„Aber ich schweife ab“, sagte Fräulein von Göchhausen. „Herder hat Bertuch geihrzt, wie ich es nennen möchte, Ihnen gegenüber aber das Du angeschlagen ...“
„Ich dachte, dies sei Höflichkeit mir gegenüber. Schließlich verwendet die englische Sprache nur diese Vokabel zur Anrede. Sie können mir glauben, wie schwierig es für mich ist, immer das Sie zu benutzen. Ich bin fast froh, noch keine näheren oder niederen Bekanntschaften gemacht zu haben, so dass ich gezwungen wäre, je nach Person die Anrede zu wechseln.“
„Oh nein. Auch wenn der Gedanke etwas für sich hat, von Ihrer Warte aus betrachtet, so muss ich Ihnen doch sagen, dass es sich anders verhält. Wir benutzen das Siezen erst seit kurzer Zeit. Es scheint uns modisch und vor allem erfreulich gleichstellend – etwa wie die einheitliche Anrede in Ihrer Muttersprache. Herr Herder aber wehrt sich heftig dagegen. Er besteht auf dem Du und dem Ihr, da nur dies die wahre Gebrauchssprache sei, bei der man den Menschen ins Gesicht sehe. Mit der dritten Person kröche man um den andern herum.“
„Das Wort hat er tatsächlich verwendet!“, erinnerte sich Lewis.
„Sehen Sie, so verhält es sich mit Herrn Herder“, nickte sie.
„Aber ist es nicht brillant, wie sehr ihm an dem angemessenen Umgang mit den Menschen gelegen ist? Ein echter Philosoph!“
„Schön, dass Sie es so sehen. Er geht sogar weit über das Menschliche hinaus. Ich darf Ihnen sagen, dass er sich auch auf den Umgang mit Schweinen versteht und große Stücke auf deren Würde, Anmut und Republiktreue gibt.“
Lewis schaute skeptisch. „Sie scherzen ...“
„Keinesfalls. Aber diese Anekdote lassen Sie sich besser von Herrn Wieland erzählen, der hatte nämlich den diesbezüglichen Disput mit Herrn Herder, und ich denke, er vermag das auch sehr amüsant zu tun. Sie können mir sicher beipflichten, Sie haben ja sowohl Wieland als auch Herrn Herders jüngere Inkarnation kennengelernt. Ein angenehmer junger Mann übrigens.“
„In der Tat“, stimmte Lewis zu und blickte an Fräulein von Göchhausen vorbei in den Raum hinein, um nach dem jungen Herder zu suchen. Er sah ihn neben Corona Schröter stehen und sich angeregt mit ihr unterhalten. Mit einem Mal blickten beide in seine Richtung, als sei er das Thema ihres Gespräches. Corona Schröter lächelte ihm zu, beugte sich zu Herder, als sagte sie ihm etwas Intimes, und kam dann auf Lewis zu. Herder blickte ihr kurz nach und ging dann zu Wieland hinüber. Lewis sah die Primadonna nahen und wandte sich aufgeregt Fräulein von Göchhausen zu. „Sagen Sie ...“
Die Angesprochene hatte aber schon bemerkt, dass Lewis abgelenkt gewesen war, und in die gleiche Richtung geschaut. Jetzt verzog sie in gespielter Spöttelei das Gesicht. „Es scheint, als würde eine gewisse Dame mit Ihnen ein paar Worte darüber wechseln wollen, dass Sie sie so ungebührlich unterbrochen haben. Schlagen Sie sich tapfer.“ Sie trat einen Schritt zurück.
„Oh, bleiben Sie doch noch ...“
„Um Ihnen beizustehen? Nein, Herr Lewis. Wie hieß es so schön: Man kann sich nur in der Welt bilden, und das heißt auch: allein!“ Dann raschelte sie in ihrem veilchenblauen Kleid davon, freundlich nickend, als sie Corona Schröter passierte.
Es schien Lewis, als tausche er die Gesellschaft eines Veilchens mit der einer Rose ein, so unterschiedlich waren die Frauen, und das nicht nur wegen der Farbe ihrer Gewänder. Corona Schröter schwebte auf ihn zu und sah ihn dann an, während Sie eine kreisende Bewegung mit dem Kopf vollführte, die distanziert und herrisch wirkte, aber gleichzeitig kokett ihre Züge zur Schau stellte. Lewis bemerkte, wie tief und klar ihre hellbraunen Augen waren und wie gütig diese gewirkt haben könnten, hätten sie ihn nicht so gemustert.
„Herr Lewis!“, begann Corona Schröter, und dies genügte, um den jungen Engländer ahnen zu lassen, was nun folgen würde. Es kam ihm in den Sinn, wie sträflich er sich durch all die Gespräche mit anderen Gästen davon hatte ablenken lassen, bei der Sängerin für sein unziemliches Auftreten um Verzeihung zu bitten.
„Madame Schröter?“ Mehr brachte er nicht heraus, und dünn klang es noch dazu.
„Was haben Sie zu Ihrer Entschuldigung vorzubringen, meinen Vortrag so unterbrochen zu haben?“ In ihren Augen blitzte es zornig auf. Möglicherweise war es aber nur eine Reflektion, da gerade ein Hausdiener die Kerzen des Deckenleuchters entzündete. Das in die Räume fallende Licht war inzwischen sehr schwach geworden. Corona Schröter stand in Lewis’ Blickrichtung genau vor dem Lüster, und die aufflackernden Flämmchen ließen das Haar der Primadonna unirdisch erstrahlen.
„Ich fühle furchtbares Bedauern für diesen Vorfall und erbettele Ihre Vergebung, aber die Zwischenfälle auf der Reise ...“ Lewis spürte an seinem Deutsch, wie peinlich berührt er war. In solchen Fällen vermochte er seine englischen Gedanken nur stammelnd umzusetzen.
„Ich habe indessen von diesen Zwischenfällen gehört“, unterbrach ihn die Sängerin. „Aber dessen ungeachtet rechtfertigen sie nicht Ihr Hereinstürmen. Ganz zu schweigen von dem Affront der Herzoginmutter gegenüber, derart in ihre Räume einzudringen.“
„Aber ich glaubte, Laute der Bedrängnis zu hören, und da diese mysteriösen Reiter ...“
Die Schröter atmete so tief ein, dass ihr Dekolleté ebenso in bebenden Zorn zu geraten schien, wie ihre Nasenflügel es taten. Dennoch wurde sie nicht laut, sondern füllte ihre Stimme mit durchdringender Schärfe. „Sie wagen es, meine Kunst mit Angst-, ja Todesschreien zu vergleichen?“
Lewis wollte die Hand vor den Mund schlagen, doch seine Finger schienen wie mit Pech an die Rockschöße geklebt, an denen sie nervös gezupft hatten. Es war schon heikel genug, die eindrucksvolle Gestalt Corona Schröters so dicht vor sich zu sehen, wie konnte er also auch nur im Ansatz eine solch peinliche Situation meistern?
„Ich ...“ Lewis wusste nichts zu antworten. Zum Glück fuhr die Sängerin fort, ehe weiteres Unbedachtes über seine Lippen kam.
„Es scheint, als seien Sie in den Musen nicht allzu bewandert. Es wäre Ihnen anzuraten, zur neuen Saison regelmäßig das Schauspielhaus in Weimar zu besuchen!“
„Wie ...?“ Lewis war verblüfft, wie schnell sich der Ausdruck auf dem Antlitz der Primadonna gewandelt hatte. Hatte sich zuvor hochmütige Überheblichkeit gezeigt, so spielte jetzt ein Lächeln um ihre Lippen und ließ sie lieblich erscheinen.
„Seien Sie unbesorgt, ich trage Ihnen nichts nach. Zum einen, weil mir Herr Wieland die Umstände berichtet hat. Zum anderen, weil er mir ebenso erzählt hat, was Sie gemeinhin umtreibt. Schließlich sind Sie noch jung – und als letztes: Mein Bruder lebt seit über zehn Jahren in London und weiß mir stets einiges über Ihre englischen Landsleute zu berichten.“ Sie zwinkerte durch und durch undamenhaft. Als sie Lewis’ wie vom Donner gerührtes Antlitz sah, machte sie eine elegante, beschwichtigende Geste und schlug einen Konversationston an.
„Sie haben vielleicht von Johann Samuel Schröter gehört, dem Komponisten?“
„Nein, bedaure.“ Lewis begann, sich etwas warm zu fühlen. Möglicherweise waren es nur die Kerzen im Raum, die mittlerweile alle entzündet waren und nicht nur Licht, sondern auch Hitze verbreiteten.
„Dann wäre es Ihnen anzuraten, nach Ihrer Rückkehr in die Heimat auch die dortigen Schauspielhäuser regelmäßig zu besuchen.“
„Ich verspreche es Ihnen, und gern versuche ich, Ihrem Herrn Bruder Grüße von Ihnen zu überbringen.“ Lewis spürte, dass er dringend aus seiner defensiven Gesprächsposition ausbrechen musste.
„Wie aufmerksam.“ Die Schröter lächelte so herablassend, wie er es höchstens Wieland zugetraut hätte. Dann deutete sie einen Knicks an. Lewis wusste nicht, wie ihm geschah. Er wollte gerade eine Frage stellen, als Goethe herantrat.
Dem Anschein nach hatte er die Szene aus der Entfernung beobachtet. Seine Brauen trafen sich nahezu über der Nase, sein grimmer Ausdruck erschreckte Lewis.
„Crone“, zischte er und gebrauchte damit offensichtlich einen Kosenamen, der dem Tonfall nach zu urteilen aus längst vergangenen Tagen stammte. „Lass den jungen Lewis in Frieden. Spiel nicht mit ihm. Deine Saison ist vorüber, das müsstest du wissen.“
Corona Schröter warf den Kopf herum. Sie hielt Goethes Blick stand, wenn Lewis auch ein Zucken in einem Augenwinkel zu bemerken glaubte. Auch sie sprach nur gedämpft, wenn auch nicht weniger scharf. Lewis hatte zuvor offenkundig nur einen kleinen Bruchteil dessen erlebt, wozu die Primadonna stimmlich fähig war.
„Der Herr Geheimrat Goethe hat den jungen Lewis vor kürzester Zeit noch zurechtgewiesen, als er eine gewisse Aufführung unterbrach. Wozu also der Sinneswandel?“
Goethes Augen wurden schmal. „Weil man ein letztes Engagement mit dem nötigen Respekt verstreichen lassen sollte ...“
Corona Schröter wurde eine Nuance blasser, dann flog eine Wolke Zornesrot über ihre Wangen. Lewis bemerkte mit Beklommenheit, dass er allzu dicht zwischen den beiden stand. Er spürte fast körperlich den Fluss von Energie, der von einer Person zur anderen überging, und zweifelte nicht daran, dass dieser zu früherer Zeit ganz andere Gefühlsregungen ausgelöst haben mochte. Goethe und Corona Schröter sahen einander noch einige Augenblicke an, dann reckte die Primadonna das Kinn.
„Gefangen zwischen Scylla und Charybdis. Ein heldenhaftes Dilemma, Herr Geheimrat. Möglicherweise gibt es eine göttliche Rettung, wie auf dem Theater. Guten Abend.“ Damit wirbelte sie herum, kam Lewis anblickend zum Stehen und sagte leise: „Auf bald.“ Dann rauschte sie hinfort, in die Richtung, wo sich Anna Amalia und das Fräulein von Göchhausen aufhielten.
Lewis versuchte, weder ihr nachzuschauen noch den Blick auf Goethe zu richten. Aus dem Augenwinkel erkannte er, wie dieser mit den Kiefern mahlte, so dass seine Wangen in sachte Bewegung gerieten. Dann warf Goethe den Kopf hoch und zog am Revers seines grünen Rockes. Lewis erschien er wie ein Weidmann, der sich seines Schusses sicher gewesen war, dem aber das Pulver auf der Pfanne abgeblitzt war. Als Goethe sich langsam ihm zuzuwenden begann, wurde Lewis schmerzlich bewusst, dass man Flinten nachladen und auf ein anderes Ziel richten konnte. Er hielt den Atem an.
„Nun, junger Master Lewis, was diese Sache vorhin angeht ...“
In diesem Moment klatschte Friedrich Justin Bertuch in die Hände. Ein Dienstbote, der ihm offenkundig etwas mitgeteilt hatte, entfernte sich gerade wieder. Die Anwesenden unterbrachen ihre Gespräche und wandten sich ihm zu. Auch Goethe, der Lewis noch ein „Später“ zuraunte, was diesem ein Aufatmen erlaubte, wenn auch nicht ganz so herzhaft, wie er es sich gewünscht hatte.
Bertuch hob die Hände wie ein Schausteller, und die bunten Streifen seines Fracks schlugen muntere Wellen.
„Ich habe die Ehre und die Freude, die Besonderheit des Abends anzukündigen! Dies war eine Anregung unseres guten Johann Bode, der heute aus Gründen seiner Verwaltertätigkeit für die Gräfin Bernstorff nicht hier sein kann.“ Er lächelte schief in die Runde. „Wer weiß, vielleicht ist er aber auch wieder einmal aus höchst geheimen Gründen in Paris.“
An der gedämpften Heiterkeit beteiligten sich, wie Lewis sah, nur zwei Personen nicht. Herder, der ohnehin nicht zu lächeln verstand, und Goethe, der scheinbar noch immer über die Konfrontation mit Corona Schröter verstimmt war.
Bertuch sprach weiter: „Oder vielleicht überträgt er einen weiteren großen englischen Schriftsteller in unsere deutsche Sprache, und wer weiß, vielleicht haben wir ja bereits einen künftigen unter uns?“
Lewis sah sich mit einem Mal den offenen Blicken einer Vielzahl von Augenpaaren ausgesetzt. Er wusste sich nicht besser zu helfen, als indem er eine Verbeugung andeutete, die vielleicht etwas zu tief und lange ausfiel, ihn aber des Blickkontakts entledigte, bis Bertuch fortfuhr.
„Aber das werden wir ein andermal erörtern, im Mittwochs-club. Sie kommen doch, Herr Lewis?“
„Sicher, sicher“, sagte Lewis gepresst, der sich gerade wieder erhoben hatte und nun ein wenig verkniffen in die Runde lächelte.
„Sehr schön!“, rief Bertuch und schlug dann wieder einen feierlicheren Ton an. „Aber nun, wie erwähnt, ein besonderer Gast auf Empfehlung unseres guten Bode. Damit er jedoch einen gebührenden, standesgemäßen Auftritt erhält – was am heutigen Abend ja jedem zustehen sollte ...“
Lewis nahm die erneute Anspielung so gelassen hin, wie er es vermochte. Er wünschte sich, er säße in seinem Zimmer im Böttiger’schen Haus und hätte mit Grammatik zu kämpfen, statt Tratscherei über sich ergehen zu lassen.
„... bitte ich Sie, nun Platz zu nehmen. Vorher stellen wir die Stühle im Halbkreis auf, der mit der offenen Seite zur Tür weist.“ Er klatschte wieder in die Hände, als rufe er zu einem Kinderspiel auf. Die Herren rückten daraufhin die Stühle zurecht, während die Damen darauf warteten, einen Platz zu erhalten. Alle stellten eine mehr oder minder amüsierte, aber auf jeden Fall gespannte Miene zur Schau.
Lewis kam neben dem jungen Herder zu sitzen, der ihn höflich anlächelte. „Mir scheint, Sie haben sich wacker geschlagen, was Ihre diversen Gespräche anging?“
„Wenn Sie es so sehen – ich bin mir nicht so sicher.“
„Seien Sie nicht schlecht gelaunt. Immerhin scheint der Schnitzer vom Beginn keine tieferen Nachteile mit sich gezogen zu haben. Außer einigen Sticheleien ...“
„Mir ist das offen gesagt schon genug.“
„Nun, für die nächste Zeit werden Sie davon verschont bleiben. Danach zu urteilen, wie Herr Bertuch sich gibt, scheint etwas ganz Besonderes auf dem Plan zu stehen. Also seien wir einfach Beobachter.“
Lewis nickte und sah sich den jungen Herder noch einmal genau an. Da raschelte es neben ihm, und auf dem Sitzplatz zu seiner anderen Seite ließ sich Corona Schröter nieder. „So rasch sehen wir uns wieder“, sagte sie leise und lächelte erst Lewis an und dann, an ihm vorbei, auch den jungen Herder.
Dieser entgegnete den Gruß wesentlich gelassener als Lewis, der sich aus ihm nicht ganz offenkundigen Gründen zwischen zwei Feuern gefangen sah. Er war sich seines gegenwärtigen Zustandes nicht ganz klar. Die Kerzen schienen den Raum sehr stark aufgeheizt zu haben.
„Nun“, sagte Bertuch, der als einziger noch stand, „werden wir die Lichter in diesem und dem vorgelagerten Raum löschen.“ Er winkte zwei Dienstboten, die die Arbeit wieder zunichte machten, die sie erst vor kurzer Zeit vollendet hatten. Einzig zwei Kerzen im Gesellschaftszimmer erhellten nunmehr schwach die Gesichter der Anwesenden.
Obwohl nun deutlich weniger Flammen von den Dochten züngelten, war Lewis immer noch warm. Im schwachen Licht fuhr er sich unauffällig mit dem Finger zwischen Hals und Seidenbinde.
Bertuch hob wieder die Hände, in etwas größerer Geste als zuvor, sei es, weil er glaubte, man könne ihn bei diesem Licht weniger gut sehen, sei es, um die Spannung zu steigern.
„Heute Abend wird uns ein Mann mit seiner Kunst unterhalten, der ein Meister seines Fachs ist, ein Könner und Kundiger des Geheimnisvollen! Ein Meister der Magie, ein Mesmerist und Wundertäter!“
Lewis hörte aus der Richtung, in der Goethe saß, ein leises, aber sehr verächtliches Schnauben. Er blickte hinüber, konnte aber keine Regung auf Goethes Antlitz erkennen.
Bertuch erging sich in einigen weiteren Beschreibungen, bis er schließlich einen Wink gab, der offenbar einem Dienstboten in der Finsternis des angrenzenden Raumes galt.
„Urbino Leone, der Geisterbeschwörer!“
Im entfernten Dunkel zeichneten sich drei flammende Linien ab, die ein unvollständiges Viereck bildeten. Sie verbreiterten sich und ließen erkennen, dass sie von der sich öffnenden Tür herrührten, durch deren Spalt Kerzenlicht hereinfiel. Schließlich erschien eine verhüllte Gestalt in dem Rahmen, die sich als Scherenschnitt von dem unstet hellen Hintergrund abhob. Bedächtig, feierlich trat sie vor, beschritt den Pfad, den das Licht auf das Parkett zeichnete. Die beiden Dienstboten, die in gemessenem Abstand mit mehrarmigen Leuchtern folgten, wurden vom weiten Kapuzenumhang verdeckt, der sich in der Bewegung bauschte.
Lewis bemerkte erstaunt, wie ruhig er war. Sicherlich lag es daran, dass diese gespenstische Erscheinung angekündigt und auch eindeutig einer Person zugeordnet war. So konnte er das ganze als Schauspiel und nicht als Bedrohung sehen, was ihn mit einem heimeligen Gefühl erfüllte. Er wollte sich nicht ganz eingestehen, dass seine beiden Sitznachbarn ihn weit mehr beschäftigten, als es der effektvolle Auftritt eines Unterhaltungskünstlers hätte tun können.
Jetzt hatte der Vermummte die Strecke des Vorraumes durchmessen und erschien in der Türöffnung des Gesellschaftsraums. Die Kerzen beleuchteten schwach das Innere seiner Kapuze, so dass die Anwesenden eine Andeutung seines Antlitzes erhaschen konnten. Lewis sah in der hellen Fläche in den Schatten die dunkleren Höhlen zweier Augen und einen breiten, grinsenden Mund, der sich weit über die Wangen schwang. Der Vermummte blieb stehen, seine Arme hingen herab, so dass er wie ein Torso wirkte, wie eine übergroße Schachfigur, die nur in grober Andeutung einer menschlichen Gestalt geschnitzt war.
Mittlerweile waren die Dienstboten mit den Kerzenleuchtern herangekommen, betraten hinter dem Mann den Raum und postierten sich zu seiner Rechten und seiner Linken.
„Guten Abend, Meister Leone“, sagte Bertuch plötzlich.
In diesem Augenblick teilten zwei Hände von innen den Umhang, warfen ihn über die Schultern zurück und streiften in derselben Bewegung die Kapuze nach hinten. Die anwesenden Damen gaben gedämpfte Laute des Schreckens von sich, während die Herren so diskret, dass es die Nebenperson nicht bemerkte, den Atem anhielten. Das Licht der Kerzen fiel auf ein bleiches Gesicht, dessen Augenbrauen sich in der Form steten Misstrauens wölbten. Die Augen lagen so tief in den Höhlen, dass sie auch jetzt beschattet waren, wie überhaupt alle Züge und Falten so tief ins Gesicht gegraben waren, als sei der Mann früher einmal beleibter gewesen und habe in jüngster Zeit viel Gewicht eingebüßt. Der breite Mund, den Lewis für ein Grinsen gehalten hatte, war ein weit ausgreifender, dunkler Schnurrbart, der tatsächlich den Kieferspalt eines Totenschädels nachzuahmen schien.
„Guten Abend“, sagte eine Stimme mit italienischem Akzent, die so schmeichelnd klang, dass sie dem Antlitz, aus dem sie kam, nicht entsprechen wollte. Als ihm einer der Diener den Umhang abnahm, bedankte er sich mit einem leisen „Grazie“. Leone trug einen nachtblauen Rock, der im immer noch schwachen Licht schwarz wirkte, dessen goldene Litzen, die dezent an den Aufschlägen angebracht waren, jedoch umso mehr funkelten. Mit grazilen Schritten, denen man bei genauem Hinschauen jedoch ansah, dass sie vormals einen schwereren Körper hatten tragen müssen, ging er auf die Herzoginmutter zu und verbeugte sich tief.
„Edle Frau, es ist mir eine Ehre, Sie und Ihre Gäste heute Abend mit meinen Künsten unterhalten zu dürfen.“
Anna Amalia nickte wohlgesonnen. Da machte Leone eine flinke Bewegung mit dem Handgelenk, und plötzlich hielt er eine Rose zwischen den Fingern. Eine schwarze Rose, die an den Rändern ebenso von Gold schimmerte wie der Rock des Magiers. Er überreichte sie der Herzoginmutter mit einer noch tieferen Verneigung als zuvor. Das Publikum war so überrascht, dass es erst jetzt einen Ausruf des Erstaunens hören ließ. Dann begann Bertuch, vehement zu klatschen, und die anderen folgten seinem Beispiel, außer Goethe, der die Hände still auf seinen Knien ruhen ließ.
Anna Amalia nahm die Rose. „Ich freue mich, Sie begrüßen zu dürfen, Signore Leone, und bedanke mich auch für dieses reizende Geschenk.“ Sie roch an der Rose und war offensichtlich erstaunt über deren Duft. „Nun, zeigen Sie uns weitere Beispiele Ihres Könnens.“
Leone trat zurück, bis ihn alle gut sehen konnten. Er verneigte sich erneut. „Meine Damen und Herren, ich bin weit gereist in Ihrem schönen Land, obgleich ich erst vor kurzer Zeit aus Italien gekommen bin. Ich durfte schon die Damen und Herren an den Höfen Münchens, Braunschweigs, Württembergs und vielen anderen unterhalten, und ich darf Ihnen versichern, dass ich mein erlauchtes Publikum stets für mich eingenommen habe ...“
Leone erzählte noch weitere Dinge zu seinem eigenen Lob und dem seines früheren, aktuellen und zukünftigen Publikums. Lewis war unaufmerksam, da ihm die Aufregungen des Tages zuzusetzen begannen. Seine Schultern schmerzten, in seinem Magen breitete sich ein Gefühl des Hungers aus, sein Kopf wurde von einer heraufziehenden Müdigkeit immer schwerer, und in seiner Brust bewegte sich etwas, das sich leicht veränderte und doch gleich blieb, je nach welcher Seite er den Kopf wandte und welches der nahen Profile er erblickte, die im warmen Schein des von Flammen verzehrten Kerzenwachses schimmerten.
Schatten tanzten über die Wände des Zimmers, als Leone verschiedene Taschenspielertricks und Zauberkunststücke vorführte, die die Anwesenden verblüfften. Die Leuchter waren von den Dienern auf dem Parkett abgestellt worden, so dass Leone von unten angeleuchtet wurde, was ihm ein noch mysteriöseres Aussehen verschaffte, als es seine Züge ohnehin schon taten. Zudem zuckten die von ihm geworfenen Schatten auch über die geisterhaft weißen Statuen nach antikem Vorbild, die in den Zimmerecken neben der Tür standen, und es schien, als habe er mit seinen Künsten nicht nur die Spielkarten und Gegenstände belebt, mit denen er so virtuos hantierte, sondern auch diese Abbilder von Göttinnen aus längst vergangenem Zeitalter. Lewis rieb sich die Augen. Als er wieder aufblickte, sah Leone ihn an.
„Nun möchte ich etwas anderes zeigen. Etwas, das weniger die Augen verblüfft als die Ohren. Dazu brauche ich die Hilfe einer Person aus diesem geneigten Kreis ...“
Lewis ließ die Hand sinken. Wie hatte er nur durch diese unbedachte Geste, die der Magier als Zeichen der Langeweile aufgefasst hatte, die Aufmerksamkeit auf sich lenken können? Lewis biss die Zähne zusammen.
Leone fuhr fort, während ein Dienstbote einen Stuhl brachte und neben ihn stellte. „Ich will Ihnen ein erstaunliches Beispiel für den Mesmerismus geben, auf dessen Anwendung ich mich meisterlich verstehe. Sind Sie bereit, sich hypnotisieren und die geheimsten Dinge aus den Tiefen Ihres Geistes heraufsteigen zu lassen, auf dass sie kundgetan werden?“
Die Anwesenden lachten verhalten. Lewis hörte einen Unterton von Nervosität heraus. Hier, wo jeder über jeden etwas zu berichten hatte, ob erfreulich oder nicht, schien ein solches Rühren an möglicherweise gut gehüteten Geheimnissen kein angenehmer Gedanke zu sein.
Ein kaum wahrnehmbares, unruhiges Rücken auf den Sitzflächen der Stühle kam auf, als Leone in die Runde blickte und damit einen Freiwilligen ermuntern wollte.
Da erhob sich Goethe zu voller Größe, zog wiederum am Revers seines Rockes und sagte mit kräftiger Stimme: „Ich werde es tun!“
Die Gesellschaft applaudierte diskret.
Leone lächelte und wies auf den Stuhl neben sich. Goethe ging hinüber und sagte mit leisem Spott: „Aber ich glaube nicht an derlei Dinge. Seien Sie darauf gefasst, dass Sie bei mir scheitern werden.“
Leones Lächeln gefror für einen Lidschlag, dann gewann es wieder die Oberhand. „Wir werden sehen“, sagte er. „Nehmen Sie Platz.“
Goethe setzte sich, mit aufrechtem Oberkörper und überheblichem Blick.
„Entspannen Sie sich“, bat Leone, worauf Goethe sich ein wenig gegen die Rückenlehne sinken ließ, seine Miene aber nicht im Geringsten veränderte. Der Mesmerist zog einen funkelnden Gegenstand aus seiner Rocktasche hervor. Es war ein geschliffener Kristall von der Größe eines Taubeneies, der in einer Fassung aus Gold an einer ebensolchen zierlichen Kette hing. Leone ließ dieses Pendel in gebührendem Abstand vor Goethes Nase hin- und herschwingen, langsam und gleichmäßig. Das Licht der Kerzen brach sich im Kristall und sandte bunte Reflexe in alle Richtungen.
„Ah, die Wirkung des Prismas“, sagte Goethe in dozierendem Tonfall. „Wussten Sie, dass ich im vergangenen Jahr einige Beiträge zur Optik verfasst habe, die ebendieses Thema behandeln? Sie wurden übrigens in Herrn Bertuchs Comptoir gedruckt und sind wohlfeil zu erstehen.“ Er lächelte und verstärkte dieses Lächeln noch, als die Anwesenden über seinen Ausspruch lachten.
„Bitte sammeln Sie sich und blicken Sie auf das Pendel“, ermahnte ihn Leone, der einige Zähne unter dem schwarzen Schnurrbart hervorblitzen ließ.
Goethe nickte gnädig.
„Folgen Sie dem Pendel“, sagte Leone in beschwörendem Ton und wiederholte es mit einer Regelmäßigkeit, die selbst auf die anderen Anwesenden einschläfernd wirkte. Der Kristall schwang hin und her, seine Facetten warfen farbige Irrlichter in den Raum, und immer wieder sprach Leone dieselben Worte.
Goethe hatte mittlerweile die Mundwinkel sinken lassen. Lewis fragte sich, ob dies von Entspannung der Gesichtsmuskeln herrührte oder ob die Hypnose begann, ihre Wirkung zu entfalten. Seine Augen hielt Goethe aber weiterhin offen, und seine Pupillen folgten aufmerksam dem Pendel.
„Ihre Lider werden schwer“, suggerierte Leone.
Lewis fühlte sich angesprochen, nahm sich aber zusammen und betrachtete weiter das Geschehen.
Goethe blickte auf das Pendel und ließ die Augäpfel hin- und herrollen.
„Ihre Lider werden schwer“, wiederholte Leone.
Mit einem Mal ließ Goethe seine Augen zuklappen. Lewis glaubte zu erkennen, wie ein schwaches Lächeln über die Züge Leones glitt. Es konnte aber auch ein Schatten sein, den der Oberlippenbart geworfen hatte. Das Pendel stellte seine Bewegungen ein, und Leone barg den Kristall in seiner Faust.
„Nun“, begann er, „treten Sie tief in die Traumwelt ein. Sie vergessen das Jetzt und sinken tiefer ... und tiefer ... und tiefer ...“
Die Gesellschaft hatte sich leicht vorgebeugt, um sich keine Regung auf dem entspannten Gesicht des Geheimrats Goethe entgehen zu lassen. Lewis erkannte, wie dessen Mundwinkel zuckten.
„Nun“, sagte Leone, „sagen Sie uns, was Sie sehen ...“
Goethe öffnete schläfrig den Mund, und heraus drang ein kolossaler Schnarchton. Die Gesellschaft erschrak! Da riss Goethe die Augen auf und scherzte: „Ich sagte doch, dass es bei mir nicht funktionieren würde.“
Leone stand da und vermochte es gerade noch zu vermeiden, seine Empörung allzu offen zu zeigen. Während Goethe nachlässig ein Bein über das andere schlug, sprang die Herzoginmutter dem fahrig an seinem Schnurrbartende zwirbelnden Leone bei.
„Herr Goethe! Ich muss Sie rügen! Verderben Sie uns allen doch nicht den Spaß an dieser Vorstellung. Reißen Sie sich zusammen, und lassen Sie doch einmal ihre Beherrschung fallen.“ Der Ton Anna Amalias ließ allerdings einiges an Schärfe vermissen, und als sie geendet hatte, legte sie zierlich die Finger an den Mund und lächelte dahinter.
Goethe setzte das übergeschlagene Bein heftig aufs Parkett, dass die Sohle knallte, und rief in gespielt militärischem Ton: „Zu Befehl, Herzoginmutter!“
Während die Gesellschaft sich amüsierte, wandte Goethe sich an Leone. „Nun denn, versuchen Sie noch einmal Ihr Glück!“
„Glück hat damit nichts zu tun“, antwortete Leone. „Das hier ist kein Spiel.“ Diesen letzten Satz sprach er sehr ernst aus, was jedoch im Gemurmel der anderen Gäste unterging.
„Wenn ich um Ruhe bitten darf!“, sagte Leone dann, und es wurde still im Gesellschaftszimmer. Wieder schwang das Pendel, wieder tanzten die bunten Lichter über die Wände und Gesichter der Anwesenden.
Wieder sprach Leone seine monotonen Worte, langsamer diesmal und mit schleppender Stimme.
Goethes Wimpern flatterten und senkten sich langsam. Lewis glaubte, das Weiß der Augäpfel gesehen zu haben, ehe die Lider Goethes sich darüberlegten. Im Raum war zwischen den Worten Leones nur das tiefe, ruhige Atmen zu hören, das aus Goethes Nase drang und das sich in nichts von dem eines Schlafenden unterschied.
„Hören Sie mich?“, fragte Leone.
„Ich höre Sie“, entgegnete Goethe mit hohler Stimme, wobei er kaum die Lippen bewegte.
„Was sehen Sie?“
„Dunkel.“
„Ich möchte, dass Sie sich noch tiefer in dieses Dunkel begeben, in die Tiefen Ihres Geistes hinein, und dann möchte ich, dass Sie in sich hineinhorchen.“
Goethes Atemzüge begannen, langsam leiser zu werden, als entferne er sich, als stiege er eine Treppe hinab, die aus dem Zimmer hinaus in eine unbekannte Tiefe führte. Lewis spürte, wie sich rings um ihn die anderen Gäste in Erwartung dessen, was nun folgen mochte, anspannten. Zu seiner Linken, etwas entfernt, glaubte er, eine Bewegung wahrzunehmen.
„Was hören Sie?“, fragte Leone nachdrücklich.
„Ich höre ...“, sagte Goethe undeutlich. „Ich höre...“ Er reckte den Kopf ein wenig zur rechten Seite. „Ich höre, wie Bertuch kandierte Veilchen nascht!“
Leone riss die Augen auf, und Goethe ruckte den Kopf herum. Im selben Moment klapperte etwas auf den Boden, und ein erschrockener Friedrich Justin Bertuch musste sich von allen Anwesenden angestarrt finden, den Finger der rechten Hand noch zwischen den Lippen. Seiner Linken war das emaillierte Messingdöschen entglitten, das nun zwischen seinen Schuhen rollte und kleine, violette Blüten verstreute, auf denen feine Zuckerkristalle glitzerten.
„Verzeihung“, murmelte er und nahm den Finger herunter.
„Nein, nein, nein!“, rief Leone und wandte sich erst zu Goethe, dann zur Herzoginmutter. „So kann ich meine Kunst nicht ausführen.“
Goethe lachte. „Das liegt nicht an den Umständen, sondern daran, dass es so etwas wie Hypnose oder anderen übersinnlichen Firlefanz nicht gibt.“
„Oh, Goethe!“, tadelte Fräulein von Göchhausen. „Ich bitte Sie! Verderben Sie nicht alles! Was ist nur aus Ihnen geworden? Einst beschworen Sie Spukgestalten, Teufel und Hexen und schmiedeten faustische Pakte zu Versen. Ich weiß es noch wie gestern, als ich drüben in meinen Zimmern, über den Altan hinweg, Ihren Faust abgeschrieben habe ...“
Goethe stand auf. „Liebes Fräulein! Wie kann ich mich mit jenseitigen Dingen befassen, wo das Hier und Jetzt in aller Wahrnehmbarkeit vor uns hintritt? Was in Paris geschah, vor drei Jahren, was sich seitdem ereignete, ja, was jetzt anhebt zu geschehen – wie kann man da fern der Wahrheit leben? Nein, ich sehe einen Sinn nur noch in der Wissenschaft. Das kristallene Pendel hier ...“ – er wies auf Leone, der ihn finster anschaute, was Goethe jedoch mit einem mitleidigen Blick erwiderte – „... hat mehr Wahrheit in seinem Funkeln als der sprühendste poetische Geist!“
Er hielt inne. Betretenes Schweigen quoll durch den Raum.
Goethe rieb sich die Nasenwurzel. „Verzeihung.“ Er sah sich um, streifte kurz jeden der Anwesenden mit einem entschuldigenden Blick. „Ich werde mich für eine Weile nach draußen begeben. Ein paar Schritte durch den Park gehen, frische Luft in mich saugen.“
Er schritt rasch zur Tür und drehte sich noch einmal kurz um. „Möglicherweise ist der junge Master Lewis der richtige Mann für dieses Experiment ...“
Dann machte er auf dem Absatz kehrt und verschwand. Lewis saß da und musste mit ansehen, wie sich die Köpfe der Anwesenden ihm zuwandten und ihn mit bittenden Blicken bedachten.
„Auf in Hypnos’ Arme!“, spornte Wieland ihn an.
„Ein geistiges Abenteuer – sicher mehr nach Ihrem Geschmack als die mit havarierenden Kutschen“, meinte der junge Herder.
„Trauen Sie sich doch ...“ Der Augenaufschlag Corona Schröters ließ Lewis wanken, und schließlich, als Anna Amalia ihn mit einem freundlichen: „Seien Sie nicht so ein Spielverderber wie Goethe!“ an der Ehre packte, stand er zögernd auf und drehte sich zu der Gesellschaft um.
„Wenn es denn dem Wunsch meiner Gastgeber entspricht, so will ich mich dem stellen, was auch immer mich erwarten mag.“
Die Anwesenden klatschten freudig und aufmunternd.
Lewis wandte sich Leone zu, der ihm den Platz neben sich wies. „Wirken Sie Ihre Kunst“, sagte er, und es klang nicht sonderlich fest.
Als er auf dem Stuhl saß, umfasste er seine Knie, damit niemand sah, dass ihm die Hände ein wenig zitterten. Ihm gefiel es nicht, so in der Öffentlichkeit zu stehen, aller Augen auf ihn gerichtet und nicht wissend, was ihm geschehen mochte. Konnte ein Mesmerist wirklich in die Gedanken, ja in die Seele eines Menschen eindringen? Konnte er Dinge hervorrufen, die verborgen bleiben sollten?
Lewis beschloss, sich der Hypnose zu widersetzen. Was Goethe gelungen war, müsste auch ihm glücken, und vielleicht konnte er die Enttäuschung der Anwesenden, wenn das Experiment erneut scheiterte, von sich ablenken, indem er den Mesmeristen als Amateur in seinem Fach dastehen ließ.
„Ich denke, der Herr Leone wird mit mir leichteres Spiel haben als mit Herrn von Goethe. Schließlich ist mein Geist weniger stark und genialisch als der des Geheimrats ...“
„Gewiss“, sagte jemand aus dem Halbdunkel, und Lewis glaubte, die Stimme des alten Herder erkannt zu haben.
„Ich bitte um Ruhe“, mahnte Leone und erstickte damit das aufkommende Geraune unter den Gästen.
Er hob die Hand mit dem Pendel und ließ es aus der Faust gleiten, so dass es mit einem Ruck am Ende der Kette zu einem Halt kam. Lewis erschien es wie das Haupt eines Gehenkten am Galgenstrick. Dann brach sich das erste Licht im Kristall, und Lewis war überrascht, um wie viel heller und farbiger das Funkeln aus der Nähe betrachtet wirkte. Das Pendel begann, langsam zu schwingen, und Leone stimmte seine monotone Wortfolge an. Lewis folgte dem Pendel mit den Augen, lauschte der Stimme und versuchte gleichwohl, hellwach zu bleiben. Das Glitzern und Strahlen blendete ihn förmlich, auch verschwamm es für einen Augenblick, als Lewis zu blinzeln vergaß. Er bemerkte, wie die Stimme des Mesmeristen einen seltsamen Hall bekam, als spräche er aus weiter Ferne, quer durch einen großen Saal. Die Lichter begannen, entgegen der Pendelbewegung des Kristalls zu tanzen, auf und ab und kreuz und quer und auch im Kreis herum.
Dann wurde es einen Herzschlag lang dunkel.
Das Licht, das heimkehrte, war nicht von jenem kristallenen Blitzen und auch nicht der Schein der Kerzen. Es strahlte in dunklem, körperlichem Rot und pulsierte wie ein Herzschlag. Heraus schälte sich das Bild einer Frau, in Weiß gehüllt. Lewis erkannte ein Engelshaupt von bezauberndem Ausdruck. Die Lippen schienen ihm von der betauten Frische einer Rosenknospe. Das gewellte, blonde Haar war von einem schmucklosen Band zusammengefasst, und die Pracht der Locken reichte in seiner Fülle bis zur Hüfte seiner Trägerin. Der Hals war von schlanker, wohlgerundeter Vollkommenheit. Die Gestalt hob einen Arm und eine Hand in ebenmäßiger Vollendung an die Augen, die sanft und blau waren und für Lewis den Glanz des Himmels in sich zu tragen schienen. Sie erstrahlten in juwelenhaftem Leuchten, und in diesen spiegelte sich Lewis selbst: ein Mann von ausnehmend angenehmer Gestalt, mit langem Wuchs und anziehendem Blick. Eine Adlernase, zwei schwarze, glänzende Augen und dichte, zusammenstehende Augenbrauen waren die auffallendsten Züge seines Gesichts. Sein Haar war hellbraun. Obwohl er in der Blüte seines Lebens war, so hatten doch Studium und Nachtwachen seine Wangen fast gänzlich entfärbt. Er trug eine Mönchskutte. Lewis sah sich um. Er schien in einer Kirche zu sein. Viele silberne Leuchten erleuchteten den großen runden Platz vor dem Altar und die Seitenteile der Kirche, die zugleich die melodische Stimme der Orgel und religiöse Gesänge aus dem Chor erfüllten. Der Altar war wie an hohen Festtagen ausgeschmückt und von schöngekleideten Personen umgeben. Vor den Altarstufen stand die Frau, in einem prächtigen Hochzeitskleid und mit allen Reizen jungfräulicher Bescheidenheit geschmückt. Lewis näherte sich ihr, und sie sah ihn aus ihren blauen Augen an. Dann sprang er vor, mit einem schnellen, tierhaften Satz, und warf sie rücklings auf den Altar. Ihr Gewand zerriss unter seinen krallengleichen Fingern. Auf dem heiligen Stein tat er ihr Gewalt an, und als sie schrie, zog er einen Dolch aus den Falten seiner Kutte und stieß ihn der Frau ins Herz, so dass das Blut heiß aufspritzte.
Lewis lag auf dem Parkett im Tiefurter Gesellschaftszimmer und zitterte am ganzen Körper. Er hörte eine schrille und gequält klingende Stimme, die fortwährend: „Nein, nein!“ schrie.
Er erkannte, dass es seine eigene war. Im flackernden Kerzenlicht sah er die fahlen Gesichter fremder Menschen, die sich über ihn beugten und auf deren Zügen schieres Entsetzen lag.
Dann versank er in gnädige Ohnmacht.