Zweites Kapitel

In welchem Lewis auf große und kleine Geister trifft

Seine dritte Nacht in Weimar verbrachte Lewis mit angenehmen Träumen. Zumindest konnte er sich beim Erwachen an nichts Erschreckendes erinnern, als seine ersten Blicke auf das freundliche Interieur seiner neuen Schlafstätte fielen. Im Hause der Böttigers hatte er das Zimmer bezogen, das ihm schon vor seinem Abstecher in die Schreckenskammer der Witwe Recknagel – wie er sein ehemaliges Quartier insgeheim nannte – zugedacht war. Durch die leichten Vorhänge gemildert fiel das Morgenlicht auf die hellen Wände mit den kleinen gerahmten Aquarellen und brach sich in der gläsernen Vase voller Blumen, die auf dem furnierten Tischchen stand. Lewis’ Schreibutensilien warteten ungeduldig auf dem schmucken Rollsekretär. Lewis zwinkerte und bemerkte, wie sich die Gardinen vor dem leicht geöffneten Fenster bauschten. Ein Luftzug nur.

Lewis fuhr sich mit den Fingern durchs wirre, schwarze Haar und stieg aus dem Bett. Im Spiegel sah er, dass die Ringe unter seinen Augen schwächer geworden waren, wenngleich der leicht verquollene Ausdruck nicht vom Schlaf herrührte. Die schweren Lider und tiefliegenden Augen waren ihm von jeher gegeben. Wenn er sich rasiert hätte, würde sein Erscheinungsbild einigermaßen adrett und nicht mehr sonderlich düster wirken. Er schäumte Seife auf und bestrich sich das langgezogene Kinn und die Partien um seine vollen Lippen.

Als er das Messer ansetzte, hörte er von unten Karlchens offenkundig gut gelauntes Krähen. Lewis seufzte. Der winzige Knabe schien einen Narren an ihm gefressen zu haben und hing ihm nun stets am Rockzipfel. Als er noch gehörigen Respekt vor dem düsteren Engländer gezeigt hatte, war er Lewis angenehmer gewesen. Zwar hatte er seine eigene Kindheit mit drei jüngeren Schwestern verbracht, aber dies war doch etwas ganz anderes.

Zudem schien Eleonore Böttiger Karlchen allzu oft in Lewis’ Richtung zu lenken, als wolle sie auf sich selbst aufmerksam machen. Lewis schabte über seine Wangen und dachte nach. Die Ereignisse der ersten Tage hatten ihn die fast unstandesgemäße Freundlichkeit der Frau seines Gastgebers nicht sonderlich bemerken lassen, er war mit sich selbst beschäftigt gewesen. Mittlerweile fragte er sich aber, was dahinter steckte. Sah Eleonore Böttiger in ihm so etwas wie einen erwachsenen Sohn? Das konnte, betrachtete man den geringen Altersunterschied, kaum sein. Aber wer konnte schon Mütter verstehen?

Lewis biss die Kiefer zusammen. Die Bewegung ließ das Rasiermesser aus seiner Bahn gleiten und in Lewis Wange schneiden. Aus der winzigen Wunde sickerte Blut, das ihn erschrecken ließ. Rasch brachte er die Rasur zu einem Ende und trocknete sein Gesicht.

Hoffentlich würde die Blutspur auf dem Leintuch die Waschfrau nicht allzu sehr in ihrer Annahme bestätigen, die Böttigers hätten sich mit dem Engländer einen sehr verschrobenen Gast ins Haus geholt. Aber schließlich hatte auch der Herr des Hauses dann und wann eine Blessur. Nichts Ungewöhnliches also.

Als er sich anzog, betrachtete er die Schauerromane, die sich düster auf dem Nachttisch türmten. Hatte Eleonore Böttiger in ihm doch nur eine verwandte Seele im Bereich der Literatur erkannt? Ihr Mann war schließlich wesentlich nüchterner, auch oder vielleicht gerade weil er für die vergangenen Sphären der klassischen Antike schwärmte. Nach dem Abendessen des Vortages hatte Böttiger es sich nicht nehmen lassen, eine seiner Abhandlungen vorzutragen. Jenes Lehrstück über die Prachtgefäße der Alten hatte, wie er betonte, im März des Jahres die Mitglieder des Weimarer Gelehrtenvereins zu unterhalten, ja von den Plätzen zu reißen gewusst. Natürlich war er davon ausgegangen, auch ein profaneres Publikum wisse es zu schätzen und hatte somit Lewis gezwungen, nach dem durchaus schmackhaften Mahl von Rindfleisch, Kartoffeln und Erbsen, welches Lewis so angenehm an seine Heimat erinnert hatte, ein gerüttet Maß an Zeit aufmerksam dreinblickend auf seinem Stuhl zu sitzen. Der Senf stammte zwar aus Erfurt, wusste am Gaumen des Engländers aber das erwünschte Prickeln zu entfachen, das er vom heimischen Mostrich schätzte. Lewis hatte also dem Essen tüchtig zugesprochen, was sich im Anschluss durch eine gewisse Trägheit im Kopf bemerkbar machte. Es fiel ihm nicht leicht, Vortrag und Vortragendem die nötige Höflichkeit in Form von gelegentlichem Kopfnicken zu zollen, wann immer Böttigers Blick vom Manuskript in seine Richtung wanderte. Geschickt konnte er sein in immer kürzeren Intervallen auftretendes Gähnen hinter der Hand verbergen und in einer Anwandlung von eleganter Genialität gar durch angedeutete Schlucke aus dem Weinglas tarnen. Eleonore Böttiger hingegen hatte das Glück besessen, sich nebenbei einer Handarbeit widmen zu können. Dann und wann blickte sie zu Lewis herüber, der glaubte, so etwas wie Mitgefühl erkennen zu können. Augenscheinlich kannte sie Böttigers gelehrte Ausführungen bereits und wusste, wie lang Lewis noch den geneigten Zuhörer zu mimen hatte. Sehr lang, denn Böttiger gab noch in ausschweifendem Bericht die damals im Anschluss erfolgte Diskussion wider. Lewis hatte sehr oft in sein Glas gähnen müssen.

Wäre jedes Mal auch ein Mund voll Wein durch seine Kehle geflossen, er wäre an diesem Morgen nicht so behände auf den Beinen gewesen. So stieg er mit geradezu artistischem Geschick in seine Hosen und wollte den Fuß gerade wieder auf den Boden setzen, als es an der Tür klopfte. Lewis erschrak und strauchelte nahezu, fing sich aber mit einiger Mühe wieder. Er fürchtete, der unartikulierte Laut, der ihm über die Lippen gekommen war, habe durch das Holz der Tür möglicherweise wie die Erlaubnis zum Eintreten geklungen. Fieberhaft beendete er sein Bekleidungsmanöver. Nichts rührte sich draußen. Dann klopfte es erneut.

„Bitte“, sagte er laut und deutlich. Doch statt einer Bewegung an der Klinke klopfte es erneut. Lewis schlüpfte in die Stiefel und ging zur Tür. Ein Klopfen, dann ein Scharren.

Lewis drückte die Klinke, zog daran und sah durch den breiter werdenden Spalt. Der Flur war schwach erleuchtet. Da war niemand. Da klopfte es noch einmal, und Lewis’ Herz tat einen Satz. Nicht auch noch hier!

Zu seinen Füßen bewegte sich etwas. Lewis zuckte, sein Kopf ruckte nach unten, und dort sah er die kleine Gestalt Karlchens, der am Boden kauerte und mit den Fäustchen gegen die Tür pochte. Er grinste zu Lewis hinauf. Der verdrehte die Augen zum Türsturz hin und atmete kurz ein. „Nun, junger Herr Böttiger, was machst du hier?“, fragte er in gespielt förmlichem Ton.

Karl Böttiger gluckste.

„So, so“, antwortete Lewis und bemerkte mit Widerwillen, dass er den Ton der Witwe Recknagel nachgeahmt hatte. „Sehr löblich, diese Absicht.“ Lewis ging ein wenig in die Hocke. „Was gedenkst du nun zu tun?“

Karlchen öffnete den Mund und brabbelte.

„Höchst bemerkenswert“, sagte Lewis und legte den Finger ans Kinn. „Da du heute Morgen so gesprächig bist, kannst du mir vielleicht auch verraten, was deine werte Frau Mama im Schilde führt? Hat sie mit dir nicht genug zu tun?“

Karl Böttiger stopfte die linke Faust in den Mund und produzierte Speichel.

„Oder hat sie so viel Mutter...“, Lewis zögerte, „...gefühl, dass es für zwei reicht?“

Der kleine Karl zuckte mit den runden Schultern, als habe er die Frage tatsächlich verstanden, wisse aber keine Antwort darauf.

Lewis nickte. „Gut. Du musst wohl noch etwas älter werden, um das zu beantworten, und ich muss etwas älter werden, um es zu begreifen.“

„Wofür müssen Sie älter werden, junger Master Lewis?“, fragte Eleonore Böttiger, die an der Treppe erschienen war.

Lewis zuckte zusammen, stand ruckartig auf und grüßte. „Guten Morgen.“ Er blickte kurz zu Karlchen hinab und suchte nach einer Erklärung. „Nun, ich denke, um ... wie sagt man?“ Lewis wusste keinen besseren Rat, als sich in die Ausrede des Vokabelmangels zu flüchten. Er machte einige ungewisse Gesten.

Eleonore Böttiger glaubte ihm, oder sie ließ sich nicht anmerken, Lewis’ Unsicherheit bemerkt zu haben. „Ein Gespräch unter Herren also. Ich bedaure, es unterbrechen zu müssen, aber Karl ist vor einer absoluten Notwendigkeit geflohen, die sich nicht aufschieben lässt. Karl, komm her.“

Der kleine Böttiger zog sich an Lewis’ Hosenbeinen empor und tapste seiner Mutter entgegen, die ihn aufnahm.

„Sie können frühstücken, wenn Sie möchten. Gehen Sie einfach in die Küche. Unsere Köchin, die Gine, wird Sie mit allem versorgen“, sagte sie und ging mit einem Lächeln die Stiege hinab. Als sie sich abwandte, glaubte Lewis zu sehen, wie das Lächeln erstarrte und einem schmalen, bitteren Mund wich. Es mochte aber auch ein Schatten gewesen sein.

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Später saß Lewis am Schreibtisch und lernte. Je tiefer er ins feinere Gefüge der Fremdsprache eindrang, desto wirkungsvoller konnten ihn die Schauergeschichten einfangen, deren Inhalt mit dieser düsteren Sprache makellos wiedergegeben werden konnte. Lewis verfiel in einen Rausch aus Schöpfungswut und Lerneifer. Nachdem ihm bewusst geworden war, wie leicht ihm das Deutsche zufiel – sei es nun aufgrund seines besessenen Fleißes oder einer besonderen Begabung –, versank er gänzlich im Nebel der Literatur. Was, wenn er versuchte, den Geist der Schauermären in seine angeborene Zunge zu übertragen? Wenn er durch solche Tat den Lesern der heimatlichen Insel nicht allein den Wieland und den Goethe näher brächte, sondern vielmehr die tief innen liegende Essenz der deutschen Seele? All die Geistergeschichten zeigten doch viel deutlicher als die Liebesdramen und launigen Stückchen jener Schreiber, was hier wirklich vor-, nein, umging. Ein Land, in dem Gespenstererscheinungen nicht nur kalte, düstere Schlosshallen aus dunklem Stein als Heimstatt beanspruchten, sondern über die hölzernen Fußböden der Bürgerwohnungen strichen, das war doch wahrhaft heimgesucht. Dies galt es den Engländern zu vermitteln, ihnen einen Anreiz zu geben, all dies mit eigenen Augen zu sehen, mit eigenen Augen oder vor dem inneren Auge, ausgelöst durch todesdunkle Druckerschwärze auf leichenblassem Papier. Was lag also näher, als nicht allein zu übersetzen, sondern auch die Aufmerksamkeit, ja, das Vertrauen der künftigen Leser zu erwecken, indem man selbst ein elektrisierendes Werk abgründigen Schauders verfasste? Eine Geschichte von Liebe und Verrat, Mord und Wahnsinn, in alten Gemäuern und tiefen Verliesen spielend, und über allem dräuend die machtvollen Krallen der schrecklichsten Macht auf Erden, die ...

In diesem Augenblick schlug die Turmglocke der nahen Kirche, und Lewis wurde aus seinen Gedanken gerissen. Mit einem Mal verspürte er ungeheure Hitze. Er blickte auf das Papier vor sich und sah, dass die Tinte zerlaufen war, wo Schweißtropfen von seiner Stirn auf die Schreibplatte gerollt waren. Die Schriftzüge der letzten Sätze waren blass, da Schweiß auch von seiner gekrampften Hand über die Feder gelaufen war und die Tinte bis zur Farbe von Asche verdünnt hatte.

Lewis wischte sich übers Gesicht, fuhr sich durch die dunklen Strähnen seines Haares, fühlte sich wie aus einem wirren Traum erwacht. Er sprang auf, dass der Stuhl nach hinten kippte, und setzte zum Fenster hinüber. Kaum hatte er die Vorhänge zur Seite gefegt, riss er am Griff, und endlich strömte kühle Luft über seine erhitzten Züge.

Draußen stand die Sonne hoch, brannte in die Schluchten der Gassen, zeichnete die Schatten der Giebel scharf auf das Pflaster. Lewis atmete heftig und klammerte die Finger um die hölzernen Rahmen des Fensters. Als er seine Halsbinde lösen und den Kragen weiten wollte, stellte er fest, dass sein Hals bereits enthüllt war. Der Stoff ringsum war klamm vom Schweiß. Lewis sog weiter die Luft ein, roch verschiedene Dünste der Mittagsmahlzeiten, die überall ringsum bereitet wurden und durch die Küchenfenster ihren Weg in willige und unwillige Nasen fanden.

Lewis hustete und wandte sich ruckartig ab. Am Waschtisch warf er sich einige Hände Wasser ins Gesicht, ließ es abperlen und fühlte sich danach etwas frischer. Leicht zitternd ließ er sich auf dem Stuhl nieder, nachdem er ihn mit einem Ächzen wieder aufgerichtet hatte. Vor dem Sekretär lag seine Halsbinde, die er irgendwann abgelegt hatte und achtlos hatte fallen lassen.

Nachdem er sie aufgehoben hatte, fiel sein Blick auf das zuletzt Geschriebene. Fahrig waren die Striche und Züge und durch die verschmierte, verdünnte Tinte auch schwer zu entziffern. Lewis blätterte blindlings Blatt um Blatt zurück, bis er auf die letzte Seite traf, die seine übliche akkurate Schrift zeigte und Konjugationen, Deklinationen und Vokabeln enthielt. Dann erschrak er, als er merkte, welche Menge an Papier er in seiner Linken hatte. In seinem Rausch musste er wie besessen geschrieben haben, mehr als ein Dutzend Seiten in enger Schrift konnte er nun vor sich ausbreiten. Deutlich konnte man erkennen, wann seine Gedanken und seine Aufzeichnungen abgeschweift waren, wann die Grammatik dem Grauen Platz gemacht hatte.

Denn was Lewis da in seiner eigenen und ihm doch fremden Schrift las, erschreckte ihn zutiefst. Nicht nur, weil er es unbewusst, ja in Trance geschrieben zu haben schien, sondern weil sich hier ein Szenario skizzierte, das die von ihm gelesenen Schauerromane an blasphemischer und furchterregender Kraft weit übertraf. Der leibhaftige Teufel trat hier auf, abscheuliche Morde geschahen, unschuldige Frauen wurden ins Unglück gestürzt, und sei das nicht schon verwerflich genug, so war ein abtrünniger Gottesmann der Verursacher all dieses Übels.

In Lewis’ Magen kroch ein bedrückendes Gefühl, bemächtigte sich seiner Brust. Er rang nach Luft. Rasch griff er nach den beschriebenen Seiten und zwängte sie in eine Schublade, die er ebenso rasch zudrückte, als fürchte er, die verfluchten Papiere könnten ein Eigenleben entwickeln und sich gegen das Einsperren auflehnen. Dann sank er in seinem Stuhl zusammen.

Langsam begann er, sich zu fürchten. Nicht nur seine Nächte, auch seine Tage schienen unter einem schlechten Stern zu stehen. Kaum war er der Gespenstererscheinung der Witwe entronnen, verfolgten ihn Wahngespinste schon in der hellen Mittagszeit, ja schlimmer noch, es waren keine Gespinste, sondern deutliche Manifestationen, die seinem eigenen Geist entsprangen. Lewis sah nur einen Ausweg aus dieser erschreckenden Lage, und als er zum Essen gerufen wurde, hatte er seinen Entschluss gefasst.

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Bei Tisch verschwieg Lewis die Erlebnisse des Vormittags. Einerseits wollte er seine Gastgeber nicht beunruhigen, was seinen Geisteszustand anging, an dem Lewis in schwachen Stunden selbst schon ab und an gezweifelt hatte, wenn er auch genau wusste, in welchen vergangenen Ereignissen dies wurzelte. Andererseits schien es ihm auch, als würde eine erneute Spukgeschichte – auch wenn diese hier mit greifbaren Beweisen belegt werden konnte – ihn in den Verdacht bringen, sich übermäßig interessant machen zu wollen, und über mangelndes Interesse an seiner Person konnte er nun wirklich nicht klagen. Eleonore Böttiger begegnete ihm wie gewohnt strahlend, Karlchen zupfte an ihm herum, und Böttiger selbst gab sich jovial und gönnerhaft. Kurz vor Abschluss der Mahlzeit wurde er ein wenig leiser, ja fast zaghaft, als er das Wort an Lewis richtete.

„Master Lewis, ich wollte Sie noch einmal fragen, wie es mit Ihrem Interesse steht, den einen oder anderen Bürger dieser Stadt kennenzulernen. Falls Sie sich bislang gescheut haben, vielleicht wegen Ihres Sprachvermögens, so kann ich Ihnen versichern, dass Sie geradezu ...“ – nun lächelte Böttiger, dass sein rundes Gesicht kurz aufstrahlte – „... unheimliche Fortschritte gemacht haben.“ Er hob das Glas in Lewis’ Richtung.

Der war froh, sein eigenes bereits vor Böttigers Bemerkung wieder abgesetzt zu haben, denn er zuckte in einem Maß zusammen, dass nicht wenig Wein verschüttet worden wäre, hätte sich das Glas noch in seiner Hand, ja an seinen Lippen befunden. Böttiger bemerkte nichts oder sah es als die Reaktion des heute besonders blass und fahrig wirkenden jungen Engländers auf Komplimente.

Er sprach weiter: „Ich wollte mich erkundigen, ob Sie willens wären, einem besonderen Mann die Aufwartung zu machen.“ Lewis hatte sich wieder gefasst und blickte ehrlich interessiert.

Böttiger erkannte dies und fuhr erfreut fort: „Wenn Sie also interessiert wären, könnten wir heute den Herrn Geheimrat Goethe besuchen, den Autor des Werther und …“

„Sie brauchen nicht weitersprechen, Herr Böttiger. Ich danke Ihnen für Ihre Rücksicht auf meine früher angemerkten Wünsche, nehme aber dieses Angebot dankbar an.“ Jetzt nahm Lewis selbst sein Weinglas zur Hand. „Es schien mir in den vergangenen Stunden, als fehlte mir etwas, trotz der wunderbaren Aufnahme in Ihrem Haus, und dies scheint doch gesellschaftliche Zerstreuung zu sein. Das harte Lernen hat mich ein wenig erweicht, wie ich zugeben muss.“ Mit leicht zitternder Hand nahm Lewis einen Schluck Wein und setzte dann das Glas fest und sicher auf dem Tisch ab. „Also“, sagte er, „wann darf ich den höchst ehrenwerten Herrn Goethe sehen ... oder wann darf er selbst einen neugierigen Blick auf den neuen Jungen in der Stadt werfen?“

Böttiger fühlte sich ein wenig ertappt, und seine Wangen, die gemeinhin eine rosige Färbung aufwiesen, wurden etwas dunkler. Eleonore Böttiger lachte hinter vorgehaltener Hand, und Lewis selbst gönnte sich ein leicht schelmisches Schulterzucken.

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Einige Zeit später spazierten Böttiger und Lewis über den Markt in Richtung Frauentorstraße. Hier sah sich Lewis eingekreist von hohen Hauswänden, die ihn allesamt aus starren Fensteraugen begutachteten, ihm aber milde gestimmt zu sein schienen, da er sich nicht unbehaglich fühlte. Vielleicht lag es an den Menschen um ihn herum und an Böttiger an seiner Seite. Der zeigte sich als kenntnisreicher Fremdenführer, wenngleich er auch ein wenig dem Klatsch verfallen zu sein schien. Wann immer ein ihm bekanntes Gesicht auftauchte – und dies war häufig der Fall –, grüßte er mit ausgesuchter Höflichkeit, wusste aber, kaum dass die betreffende Person außer Hörweite war, stets das eine oder andere zu berichten, und weniges war davon schmeichelhaft. Lewis fragte sich, wie es diesem Mann gelingen konnte, halbwüchsigen Schülern eine Vorstellung von sittlicher Reife zu vermitteln. Immerhin wurde Lewis so mit Weimar und seinen Bürgern vertraut, wie es selbst nur wenigen Einheimischen – ohne Böttigers beredte Informationen – gegönnt war, und neben all den menschlichen Abgründen und Skandälchen wusste Böttiger auch reine Tatsachen wiederzugeben, welche Lewis dankbar aufnahm. Böttigers Arm wies bald hier-, bald dorthin, und Lewis folgte mit den Augen und lauschte.

„Wir haben ganz vergessen, uns noch einmal umzuwenden: Hier, wo die Straße in den Markt mündet, ist die Hofapotheke. Das Haus mit dem Erkerchen. Herr Buchholtz ist der einzige Apotheker in Weimar, Sie sind also gut beraten, bei Bedarf etwaiger Pülverchen, sich an ihn zu wenden. Zudem ist er ein sehr produktiver Naturforscher, und ich darf hinzufügen, dass des guten Geheimrat Goethes Begeisterung, der Natur das eine oder andere Geheimnis zu entreißen, von eben diesem Buchholtz stammt!“

Lewis nickte.

Böttiger wollte noch etwas sagen, sein Blick wanderte zur Seite, dann schien er es sich anders zu überlegen und wandte sich um, wobei er zur entfernten Seite des Marktplatzes deutete. „Dort hinten ist das Gasthaus Zum Elephanten, ebenso gewaltig und berühmt wie sein Namenstier. Ein sehr angenehmes Haus, obwohl ich Ihnen keineswegs einen neuerlichen Umzug empfehlen möchte – Sie haben Ruhe nötig.“ Ehe Lewis etwas erwidern konnte, sprach Böttiger weiter. „Direkt daneben wohnt der geschätzte Wieland. Gegenwärtig, möchte ich hinzufügen, denn trotz seines fortgeschrittenen Alters und seines Kindersegens scheint er nicht müde zu werden, den Wohnort zu wechseln. Er ist seit seiner Ankunft in Weimar vor rund zehn Jahren schon dreimal umgezogen, und ich zweifele nicht daran, dass er es auch noch weitere drei Male tun wird. Ein richtiggehend rastloser Mensch, unangebunden geradezu, was sich, nun ja, nicht wenig in seinen Worten, ob geäußert oder niedergeschrieben, niederschlägt. All dieses Hin und Her muss ja seinen Effekt haben!“

Lewis begann, sich zu fragen, was Böttiger zu seiner solch strikten Ablehnung, ja Missbilligung von Wohnungswechseln und Umzügen bewogen haben mochte.

Er sah, dass Böttiger Schweiß über die Schläfen lief, obwohl es so heiß nicht war. Am Himmel zeigten sich etliche Wölkchen, welche die Sonnenstrahlen zu mildern wussten. Böttiger schritt eilig auf einen nahen Brunnen zu und bedeutete Lewis halbherzig, ihm zu folgen. Böttiger tauchte die Hände bis zum Puls ins kühle Wasser, hielt sie dort einige Atemzüge und netzte dann sein erhitztes Antlitz. Währenddessen betrachtete Lewis diskret den Schmuck des Brunnens, der aus einer Neptunfigur bestand, die aus dem wassergefüllten, steinernen Rund aufragte wie aus der ausnahmsweise gnädigen und ruhigen Weltsee.

Böttiger schnaubte kurz und wandte sich dann wieder an Lewis. Er schien erfrischt und wiederhergestellt, nichts erinnerte an seine vorige Schwäche als einige dunkle Wassertropfen auf dem hellen Rock. Munter sprach er weiter, als sei nichts geschehen, deutete auf ein Haus direkt gegenüber. „Hier, junger Master Lewis, wohnt eines der verehrtesten und gefeiertsten Geschöpfe der Kunst, auch wenn sie keine Zeile Schrift aufs Papier geworfen hat, wie sonst alle hier ansässigen Größen. Vielmehr zeigt sie sich kreativ in der leider so vergänglichen Kunst der Stimme. Hier wohnt die Bühnendame Corona Schröter. Da oben, im Haus neben der Apotheke, im Dachgeschoss. Goethe hat sie in jungen Jahren nach Weimar geholt, und sie war die Seele des Theaters.“ Böttigers Gesichtsausdruck wurde etwas säuerlich, und seine Stimme nahm nach dieser Lobeshymne wieder den gleichen schnappenden Unterton an wie bei seinen früheren Tratschereien. „Allerdings war das vor meiner Zeit, ehe ich selbst nach Weimar kam, nun ja.“ Er wies zu einer Straße, die vom Marktplatz wegführte. „Wir sollten weitergehen, es ist noch ein Stück.“

Auf dem weiteren Weg schwatzte Böttiger, dann und wann von einem kleinen Kommentar über diesen oder jenen Passanten unterbrochen, und schließlich bogen sie in eine Gasse ein, die Ackerwand hieß.

„Ich weiß leider nicht genau, wo er sich derzeit aufhält“, gestand Böttiger.

Lewis zuckte mit dem Kopf. „Wie meinen Sie das? Ich dachte, wir würden erwartet?“

„Natürlich werden wir das“, sagte Böttiger geschwind. „Ich weiß nur nicht ...“ – er nestelte an einem Knopf seines Rockes, der sich zu lösen schien – „... wo.“

„Was meinen Sie damit?“

„Nun, derzeit befinden wir uns auf dem Weg in die Marienstraße, dort liegt das sogenannte Große Jägerhaus, in dem Goethe bislang wohnte …“

„Warum bislang?“, fragte Lewis unschuldig, obwohl er ahnte, wo der Grund zu suchen lag.

„Weil er ... umzieht“, knirschte Böttiger. „Weil er wieder ins Haus am Frauenplan zieht. Helmershausen, der frühere Besitzer und auch Goethes Vermieter vor einigen Jahren, hat es dem Herzog verkauft, und der hat es dem Herrn Geheimrat geschenkt.“

„Geschenkt!“, rief Lewis und sah Böttiger groß an.

„Natürlich! Als Herzog macht man seinem besten Manne schon einmal ein kleines Präsent ... aber ganz im Vertrauen ...“ Böttiger trat näher an Lewis heran, so dass ihre Rockärmel beim Gehen fast aneinander rieben und sagte in wesentlich gedämpfterer Lautstärke, aber keineswegs dezenterem Tonfall: „In Wahrheit spielen sich ganz andere Ränke ab. Es verhält sich nämlich so, dass der Herzog das Jägerhaus schon längst einem anderen Herrn zugedacht hat, im genaueren dem ehrenwerten Charles Gore, der, wie mir ja gerade einfällt, ein Landsmann von Ihnen ist!“

„Sollte ich ihn allein deswegen kennen?“, fragte Lewis vorsichtig.

„Nicht unbedingt. Er ist Geschäftsmann und Kunstkenner, seit rund einem Jahr hier in der Stadt, ach, und er malt auch etwas. Aber seine hervorstechendste Eigenschaft ist, dass er zwei Töchter hat, von denen eine ein besonders gutes Verhältnis zum Herzog pflegt ...“

„Verstehe“, sagte Lewis schnell, damit sich Böttiger nicht in Einzelheiten verstieg.

„Nun, und da der Herzog den Vater an die Stadt und dessen Tochter an sein Herz binden will, schenkt er ihnen flugs das Jägerhaus.“

„Obwohl Goethe dort lebt.“

„Goethe und seine, äh, Frau – Christiane Vulpius und deren Söhnchen August, ja. Aber was soll’s, sie haben ja nun das Anwesen von Helmershausen.“

„Am Frauenplan.“

„Richtig.“

„Die Straße hinter dieser Häuserzeile.“ Lewis war stehengeblieben und klopfte gegen eine Mauer, die neben der Gasse aufragte. Dahinter war es still, aber von fern hörte man Geräusche, die von Webstühlen herrühren mochten – und eifriges Klopfen.

Böttiger wiegte den Kopf. „Direkt hinter dieser Mauer liegt Goethes Garten ...“

„Warum sind wir dann hier und nicht auf der anderen Seite, um Herrn Goethe zu sehen?“

„Weil er vielleicht noch im Jägerhaus ist. Ich dachte, wir sollten uns dem Frauenplan als Abschluss nähern, damit Sie den richtigen Eindruck bekämen.“

„Welchen Eindruck?“, fragte Lewis ein wenig schärfer als beabsichtigt. Er wusste nicht, ob er sich von Böttiger gegängelt oder gar genasführt fühlen sollte. Langsam störte ihn dessen Gebaren, sonderlich der Klatsch und Tratsch, und er befürchtete, dass nach dieser Vorbereitung etwas besonders Profanes zu erwarten sei.

Böttiger seufzte. „Vielleicht kennen Sie den Ausspruch, man solle Rom nicht verlassen, ohne den Papst gesehen zu haben.“

„Ich muss gestehen, dass dies mich recht wenig kümmert, da ich Anglikaner bin.“

Böttiger schaute konsterniert. „Point taken“, dachte Lewis.

„Wie auch immer“, entgegnete Böttiger. „Jedenfalls verhält es sich hier in Weimar ebenso mit Geheimrat Goethe, und Ihnen als geehrtem Gast wollte ich beides präsentieren. Also entweder das Haus am Frauenplan mit Goethe darin – oder mit eben demselben auf eben dasselbe zusteuernd.“ Er schaute betreten. „Keinesfalls sollten wir nur beiläufig daran vorbeischlendern.“

„Schlendern?“, fragte sich Lewis, wischte das Bedürfnis nach Klärung aber fort, als er Böttigers Gesichtsausdruck sah. Lewis lächelte. „Lieber Herr Böttiger! Wenn ich gewusst hätte, wie sehr Sie mir das gute, alte Weimar und seine Gefeiertheiten bekannt machen wollten! Nehmen Sie mein Lob und meinen Dank!“ Zur Bekräftigung gestattete er sich, Böttiger leicht beim Ellbogen zu fassen und wieder zum Gehen zu bewegen. „Erzählen Sie mir doch ein wenig mehr von meinem Landsmann, diesem Gore ... wissen Sie eigentlich, was dieser Name ins Deutsche übertragen bedeutet?“

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Als sich die beiden schließlich der langgestreckten Häuserfassade an der Marienstraße näherten, schlug Böttiger, der nach dem kurzen Zwischenspiel an der Ackerwand seine scharfe Zunge wiedergewonnen hatte, einen gesetzten Tonfall an.

„Master Lewis, ich muss Sie noch auf etwas vorbereiten, was Ihre Begegnung mit Goethe angeht. Sicher wissen Sie, dass er auch abgesehen von seiner geistigen Größe ein eindrucksvollern Mann ist – möglicherweise ist Ihnen das wohlgeratene Portrait bekannt, das Lips jüngst angefertigt hat … nun, das ist nicht tragisch, was sagen schon Bilder aus, aber jedenfalls muss ich Sie darauf vorbereiten, dass Frau Vulpius in ihrer Gestalt nicht wenig mit dem Herrn Geheimrat kontrastiert. Sie ist, um es fein auszudrücken, eine kleine und unansehnliche Person.“

Böttiger zog die Nase kraus. „Auch möchte ich Sie noch einmal darauf hinweisen, dass Goethe und die Vulpius ehelos zusammenleben, was dennoch zu Nachwuchs geführt hat. Begegnen Sie diesen Dingen also mit Nachsicht, ja Gleichmut.“

Lewis versprach es. Dann traten sie in den Nordflügel des Jägerhauses. Kurz hinter der offenen Tür hörten sie schon ein mit jedem ihrer Schritte anschwellendes Klappern und Scheppern. Lewis war etwas zögerlich, unangemeldet ins Haus zu treten, aber Böttiger wusste ihn zu beruhigen, schließlich sei dies besprochen, und außerdem herrsche sowieso ein Kommen und Gehen, da der Geheimrat ja umzog.

Als sie die bald ehemaligen Goetheschen Räume erreichten, fanden sie ein entsetzliches Durcheinander vor. Überall standen Kisten und Kasten, mit Hausrat angefüllt, verpackt in Tücher und Holzwolle, um einem Zerbrechen während des Transportes entgegenzuwirken. An den Wänden stachen einige helle Stellen ins Auge, die einst Ort von Bilderrähmchen gewesen sein mussten. Männer in Westen und Frauen in Schürzen huschten umher, verpackten Dinge, verstauten und verschlossen sie in den Kisten. Holzwolle stob auf. Zwei Männer balancierten auf Schemeln und hängten die Gardinen ab.

Plötzlich klirrte etwas gellend, und das emsige Laufen und Werken kam zu einem abrupten Stillstand. Die Bediensteten drehten sich um, sahen von ihren Arbeiten auf und starrten die beiden Neuankömmlinge an. Ehe Lewis oder gar Böttiger jedoch etwas äußern konnte, geschahen zwei weitere Dinge: Zuerst hob ein durchdringendes Kinderplärren an, dann folgte eine schrille Frauenstimme, die lauthals Boshaftigkeiten vermittelte, und schließlich das unterdrückte Schluchzen einer jungen Frau.

Während die Männer und Frauen unbeteiligte, ja ergebene Mienen aufsetzten und sich wieder ihren Aufgaben widmeten, reckten Lewis und Böttiger die Hälse und schauten durch eine Türöffnung in ein angrenzendes Zimmer, das ebenso kahl und ungemütlich wirkte wie die anderen. Dort stand eine kräftige Frau mit dunklem, in Locken gelegtem Haar und schalt ein Mädchen, das bereits am Boden kniete und die Scherben nicht mehr klar erkennbarer Glasgegenstände zusammenklaubte. In den sich bauschenden Rock der Frau drückte sich ein kleiner Junge mit blondem Schopf und heulte, was sein feistes, rundes Köpfchen hergab. Christiane Vulpius tätschelte ihrem Kind das Haupt auf mütterlichste Art, ließ ihren ziemlich groben Zügen aber ebenso grobe Worte entfahren. Unter den Tränen der Gescholtenen glaubte Lewis so etwas wie Zorn zu erkennen, und tatsächlich zeigten sich auch ein paar kleine weiße Zähne im hübschen jungen Mund, gefletscht wie bei einem Raubtier. Lewis betrachtete die Szene und war sich sicher, dass bei einem weiteren Wort der gestrengen Hausherrin die junge Frau vielleicht etwas Unbedachtes tun würde. Er sah, wie sich ein schmaler Daumen mit Absicht in eine scharfe Scherbe presste und einen Faden hellen Blutes entließ. Es schien, als wolle sich das Mädchen so von Ärgerem ablenken.

„Dummes Ding!“, schrie Christiane Vulpius. „Als reichte es nicht, die guten Gläser des Geheimrats zu zerschmeißen, jetzt blutet sie auch noch das Parkett voll!“

Böttiger warf Lewis einen Seitenblick zu und hob bedeutungsvoll die Brauen. Dann hob er die Stimme. „Schönen guten Tag, Frau Geheimrat.“

Der derbe Kopf der Vulpius ruckte auf dem etwas zu kurz geratenen Hals herum, und sie schoss einen Augenblitz in Richtung des Grußes, der Lewis zusammenzucken ließ. Dann verengten sich die Augen. „Ah, Böttiger!“, sagte die Vulpius kalt. „Immer da, wo es etwas zu sehen gibt, das es weiterzutratschen gilt.“

Böttiger deutete eine Verneigung an und wollte gerade antworten, als die Vulpius schon weitersprach. „Der Geheimrat ist nicht hier, Sie haben sich umsonst herbemüht. Guten Tag!“ Dann sandte sie schnell nacheinander vernichtende Blicke auf Böttiger, auf Lewis, wobei sie etwas zögerte, da er ihr unbekannt war, sowie auf das arme Ding zu ihren Füßen. Als sie den Kopf wieder hob, entdeckte sie etwas im Nebenraum, hob den Finger und rauschte in diese Richtung, den immer noch greinenden August hinter sich herziehend. „Habe ich nicht gesagt ...“

Böttiger grinste Lewis an. „Auch gut. Dann gehen wir zurück. Immerhin haben Sie nun einen Eindruck von der, ah, Dame. Ich leiste mir stets den Scherz, sie mit Frau Geheimrat anzusprechen, obwohl ... Lewis?“

Böttiger brach ab, weil Lewis in den Raum geschritten war und neben dem Mädchen in die Hocke ging, das die Glasscherben auf ein Tablett sammelte. In der Bewegung zog er sein Tuch hervor und bot es der jungen Frau an. Die sah ihn groß an, schniefte kurz, worauf Lewis erklärend auf ihren blutigen Daumen wies.

„Danke, es ist nichts“, sagte sie, und ihre Stimme klang nach all den Tränen erstaunlich gefasst.

Lewis schob das Tuch vor. „Ich bestehe darauf.“

Das Fräulein nahm das Tuch und legte es um ihren Daumen, der immer noch blutete. Das Rot fraß sich gierig in das weiße Gewebe.

„Danke“, sagte sie und bemerkte dann den fremdländischen Akzent ihres Gegenübers. „Wer sind Sie?“

Lewis warf einen Blick in den Nebenraum, in dem Christiane Vulpius nicht zu sehen, aber umso vernehmlicher zu hören war. „Kein Bekannter der Hausherrin, wenn Sie das beruhigt.“

Die junge Frau lächelte.

„Matthew Gregory Lewis. Von England. Ich nehme hier Sprachstunden.“

„Ich bin Matilde ...“, stellte sie sich vor und sah von ihrem Finger zu Lewis und wieder zurück. „Sie sind sehr aufmerksam. Ich möchte das Tuch gern waschen und Ihnen zurückgeben ...“

Lewis nickte. „Sicher. Ich wohne …“

„Bei mir“, warf Böttiger ein und bedeutete Lewis, sich zu erheben. „Kommen Sie, wir wollen Goethe nicht warten lassen.“

Lewis zögerte. „Aber ...“

„Ja, ich weiß“, entgegnete Böttiger mit wissendem Lächeln. Er lauschte übertrieben in Richtung des angrenzenden Zimmers. „Aber wenn die Frau Geheimrat sieht, wie Sie die Leute von der Arbeit abhalten, dann bekommt diese junge Person hier Ärger.“ Von nebenan waren erneut lautstarke Worte strengen Inhalts vernehmbar. „Sie selbst im Übrigen womöglich auch, also los, kommen Sie!“

Lewis stand zögernd auf, ohne den Blick von Matilda zu wenden. Sie blieb am Boden, ihr helles Kleid um sie herum ausgebreitet wie ein Blütenkelch. Lewis’ Blick fiel auf das rotgetränkte Taschentuch, dann trafen sich seine Blicke mit jenen Matildes. Er nickte, mehr wusste er nicht zu äußern. Matilde vollführte einen Augenaufschlag, der selbst Böttiger anrührte. Lewis stand wie vom Donner gerührt, bis Böttiger ihn wegführte. An der Tür wandte sich Lewis noch einmal um und sah, wie Matilde ihm nachsah und leicht die Hand hob. Die mit dem blutgetränkten Tuch.

„Lewis, nehmen Sie sich doch etwas zusammen!“, sagte Böttiger und deutete dem jungen Engländer weiterzugehen. „Sie haben noch sehr viel Zeit, jedweden amourösen Dingen nachzugehen, aber ich denke, Sie sollten einen klaren Kopf haben, wenn ich Sie Goethe vorstelle. So haben alle Beteiligten etwas davon. Es wäre nicht gut, wenn Sie durch Liebesgedanken abgelenkt sind.“

Lewis schüttelte den Kopf. „Nein, nein, es ist anders, als Sie denken ...“

Böttiger legte den Kopf schief, so gut es bei dem raschen Schritt, den er anschlug, ging. „Das bezweifle ich, Master Lewis. Verschiedene Anzeichen waren eindeutig ... seien Sie nicht so zaghaft!“

„Es ist wirklich anders, als Sie denken. Ganz anders.“ Lewis wandte den Kopf ab und marschierte stumm weiter.

Böttiger fragte sich, warum der junge Mann sich so gegen diesen Gedanken sträubte, dann schob er es auf dessen wunderliche britische Herkunft und ließ das Thema fallen. Nun hatte er Mühe, mit Lewis Schritt zu halten, der zielgenau auf den Frauenplan zustrebte.

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Als sie über den Platz auf die ausgedehnte Front des Hauses zugingen, vernahmen sie das gleiche Hämmern wie in der Ackerwand. Lewis bemerkte einen Mann, der einen offensichtlich schweren Sack durch eine der beiden Toreinfahrten rechts und links des Haupthauses schleppte. Auch sah er eine Schubkarre, auf der sich weitere Säcke befanden. Das Klopfen schwoll an, je mehr sie sich der Fassade näherten. Kurz vor den vier Stufen zum Haupteingang sah er in einer gemeißelten Inschrift über der Tür den Satz: „Zur Ehre Gottes und der Zierde der Stadt“. So übersetzte Lewis es sich aus dem Lateinischen.

Böttiger bemerkte es. „Der Spruch stammt noch vom vorigen Eigentümer. Aber der neue, Goethe, legt alles daran, ihn in Tatsachen umzusetzen. Zumindest den zweiten Teil. Er lässt das Innere nach eigenen Entwürfen gestalten.“ Böttiger senkte die Stimme. „Herzog Carl August lässt sich dies ein gerüttet Maß Geldes kosten: sechstausend Reichstaler für das Haus selbst und für den Umbau noch einmal so viel.“

Dann klopfte er an die wuchtige Tür. „Schauen wir, ob es sich lohnt ... das heißt – junger Master Lewis, machen Sie sich bereit, den großen Goethe zu treffen!“ Er klopfte erneut, während Lewis sich Kragen und Tuch zurechtrückte und sich durchs Haar fuhr. „Keine Bange, Sie sehen adrett aus“, versicherte Böttiger ihm, und als er sich wieder zur Tür drehte, taten sich die Flügel wie mit einem Donnerschlag auf.

Schreckliches Getöse drang vom Inneren der Öffnung auf sie ein, als ritte die Wilde Jagd eine Attacke gegen ihre Ohren, und eine gewaltige Wolke weißen Staubes wirbelte nach vorn.

Lewis hob die Hände und wollte die tödlichen Schwaden abwehren. Einige panische Herzschläge später sah Lewis, wie sich in diesem unirdischen Nebel und Dunst der Schemen einer hohen Gestalt verdichtete, und dort, wo bei einem Menschen sich die Augen befanden, blitzte es auf, als sich das Sonnenlicht wieder einen Weg bahnen konnte.

Lewis zuckte zurück, und Böttiger murmelte: „Na, na ...“

Johann Wolfgang von Goethe hob das genialische Kinn, glitt mit dem edlen Blick über Böttiger und Lewis und sagte: „Guten Tag, die Herren.“

Seine dunklen Augen funkelten munter. Als er Böttiger noch einmal anblickte – und er schien diesen erst jetzt so recht zu erkennen –, gingen seine Brauen so jäh nach oben, dass Lewis befürchtete, der Hirnknochen ginge mit, und das dunkle Schauen wandelte sich zum Adlerblick. Goethes Mund unter der Habichtsnase bog sich außerordentlich hin und her und nahm schließlich einen etwas unangenehmen Zug an. Als er aber Lewis fixierte, erhellte sich seine Miene in offenkundiger Neugier, und über sein braungebranntes Gesicht huschte ein Anflug von feiner Listigkeit. Lewis sah den Dichter ungläubig an. Goethe war leger gekleidet und mit Staub bedeckt. An den dunklen Hosen fanden sich gipsweiße Streifen von abgewischten Fingern. Das Haar, vorn kurz und an den Seiten glatt gekämmt, war bis über den Zopf gepudert, jedoch nicht aus modischen Gründen, sondern ebenfalls mit fein zerstoßenem Putz und Mauerwerk. Auf der mächtigen, herrischen Nase saß ein vorwitziges weißes Stäubchen, das Goethe nach Lewis’ andauerndem Starren beiläufig fortwischte.

Um Lewis eine Peinlichkeit zu ersparen, wandte Goethe sich an Böttiger. „Schön, dass Sie da sind. Führen Sie unseren jungen Engländer herein und stellen Sie uns vor!“ Höflich ließ Goethe die beiden ein.

In dem staubflirrenden Eingangsbereich sah Lewis nichts, was ihn an das Haus eines großen Dichters erinnert hätte. Staubige Fußspuren und Mörtelreste waren auf dem Boden zu sehen, hölzerne Eimer und Tragen standen herum, hier und da waren Werkzeuge an die Wände gelehnt, während andere auf Bretter gereiht waren, die auf Böcken ruhten. Handwerker riefen und huschten als Schemen umher.

Goethe führte sie durch die Räume. Böttiger nieste kurz und schnäuzte sich in sein Sacktuch. Goethe sagte: „Prosit!“ und fügte eine Entschuldigung an. „Wir haben eine tragende Wand hier im Parterre durchstoßen müssen, damit ich meine Treppe bauen kann.“ Er wies auf einen Haufen Schutt und die daran schaufelnden Arbeiter. „Ich muss zwar zwei ganze Räume hier unten aufgeben und zu einem verbinden, aber dafür haben wir den Aufgang in die obere Etage dann wie in Venedig.“ Er schaute verzückt, als sähe er in all dem Wust und der Unordnung entweder seine Erlebnisse in Italien widergespiegelt oder als könne er einen Blick in die Zukunft erhaschen. Dann beschrieb er geometrische Gesten. „Je zwei Stiegen und zwei Absätze. Wie in Venedig. Eine solche Treppe auf und ab zu steigen wird man nicht müde!“ Er hob einen Fuß, setzte ihn nieder und hob den anderen. „Ach, könnte ich doch ...“

Böttiger nieste nochmals. Goethe sah Lewis an und klatschte leicht in die Handflächen. „Aber ich schwärme und bin unhöflich! Lassen Sie uns in den Garten hinaus gehen, dort ist es ruhiger und auch weniger staubig, was der Nase des guten Böttiger zugute kommen wird.“ Er lächelte. „Die Nase ist ja der wichtigste Körperteil, wenn es um Neuigkeiten und Wahrheiten geht, nicht wahr?“ ttiger biss sich auf die Unterlippe, was Lewis half, diese Anspielung zu enträtseln. Dann wies Goethe den Besuchern den Weg, der wie zufällig durch mehrere Räume führte. Es war, als wolle Goethe dem Besucher wie beiläufig auch die andere, ansprechendere Seite seines Heimes zeigen, ohne als aufdringlich stolzer Hausherr zu gelten. Lewis erhaschte nur einige Eindrücke, die aber ausreichten, ihm zu bestätigen, dass es sich hier um die angemessene Wohnstatt eines großen Dichters handelte: Die Wände in angenehmen Farben getüncht, barocke Stuckdecken, hier und da Abgüsse von Statuen sowie Bilder, die behagliche Ausblicke boten. Einige Möbelstücke, die sich nahe am Baugeschehen befanden, waren mit Tüchern verhängt.

Am anderen Ende des Hauses angekommen traten die drei Männer durch eine Tür ins Freie, stiegen eine kurze, an dem Geländer mit Wein bewachsene Treppe hinab und versammelten sich vor einer kleinen Bank. Lewis überschaute die Beete, Wege und jungen Bäume und entdeckte auch die Mauer, auf deren anderer Seite er sich vor einer knappen Stunde befunden hatte. In den Zweigen sang ein Vogel und schaffte es nahezu, die Geräusche aus dem Inneren des Hauses zu übertönen.

Goethe klopfte sich den Staub ab und begrüßte seinen jungen Gast. „Böttiger hat mir schon einiges von Ihnen erzählt. Ihre Begeisterung für die deutsche Sprache und Dichtung ehrt mich, und von Ihrem Talent und Ihrem Fleiß bin ich erfreut, ja begeistert.“

Lewis spürte, wie er rot wurde, und trat einen halben Schritt beiseite, damit der Schatten eines Buchsbaumes auf sein Gesicht fiel, der mit seinem Zwilling in löwenkopfgeschmückten Kübeln nahe der Bank stand.

Goethe schmunzelte. „Ich hoffe, wir werden uns beizeiten noch unterhalten können. Denn leider ist es mir derzeit unmöglich, Sie angemessen zu verköstigen oder eine wohlige Atmosphäre zum Beisammensein zu schaffen. Schauen Sie mich an: ein Erdenkloß, zwar beseelt, aber staubig.“

Lewis wagte zunächst nicht, eine Miene zu verziehen, bis Goethe und Böttiger selbst zu lachen begannen, gewiss auch ein wenig über Lewis’ Gesichtsausdruck. Goethe wies mit dem Daumen auf Böttiger. „Aber immerhin hat Böttiger jetzt meine so drängende Neugier nach seinem interessanten Gast befriedigt, und sicher auch die drängende Neugier seines Gastes nach mir.“ Jetzt durfte sich Lewis mit Goethe amüsieren. Ehe jedoch auf seine Kosten gelacht würde, brach Goethe die Scherzerei ab. „Ich schlage vor, Sie, junger Master Lewis, kommen morgen Abend mit nach Tiefurt, auf den Sommersitz der Herzogin. Dort können Sie an unserer illustren Gesellschaft teilhaben, und dieser Termin ist besonders günstig: Außer Musik und Kunst gibt es ein besonderes Stück Unterhaltung, es ist nämlich ein Mann geladen, der ...“ Goethe legte den Finger ans Kinn. „Nein, das verrate ich nicht, schließlich soll es Sie unvorbereitet begeistern. Also, seien Sie dort!“

„Das verspreche ich. Ich fühle mich geehrt. Wann habe ich mich dort einzufinden?“, fragte Lewis eifrig, obwohl er keineswegs wusste, wo Tiefurt liegen mochte.

„Eine Chaise wird Sie abholen, halten Sie sich gegen Abend bereit“, flüsterte Goethe verschwörerisch und fügte hinzu: „Fürchten Sie sich nicht, wenn der Kutscher gesichtslos ist ...“

Lewis schluckte diese Kröte, lachte höflich mit und fragte sich, ob all dies vorrangig in seiner Person oder vielmehr in diesen seltsamen Deutschen begründet war. Wahrscheinlich wäre es ratsam, sich seines spukhaften Rufes zu entledigen. Am morgigen Tag wäre es also angeraten, wenn er sich von seiner charmantesten, gebildetesten, kurz, besten Seite zeigte und kein Quäntchen Grauen oder Schrecken mit ihm in Verbindung stand. Er hoffte, diese beiden, Böttiger und Goethe, würden ihn nicht allzu spleenig darstellen – und hatten ihn noch nicht so dargestellt.

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Auf dem Rückweg zur Wohnung Böttigers fragte dieser den neben ihm gehenden Lewis, was er von seiner ersten Begegnung mit dem Dichterfürsten halte.

„Nun“, begann Lewis gedehnt, und Böttiger spürte, dass ihm das „Well“ der Muttersprache fehlte, das sich viel trefflicher in die Länge ziehen ließ. „Nun, er ist sehr einnehmend und von erfreulichem Wesen und sicher auch würdevoll, wenn man ihn in anderer Kleidung antreffen könnte.“

„Gut gesprochen“, sagte Böttiger, „und weiter?“

„Was sollte ich Weiteres sagen, ich habe ihn ja nur so kurz gesehen und kaum ein Wort gewechselt. Noch kann ich keinen Grund sehen, warum ich mich selbst zu Tode schießen sollte.“ Lewis zuckte die Achseln.

Böttiger blieb stehen und klappte den Mund auf. „Um Himmels Willen! Ich glaube, Sie haben da etwas gehörig missverstanden!“

„Aber haben sich nicht verschiedene junge Herren Goethes wegen entleibt?“ Lewis sah verwirrt drein.

„Doch nicht seinetwegen, sondern wegen seines Werthers! Des Buchs!“ Böttiger hob die Hände und ließ sie wieder sinken, als er sah, wie es um Lewis’ Mundwinkel zuckte, obwohl er eine todernste Miene zur Schau stellte. „Sie foppen mich ...“

„Nur ein wenig“, sagte der und hoffte im Stillen, langsam auf den rechten Weg zu kommen. Lieber wollte er als Spaßmacher bekannt werden denn als Geisterseher. Er schmunzelte und ging weiter. Böttiger schloss auf und schüttelte den Kopf. „Sie haben mir einen Schrecken eingejagt.“

Lewis ließ das Kinn sinken. „Einmal mehr“, dachte er und seufzte kurz. Dann klopfte er sich auf die Hosenbeine.

„Nun, ich hätte auch sagen können, sie hätten sich wegen ihrer scheußlich gelben Hosen umgebracht. Wäre das lustiger gewesen?“

Böttiger verzog das Gesicht. „Master Lewis, ich glaube, Sie sollten noch ein wenig an Ihrem britischen Humor feilen, wenn Sie nicht als seltsam und verschroben bekannt werden möchten. Ich denke im Übrigen, dass Sie sich ausgezeichnet mit Wieland verstehen werden. Er schätzt einen gepflegten Witz – und auch einen ungepflegten.“ Er grüßte einen Bekannten, ohne im Anschluss einen Kommentar über ihn abzugeben. „Machen wir, dass wir heimkommen. So eine Tour regt den Appetit an.“

Bei Tisch erzählte Böttiger seiner Gemahlin ausführlich von den Ereignissen des Nachmittags. Er begann mit Goethes ungewöhnlichem Auftritt und berichtete dann weiter. Auch sparte er nicht mit Seitenhieben auf Christiane Vulpius, ereiferte sich sogar ein wenig, so dass ihn Eleonore Böttiger zur Mäßigung ermahnen musste.

„Wie dem auch sei“, sagte Böttiger und kräuselte spöttisch die Lippen. „Immerhin ist im Jägerhaus auch das eine oder andere Erfreuliche passiert, nicht wahr, mein junger Lewis?“

Der Engländer tat, als verstünde er nicht, und versteckte das Gesicht hinter seinem Weinglas, als er einen verlegenen Schluck nahm.

„Da es dem jungen Herrn unangenehm zu sein scheint, gehe ich davon aus ...“, begann Eleonore, und Böttiger setzte ihre Rede fort: „Richtig ... dass es sich um eine schüchterne Kontaktaufnahme mit der angenehmeren Seite Weimars handelt. Nicht trockene Gelehrte und erhabene Dichter, sondern vielmehr die hübschen Töchter.“ Böttiger betete sogleich das ganze Erlebnis herunter, und Lewis war ihm dankbar, dass er es nicht unnötig ausschmückte. Lewis trank weiter, als wolle er genug Wein zu sich nehmen, um die hektische Röte seiner Wangen auf den Alkohol schieben zu können. Eleonore Böttiger klatschte in die Hände. „Das ist ja zauberhaft! Wer war das schöne Kind?“

„Ich weiß nicht“, sagte ihr Mann. „Sie half bei den Packarbeiten, war aber keine Dienstbotin. Möglicherweise eine Tochter oder Nichte aus dem Freundeskreis der Vulpius.“

„Ah, ja, die Lustigen Weiber von Weimar“, meinte Eleonore Böttiger und fügte für Lewis hinzu: „So nennt man die erlauchte Gesellschaft von Damen, mit denen Frau Vulpius die Stunden im Geplauder verbringt.“

Normalerweise hätte Lewis fragen mögen, ob sich dieser Titel von jenem Shakespeare-Stück ableiten mochte, doch hatte er, seit das Gespräch auf seine herbeigeredete Liebschaft gekommen war, Eleonore Böttiger scharf, aber unauffällig beobachtet. Seit er in diesem Hause angekommen war, hatte er sich über deren Aufmerksamkeit und Freundlichkeit seiner Person gegenüber wohl gefreut, doch war ihm irgendetwas daran nicht geheuer. Oder vielmehr seltsam, denn es schien ihm, als gehe die Frau in ihrem Benehmen doch ein wenig über die Grenzen des anständigen Umgangs hinaus. Allerdings geschah dies offen im Beisein ihres Mannes, von der heimlichen Buchübergabe einmal abgesehen, und an Böttiger selbst hatte er keinen Missmut erkennen können. Als der nun jene Matilde erwähnte, sah Lewis in Eleonores Augen aufrichtige Freude. Matilde. Lewis verscheuchte den Gedanken und konzentrierte sich wieder auf das Gespräch.

„Zu den Freundinnen der Vulpius gehören auf jeden Fall die Wernern und die Burkhardtin. Ich wüsste aber nichts von weiblichen Verwandten im besagten Alter“, sagte Eleonore Böttiger und sah von ihrem Mann wieder zu Lewis hinüber. Sie schmunzelte. „Aber ich denke, es wäre keine Schwierigkeit, das herauszufinden.“

Böttiger nickte eifrig. „Schließlich ist da noch die Sache mit dem Taschentuch. Wenn es der jungen Dame so ernst ist, wie es mir persönlich schien, dann dürfte demnächst ein frisch gebleichtes Stücklein Stoff über diese Schwelle flattern, eventuell mit einem zarten Wink ...“

„Aber wie soll sie denn herausfinden ...“, warf Eleonore Böttiger ein.

„Sie weiß doch, dass Master Lewis bei mir wohnt, und die raue Begrüßung der Vulpius ist wohl niemandem im Raum entgangen. Außerdem bezweifle ich nicht, dass es sich rasch herumsprechen wird, dass ein attraktiver und schlauer junger Mann neu in Weimar eingetroffen ist.“ Böttiger lachte. „Morgen geht es für ihn ja erst einmal nach Tiefurt zur Herzogin, das ist der erste Schritt zur weiteren Bekanntheit, und eine große Ehre dazu.“

Lewis räusperte sich und beugte sich ein wenig vor. „Wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf – ich bekomme den Eindruck, als wollten Sie mich ... verkuppeln?“

Die Böttigers schwiegen kurz und tauschten einen Blick, aus dem Lewis wenig zu lesen vermochte. Dann sagte Böttiger unbekümmert: „Aber nein, aber nein. Es ist nur so, dass ein jeder Autor seine Muse braucht, nicht wahr? Es hat zwar nicht jeder so ein Glück wie ich – wobei ich nur auf den Herrn Geheimrat verweisen möchte ...“ Eleonore Böttiger konnte sich nicht entscheiden, ob sie ihrem Mann danken oder ihn rügen sollte und schnappte nur unentschieden nach Luft, wobei ihre Augen aufleuchteten.

„Aber so es zum Erfolg führt, soll es so sein, und Sie, lieber Lewis, sollen doch nicht ungeküsst bleiben ... von der Muse.“

Lewis glaubte zu spüren, dass nach den vorigen Auswirkungen von Scham und Wein der Anflug einer dritten Röte über sein Gesicht wanderte. Er gestattete es sich aber nicht, seinem Zorn Oberhand über die Höflichkeit gegenüber den Böttigers gewinnen zu lassen. Er fühlte sich bevormundet, ja gegängelt. Es gelang ihm, seine Augen nicht allzu schmal werden zu lassen. Allerdings presste er die Zähne zusammen, als er sagte: „Herr Böttiger, ich hatte Ihnen doch schon, als wir den Ort dieser Begegnung verließen, mitgeteilt, dass es sich anders verhält, als Sie annehmen.“

Böttiger hatte den Stimmungsumschwung Lewis’ nicht bemerkt. „Aber weshalb denn nicht? Es ist doch nichts Verwerfliches daran ...“

„Die junge Dame hat keineswegs in der Art mein Herz gerührt, wie Sie vielleicht denken, es ist vielmehr so, dass ...“ Lewis hatte, schon als er den Satz begonnen hatte, fieberhaft nach einer Ausrede gesucht, die für Außenstehende plausibel sein mochte. Er rettete sich in etwas Naheliegendes. „... sie mich an meine Mutter erinnerte. Ich musste ihr helfen.“

Lewis tastete nach seinem Glas, während die Böttigers enttäuscht schauten. „Das tut uns leid“, begann Eleonore Böttiger. „Ihre werte Frau Mutter, die verschiedene ...“

„Bitte?“, fragte Lewis, und Böttiger erklärte. „Ihre verstorbene Frau Mutter ...“ Lewis nickte eilig, dann nahm er die Bewegung zurück und ließ den Kopf sachte sinken.

„Oh ja.“ Er trank. Als er das Glas absetzte, bedauerte er die Böttigers, die nach der vorherigen frohgemuten Stimmung nun traurig über den Tisch schauten. Lewis war erstaunt, dass das Paar so betroffen auf dieses Thema reagierte, und es tat ihm leid, dass er mit dem heiklen Thema seiner Mutter gekontert hatte, zumal ... er schob den Gedanken beiseite und sprach rasch in die Stille hinein. „Aber Sie müssen sich keine Sorgen um meine Arbeit machen. All das hier, die freundliche Atmosphäre, ist Musenkuss genug. Endlich finde ich hier die Möglichkeiten zu schreiben: In Paris war die Stadt selbst zuviel Hemmnis, und noch weiter zurück, ich erinnere mich an Oxford, dort musste ich meine Schriften verbergen, war also keineswegs mit Freiheit im Geiste gesegnet. Also, bitte, seien Sie ebenso guten Mutes wie ich.“

Die Böttigers nickten. Ein wenig mechanisch, wie Lewis argwöhnte. Ihm war die drückende Stimmung unangenehm, so entsann er sich des Gesprächs über den humorvollen Wieland.

„Herr Böttiger, Sie sprachen doch über den großen Wieland und davon, wie er einen guten Scherz zu schätzen weiß. Meinen Sie, dass dies ihn nicht auch befähigt, die von Ihnen beklagten häufigen Umzüge zu ertragen?“

Mit einem Mal schluchzte Eleonore Böttiger auf, presste die Hand auf den Mund. Ehe Böttiger sich rühren konnte, war sie mit einer tränenerstickten Entschuldigung vom Tisch aufgestanden und aus dem Raum gelaufen. Lewis sah ihr erschrocken nach, den Mund offen. Böttiger legte die Hand über die Augen, und sie bebte, als er mit den Fingern seine Stirn massierte.

„Was habe ich gesagt?“, fragte Lewis zögerlich und kläglich. „Wie konnte ...“

Böttiger sah auf, und seine Augen glänzten feucht. Der unglückliche Blick auf dem sonst so frischen Gesicht erschreckte Lewis, und er fürchtete das, was jetzt kommen mochte. Böttiger atmete tief durch, doch seine Atemzüge waren unregelmäßig, seine Nasenflügel vibrierten. Der erste Satz fiel ihm offenkundig schwer.

„Lewis, Sie müssen wissen, dass sich ...“ Er schluckte. „Ich will es nicht hinauszögern, sondern knapp schildern, damit es ausgesprochen ist und dann schnell vergessen. In diesem Haus versuchen wir es schon seit fast einem Jahr, und doch bricht es immer wieder durch, wie auch anders ...“

„Sprechen Sie“, sagte Lewis sanft, um Böttiger Mut zu machen, dem Mann, der kaum doppelt so alt war wie er selbst und ihm doch so väterlich begegnete.

Böttiger sah ihn dankbar an. „Es war an einem Septembertag im vergangenen Jahr. Ich hatte die Stellung angenommen, die Johann Herder mir angeboten hatte. Ich fuhr mit meiner Gemahlin von meinem damaligen Rektorposten in Bautzen hier nach Weimar. Bei uns waren unsere beiden Söhne, Karl und ...“

Lewis öffnete den Mund, dann schloss er ihn, denn er ahnte, was kommen würde.

Böttigers Augen füllten sich mit Tränen. „... August. In Jena fiel der kleine August durch einen furchtbaren Unglücksfall aus dem Wagen und starb bald darauf.“ Er barg das Gesicht in den Händen. Lewis wollte erneut etwas äußern, doch bevor ihm das rechte Wort über die Lippen kam, hatte Böttiger sich wieder gefasst.

Er wischte sich übers Gesicht und sah gefasst zu Lewis herüber. „Sie verstehen, warum wir diesen entsetzlichen Tag verfluchen und jegliche Erinnerung daran besonders meine Frau ins Herz trifft.“

„Ich bedaure, dass ich dies ausgelöst habe“, sagte Lewis mit ehrlichem Bedauern.

„Sie trifft keine Schuld. Sie konnten ja nicht wissen ... vielmehr muss ich Ihnen dankbar sein.“

„Wofür?“, fragte Lewis erstaunt.

„Für Ihre Anwesenheit. Seit Sie hier sind, Master Lewis, habe ich Eleonore so oft lachen hören wie seit Monaten nicht mehr. Sie ist viel heiterer. Verstehen Sie das nicht falsch, nicht, dass sie zuvor etwa immer melancholisch oder bedrückt gewesen wäre. Aber durch Sie hat sie einen neuen Enthusiasmus für alles entwickelt. Sie müssten hören, wie sie ihren Freundinnen berichtet – und selbst mir, obwohl ich Sie doch leibhaftig erlebe.“

„Das ehrt mich. Aber was gibt es denn zu berichten? England bietet nichts Besonderes und Paris, nun ja. Ich persönlich finde ...“

„Genau das ist es doch! Sie sind nicht aus Weimar, nicht aus Deutschland! Sie haben den halben Kontinent bereist und dabei, Gottlob, nichts Tragisches erlebt, und all dies Abenteuerliche ist es, was meine Frau so durstig in sich aufnimmt.“

„Aber Sie sehen, was ich trotz alldem angerichtet habe ...“

„Oh, Lewis“, sagte Böttiger und legte die Arme über den Tisch, als wolle er die Hände des Engländers ergreifen und dankbar drücken. „Das war ein unglückseliger Zufall, der sich nicht wiederholen wird. Wichtig ist, dass es in diesem Haus allgemein wieder fröhlicher zugeht. Hoffen wir, dass dies besteht, solang Sie hier sind, und auch darüber hinaus.

Lewis streckte die Hand aus und gab sie Böttiger, der heftig zudrückte. „Ich verspreche es Ihnen“, sagte Lewis. „Sofern es in meiner Macht steht.“

„Danke“, sagte Böttiger und versuchte ein aufmunterndes Lächeln, das mehr ihm selbst galt als Lewis. Dann stand er auf. „Ich möchte nach meiner Gemahlin sehen.“

Lewis nickte. „Ja, und ich nach der Muse.“

Nacheinander verließen sie den Speiseraum.

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Den Abend hindurch arbeitete Lewis angespannt, auch um sich von dem abzulenken, was der Tag an Unerfreulichem geboten hatte. Während der Lektionen stahl sich immer wieder das Bild eines blutigen Tuches vor sein geistiges Auge, überlagert von dem einer jungen, blonden Frau mit blauen Augen. Als die Bilder in immer schnellerer Folge auftauchten, warf er die Schreibfeder auf die Tischplatte und rieb sich die Augen. Doch als er die Hand sinken ließ, wanderte diese wie aus eigenem Antrieb zu der Schublade, in der Lewis die ominösen Schriftstücke vom Mittag hatte verschwinden lassen. Er erinnerte sich mit Widerwillen an die wirre Schrift, die an unheimliche Kratzspuren gemahnte, und an den noch furchtbareren Inhalt.

Lewis riss die Hand zurück. Er stand eilig auf, entkleidete sich und floh in die scheinbar sichere Welt des Schlafes.

In seinen Träumen begegneten ihm die toten Söhne, von denen man ihm berichtet hatte. Zwischen gewaltigen, rotierenden Wagenrädern tauchte der kleine August Böttiger auf und winkte ihm stumm aus blinden Augen zu. Der Sohn der gespenstischen Witwe stand an Bord eines Schiffes, unter knatternden Segeln, die ihn bald einhüllten und ins Meer sinken ließen, tief, tief hinab. Tief, tief unten. Lewis tauchte aus seinem Traum empor, und von seiner Stirn rann der kalte Schweiß wie Seewasser, als sei der Alptraumozean über die Ufer der Realität getreten.

Draußen war dunkelste Nacht. Kein Uhrenschlag oder Nachtwächterruf war zu hören, und ob der Mond schon auf- oder bereits untergegangen war, konnte Lewis nicht erkennen. Mit einem Mal schien der Alptraum auf sein waches Gemüt stärker zu drücken als auf seinen schlafenden Geist, und so stand er auf, öffnete das Fenster und streckte den Kopf in die Nachtluft, die sein feuchtes Haar trocknen ließ und seine Stirn kühlte. Still war es und friedlich. Lewis konnte weder einen Hund noch einen Nachtvogel hören, die Finsternis schien in jeder Beziehung unbelebt. Bis auf ...

Lewis lauschte.

Er glaubte, ein schwaches Pochen zu hören oder vielmehr zu spüren. Seine Hand tastete nach seinem Herzen und erfühlte dessen Schlag, der jedoch nicht mit dem Rhythmus des Pochens übereinstimmte. Lewis reckte den Hals und horchte angestrengt. Fest auf das Fensterbrett gestützt versuchte er, die Quelle des Geräusches zu ergründen. Er wusste nicht, ob er es sich nur einbildete, aber im gleichen Maße, wie er die Töne hörte oder zu hören glaubte, schien er sie auch zu spüren, als leiteten die Mauern sie in seine Handflächen. Lewis begann zu frieren. Durch seinen Kopf zogen Bilder von lebendig Begrabenen, die tief in der Erde ihres unabwendbaren Schicksals harrten, sich ungehört hörbar machen wollten, in dem sie mit blutigen Knöcheln gegen ihre Gefängnismauern aus Stein und Erde klopften. Mit den eigenen Knöcheln. Oder den Knochen der längst Verstorbenen. Tief, tief unten.

Lewis schüttelte den Kopf, dass die schrecklichen Gedanken mit den kalten Schweißtropfen davonspritzten, warf das Fenster zu und floh in tiefen Schlaf.