Achtes Kapitel

In welchem in Gesichtern und anderem gelesen wird

Einige Stunden später waren sie auf dem Rückweg nach Weimar. Lewis saß in trockener, geliehener Kleidung und in eine Decke gehüllt in einer Kutsche und nieste tüchtig. Ihm gegenüber räkelte Goethe sich auf dem Polster. Dem hatte das kalte Bad im Bergwerksstollen nichts anhaben können, und er sah auch in den geborgten Kleidern passabler aus als Lewis, dem Hosen, Hemd und Rock um den Körper schlotterten. Der Engländer dachte an seine von Feuer und Wasser geschundenen Sachen, die in der Packkiste des Wagens ihrer Reinigung harrten, und hoffte, sie würden sich ebenso wiederherstellen lassen wie seine Gesundheit. Er nieste zum wiederholten Male.

„Prosit“, sagte Goethe und runzelte die Stirn, als sich Lewis lautstark ins Taschentuch schnäuzte, so als würde er befürchten, der junge Engländer puste sich die Seele aus dem Leib. „Dafür, dass ich viel länger unten in den Fluten stand und Sie doch ein wenig jünger sind als ich ...“ Er brach ab, als Lewis’ Leidensmiene aus dem Tuch auftauchte. „Schon gut“, meinte Goethe, „ich schweige und bin froh, dass es so glimpflich ausging. Dem Himmel sei Dank, dass Krafft die infame Lüge Muntzers sogleich erkannte und die Bergleute zur Rettung antreiben konnte.“ Er schaute aus dem Seitenfenster, wo Krafft auf seinem Pferd neben der Kutsche her trabte und gut gelaunt auf einem Grashalm kaute. Die Pferde, die Goethe und Lewis auf dem Weg nach Ilmenau benutzt hatten, liefen angebunden hinter der Kutsche drein.

Goethe wandte sich wieder an Lewis. „Wie ärgerlich nur, dass Muntzer entkommen konnte. Mit meinem Mantel und allem, was darin war!“ Er verzog den Mund, und Lewis versteckte das Antlitz wieder im Schnupftuch, um nicht zeigen zu müssen, wie leid er dieses Thema war. So ging das nun schon eine ganze Weile in schönster Regelmäßigkeit.

„Aber“, fuhr Goethe fort, „den wird’s auch noch erwischen, ungeschoren kommt der keinesfalls davon.“

„Dann“, ergänzte Lewis, und dabei näselte er ein wenig, „wird sich auch offenbaren, was er im Schilde führte, als ...“ Er nieste heftig.

„Aber sicherlich!“, knurrte Goethe. „Wenn der Hundsfott erst einmal gefasst ist, dann ...“ Er brach ab, als Lewis scheinbar gar nicht mehr mit dem Niesen aufhören wollte. Schließlich sank der Engländer matt ins Polster zurück. Seine Lider schienen schwer, und er vermochte sie kaum offen zu halten.

„Herrje!“ Goethe schaute mitleidig. „Was für eine Erkältung! Aber wir sind bald in Weimar, da stecken wir Sie ins warme Bett, und Sie kurieren sich richtig aus.“ Goethe überlegte. „Dann kommen Sie zu mir, auf einen Besuch, und ich bewirte Sie, dass Sie sich wie neugeboren fühlen, und anschließend, da es für Sie besser ist, sich demnächst in trockenen Räumen aufzuhalten, kommen Sie in den Mittwochsclub, und dort lernen Sie endlich den dicken Bode kennen, der sich sehr interessiert gezeigt hat an ...“

Lewis hörte wie von Ferne, dass Goethe ohne Unterlass weiterplauderte. Die Kutsche rüttelte leicht, und er glaubte, auch das Klappern der Pferdehufe zu vernehmen, ab und an ein Lachen Kraffts, mit dem er dem Mann auf dem Kutschbock einen Scherz zuwarf, und dann konnte Lewis die Augen nicht mehr offen halten, und endlich überkam ihn der Schlaf.

Irgendwann vor den Toren Weimars hatte sich Krafft verabschiedet und war in eine andere Richtung geritten. Lewis hatte er einen freundlichen Gruß und Wünsche mit auf den Weg gegeben und mit Goethe einige wissende Blicke und vage Andeutungen ausgetauscht. In der Stadt fuhr die Kutsche zunächst zu Goethes Haus am Frauenplan, und dort stieg der Geheimrat aus. Während Bedienstete die Pferde, auf denen sie zum Ort des Brandes geritten waren, fortführten, schaute Goethe noch einmal durch das Fenster in das Kutscheninnere.

„Sie verzeihen, dass ich Sie nicht bis in die Jakobstraße begleite, aber mir steht der Sinn nicht so recht nach einer Plauderei mit Böttiger, die wahrscheinlich eher in ein Verhör ausarten würde. Sie werden auch nicht darum herumkommen, doch dürfte Sie Ihr Zustand im Augenblick vor dem Schlimmsten bewahren.“ Lewis verzog das Gesicht, und so fügte Goethe hinzu: „Natürlich wünsche ich Ihnen baldige Genesung und werde mich sobald als möglich bei Ihnen melden. Bis dahin halten Sie sich wacker, Lewis. Sie haben in den vergangenen Tagen genug erlebt, um noch Ihre Enkelkinder damit zu gruseln, und das könnte Ihnen auch anderweitig zugutekommen, nicht wahr?“ Er zwinkerte spitzbübisch und rief dann dem Kutscher den Befehl zum Abfahren zu. „Auf bald!“, grüßte er Lewis und hob kurz die Hand.

Lewis erwiderte matt die Geste und fühlte schon wieder ein Niesen kommen. Er wollte nur noch so schnell wie möglich in sein Bett.

Vor dem Haus der Böttigers angekommen stieg er mit wankenden Beinen aus. Auf der Fahrt hatte er, ohne zu einem befriedigenden Ergebnis zu kommen, darüber nachgedacht, wie er auftreten könnte, ohne ein allzu erbärmliches Bild abzugeben: In die Decke eingehüllt – die er nicht gerne missen mochte, da es ihn allzu sehr fröstelte – würde er wie eine alte Frau wirken. Allerdings verbarg sie seinen erbärmlichen Aufzug vor den Augen etwaiger Umstehender. Schließlich kam er mit sich überein, die Decke wie einen Mantel um seine Schultern zu drapieren, und sich so wenigstens einen Rest Würde zu bewahren. Als er so zwischen Haus und Kutsche stand und an der Decke zupfte, flog auch schon die Tür auf, und Karl Böttiger und Eleonore stürzten auf ihn zu.

Böttiger trug eine Miene zur Schau, als kehre sein lang verlorener Sohn zurück. Er strahlte über beide Wangen, die Lewis ein wenig eingefallener als sonst vorkamen, sich aber plötzlich wieder zu alter Pracht füllten und mit Farbe überzogen. Böttiger breitete in einem Willkommensgruß die Arme aus und wollte schon die Hände um Lewis’ Schultern schließen, als Eleonore ihm zuvorkam. Sie umschlang Lewis und drückte ihn fest, um ihn ebenso schnell wieder loszulassen, als sei ihr erst jetzt aufgegangen, was sie tat. Sie errötete.

Doch bevor Lewis reagieren konnte, krachten Böttigers Handflächen von links und rechts gegen ihn, dass er bis ins Mark erschüttert wurde. Eleonore hatte einen halben Schritt zur Seite gemacht und sah ihn kaum an, schmunzelte aber. Böttiger tönte laut. „Lieber Lewis! Wir haben uns so gesorgt und sind jetzt glücklich, Sie wohlbehalten wieder hier zu haben. Die erste Nachricht Goethes ließ uns aufatmen, aber die zweite ...“ Er sah, wie seine Frau eine abwinkende Geste machte. Böttiger beäugte Lewis, als sähe er dessen Aufzug zum ersten Mal. „Ja wie kommen Sie denn daher ...“

„Karl!“, rief Eleonore Böttiger. „Jetzt lass uns nicht hier auf der Straße stehen! Der Herr Lewis hat sich verkühlt und braucht nichts Dringenderes als Wärme.“ Sie blickte von ihrem Mann zu Lewis und rasch wieder zu Karl zurück. „Das ist nicht mit Worten von dir getan! Ins Haus mit ihm.“

Die Böttigers nahmen Lewis in ihre Mitte und führten ihn hinein. Vor der Treppe ließ Eleonore Lewis’ sanft umfassten Arm los. „Karl, bring ihn auf sein Zimmer. Ich sage Gine, sie soll heißes Wasser bereiten, und dann bekommt Herr Lewis ein Fußbad und einen Kräutertee.“ Damit lächelte sie Lewis an. In ihren eigenen Wänden schien sie weniger Scheu zu haben als draußen auf der Straße.

„Danke“, flüsterte Lewis und nieste dann so heftig, dass er den ihn stützenden Böttiger mit erschütterte. Eleonore sah ihn mitfühlend und aufmunternd zugleich an und verschwand dann in Richtung Küche. Böttiger führte Lewis die erste Treppenstufe hinauf und flüsterte dann, als befürchte er, Eleonore könnte es hören: „Jetzt erzählen Sie mal, wie war denn das mit ...“

Lewis nieste.

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Er nieste auch noch einige Stunden später. Aber immerhin lag er da in einem molligen Nachthemd unter dicken Decken in seinem Bett. Er hatte sogar eine von Böttigers Nachtmützen auf dem Kopf, so dass kaum seine Nasenspitze zu erkennen war. Draußen war es bereits dunkel. Innerlich und äußerlich mit allerlei Kräutersud behandelt, fühlte er sich einigermaßen wohl, wenn auch ein Fünkchen Misstrauen in ihm aufgeflammt war: Was, wenn die gute Gine etwas zu tief in den Kräutertopf gegriffen und ihm irgendetwas Übles hineingemischt hatte? Schließlich hatte sie nicht die beste Meinung von ihm. Aber Lewis war dann doch sicher, dass Eleonore Böttiger alles, was seine Genesung betraf, gewissenhaft überwachen würde.

Die herzliche, ja sehr herzliche Begrüßung war Lewis trotz seines Zustandes aufgefallen und ließ auch frühere Dinge in anderem Licht erscheinen. Dazu kam die Bemerkung Goethes, die dieser im Gasthof von sich gegeben hatte und die Lewis zu der Überlegung führte, warum Böttiger als Klatschbase verschrien war, wenn der Geheimrat sich doch selbst um jede Kleinigkeit des gesellschaftlichen Lebens um ihn herum scherte. Dennoch, was Eleonore Böttiger betraf, so musste Lewis sich eingestehen, dass die junge Frau ihm nicht allein von den gastgeberischen Pflichten her so überaus freundlich zugetan war. Auch die Deutung, die Böttiger damals im Speiseraum geliefert hatte, dass Eleonore ihn, Lewis, als aufregenden, da weitgereisten Fremden ansah, schien nicht alles erklären zu können. Eleonore Böttiger schien ihm auch aus ganz anderen Gründen zugetan zu sein, und das, was Lewis nun mutmaßte, erfüllte ihn mit Scham und schlechtem Gewissen dem Hausherrn gegenüber, und wie er so schwitzend und schläfrig unter seinen Decken lag, fragte er sich, warum ihm auf einmal das Bild des jungen Herder durch den Kopf schoss.

Es klopfte. Lewis zuckte zusammen und brachte ein belegtes „Ja?“ hervor. Die Tür öffnete sich sachte, und nachdem warmer Kerzenschein ins Zimmer gefallen war, steckte Eleonore Böttiger ihr Gesicht herein.

„Geht es Ihnen gut?“, fragte sie sanft.

„Oh ... oh, danke, ja, ich ...“, haspelte Lewis und war dem Himmel dankbar, dass sich prompt ein Kitzeln in seiner Nase bemerkbar machte, das ein Niesen ankündigte. Er kam dem Drang mit Freude nach, da er ihn einer Antwort enthob.

„Das klingt aber nicht so“, meinte Eleonore und trat schnell ins Zimmer.

Lewis zog sich die Decke noch höher vors Gesicht. Ihm wurde auch noch wärmer.

Eleonore sah ihn an und lachte. „Ich denke, das wird sich legen, wenn Sie gut geschlafen haben. Ich habe etwas für Sie.“

Jetzt erst bemerkte Lewis, dass sie in der anderen Hand einen Tonbecher trug, der mit einem kleinen Lappen umwickelt war. Sie stellte ihn auf dem Nachtkasten ab. „Heiße Milch mit Honig, danach schlafen Sie wie ein ... wie Karlchen, zum Beispiel.“ Sie sah versonnen auf den Dampf, der aus dem Gefäß stieg, und als sie Lewis anblickte, tat er rasch so, als stellten die dünnen Schwaden für ihn das faszinierendste aller Schauspiele dar, um ihrem Blick nicht begegnen zu müssen.

„Sie müssen allerdings noch etwas mit dem Trinken warten, es ist noch sehr warm.“

Lewis schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dies möge nicht bedeuten, Eleonore wolle hier bei ihm abwarten, bis es soweit sei. Er fühlte sich in seinem Bett schrecklich hilflos, obwohl er nicht wusste, was er denn befürchtete.

„Herzlichen Dank“, flüsterte er, und Eleonore sah ihn daraufhin nur an. „Ich hoffe“, fuhr er leise fort, „ich bin bald auf den Beinen und bereite Ihnen keine Mühe mehr.“

„Machen Sie sich keine Sorgen, das ist doch keine Mühe.“ Sie blickte umher, als suche sie eine Falte, die sie geradezupfen konnte, um es Lewis bequemer zu machen. „Möchten Sie noch eine Decke oder ...“

„Nein, nein“, entgegnete Lewis rasch. „Alles bestens.“ Er überlegte fieberhaft. „Ich bin nur ... entkräftet.“

„Oh, dann werde ich Sie nicht weiter stören, Sie brauchen den Schlaf. Trinken Sie aber auf jeden Fall noch die Milch.“

Lewis richtete sich auf, griff nach dem Becher, nahm vorsichtig einen Schluck und nickte.

Eleonore lächelte und ging zur Tür. Lewis fühlte sich befreit, als sie ihn endlich verließ. Dann aber drehte sich Eleonore noch einmal um, das Kerzenlicht flackerte über ihre Züge, und Lewis spürte Wärme in seinem Magen aufwallen, was auch an der Milch liegen mochte, die nun ihr Ziel erreicht hatte.

„Gute Nacht“, sagte Eleonore.

„Gute Nacht“, antwortete Lewis und war froh, dass es nur der Gruß war, der Eleonore vom Gehen abgehalten hatte. „Morgen wird es mir bessergehen“, fügte er hinzu und hob den Becher mit Milch.

„Sehr schön“, flüsterte Eleonore und schlug die Augen nieder. „Dann kann ich Sie sprechen. Ich muss Ihnen nämlich etwas gestehen ...“

Rasch drehte sie sich um, entschwand durch die Tür und schloss sie hinter sich, wodurch es wieder dunkel im Raum wurde. Lewis saß da, den Becher in der Hand, und musste achtgeben, nichts zu verschütten, so sehr war er erschrocken.

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In der Nacht stürmte alles auf ihn ein, was ihm tags zuvor widerfahren war, und sein fiebriger Geist formte daraus Gebilde, die ihn enger umschlossen als die dunklen Stollenwände zuvor und, so flüsterte es ihm zu, auch die Wände seines Sarges in ungewisser Zukunft.

Gestaltgewordene, verfestigte Finsternis lastete auf seiner Brust, nahm ihm den Atem und drückte ihm die Augäpfel in die Höhlen. Im Inneren seines Schädels war er gefangen, sah das Knochengewölbe als eine düstere Felsenhöhle, durch den ein eiskalter Wind fegte. Dicke, dumpfe Dünste nahmen ihm den Atem.

Da sah er eine Frau aus dem Nebel treten, deren goldenes Haar vor Nässe glänzte. Sie trug ein Ordenskleid, das mit einem Mal wie Nebel zerfaserte und einer Robe wich, die Hals, Arme und Brust freiließ und von goldgewirkten Borten geschmückt war. In ihnen sah Lewis Lettern, die sich schlängelten und bewegten wie arges Gewürm. Unter der Brust der Frau war das Gewand mit einem Gürtel von prächtigen Steinen zusammengehalten, in dem ein Dolch steckte. In der einen Hand hielt die Frau eine goldene Rute aus dünnen Zweigen, die sie hob, worauf sich ihre Haare im Wind zerstreuten und über die Schultern zurückwehten. Ihre Augen glänzten, und alles an ihr flößte Lewis Achtung, Furcht und Bewunderung ein.

Auf eine Geste hin folgte Lewis ihr, und sie führte ihn durch Gänge, in denen Sarkophage standen und hin und wieder Knochen und Gebeine auf der Erde lagen. In einer weiteren Höhle bedeutete die Frau ihm stillzustehen. Sie zog um ihn und sich einen Kreis auf die Erde, holte eine kleine Phiole aus dem Gürtel und verschüttete bedächtig einige Tropfen des Inhalts. Dann beugte sie sich, sprach einige misstönende, unverständliche Worte, und auf einmal ging aus der Erde eine blasse, schweflige Flamme hervor, die sich nach und nach in der ganzen Höhle, den Kreis ausgenommen, worin die Frau und Lewis standen, verbreitete. Sie stieg an den Wänden bis zur Decke auf, und so glich die Höhle einem unermesslichen, mit einer blauen, hin und her schwebenden Helle erleuchteten Gebäude. Das Feuer war ohne Hitze, vielmehr nahm die Kälte immer mehr zu.

Die Frau fuhr mit ihren Zauberformeln fort, zog allerlei Dinge aus ihrem Gürtel, deren Wirkungen Lewis unbekannt waren, und unter denselben waren drei Menschenfinger und ein Agnus Dei, das sie zerriss und ins Feuer warf, welches sie verzehrte. Auf einmal erhob sie ein entsetzenerregendes Geschrei und schien von Verzweiflung ergriffen zu sein. Sie raufte sich die Haare, schlug sich wie eine Rasende auf die Brust, zog den Dolch aus dem Gürtel, durchstach sich den linken Arm und ließ, außerhalb des Kreises, eine Menge Blut fließen, das sich in eine dicke Wolke verwandelte, die sich bis zum Gewölbe erhob. Im nämlichen Augenblick ertönte ein heftiger, widertönender Donnerschlag, und die Erde zitterte unter ihrer beider Füße.

Zitternd erwartete Lewis, was sich dort so fürchterlich ankündigte. Im Traum – und auch in der Wirklichkeit – lief ihm Schweiß über die Stirn, und beinahe sank er zur Erde. Wie überrascht war er jedoch, als sich, sobald der Donner verhallt war und sich die Wolke verzogen hatte, eine liebliche Musik hören ließ und ein Jüngling von außerordentlicher Schönheit erschien. Er war nackt, ein Stern blinkte auf seiner Stirn, und seine Schultern waren mit karmesinfarbigen Flügeln bewachsen. Ein buntes, feuriges Band hielt sein Haar zusammen, dessen wellenförmige Locken um sein Haupt spielten und in zierlicher Durchwindung mehr als Edelsteine glänzten. Diamantene Ringe schmückten seine Arme und Finger, und in der Rechten hielt er einen Zweig, der einem Myrtenzweige glich. Sein Leib war mit Strahlen und rosafarbigen Wolken umgeben, und seine Erscheinung war von einem angenehmen Geruch begleitet, der die ganze Höhle erfüllte.

Lewis hielt die Augen staunend auf ihn gerichtet: Aber so schön ihm die Gestalt des Jünglings vorkam, so bemerkte er doch in seinen Augen eine Art von wilder Unruhe und in seinen Zügen eine geheimnisvolle Melancholie, welche anzeigten, dass er ein gefallener Engel sei, und ein geheimes Schrecken erregten.

Die Musik verstummte. Die Frau wandte sich in einer Lewis unverständlichen Sprache an den Geist, der wieder antwortete. Sie schien auf etwas zu bestehen, was er ihr nicht gewähren wollte. Er warf ab und an Blicke auf Lewis, die diesen sich fürchten machten. Die Frau hingegen wurde durch seine Weigerung immer ärgerlicher: Sie sprach heftiger und in befehlshaberischer Stimme, und ihre Gesten zeigten, dass sie mit Rache drohte. Sie hatte den erwünschten Erfolg; der Geist fiel zu ihren Füßen und überreichte ihr respektvoll den Myrtenzweig. Sobald sie ihn in Händen hielt, ließ sich die Musik von Neuem hören, eine dichte Wolke umgab die Erscheinung, die Flammen verschwanden, und die vorige Dunkelheit herrschte in der Höhle.

Lewis befiel im Traum ein neuer Schrecken, und als er wieder zu sich kam, erwachte er auch in seinem Bett. Doch noch bevor er einen klaren Gedanken fassen konnte, überwältigte ihn die Müdigkeit, und er sank ins Kissen zurück.

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Am nächsten Vormittag fühlte Lewis sich trotz des aufregenden Traumes besser, denn sein Schlaf danach war tief gewesen, und auch das Niesen hatte sich gelegt. Möglicherweise, dachte er bei sich, sollte er öfter Milch vor dem Zubettgehen trinken, wenn sie diese Wirkung hatte.

Das Frühstück hatte ihm Böttiger serviert, der damit seiner Sorgfaltspflicht als Gastgeber nachzukommen vorgab, in Wirklichkeit aber den Engländer gehörig über die Ereignisse der vergangenen Tage ausfragen wollte. Während Lewis Haferschleim löffelte, saß Böttiger auf einem Stuhl neben dem Bett.

„Ich dachte mir, dass Ihnen das guttun würde, auch als kleine Erinnerung an daheim“, meinte Böttiger mit schiefer Miene. „Wir hier essen so etwas gemeinhin nur im Krankheitsfalle, aber Sie in England mögen es ja über alle Maßen ...“

„Durchaus“, nuschelte Lewis und aß mit Appetit, da er wusste, dass er für die anschließende Fragestunde einiges an Kraft benötigte. Er hoffte, Eleonore würde ihren Mann bald zurechtweisen. Wenn das Paar gemeinsam anwesend war, war der dann in seiner Neugier etwas gezähmte Schulmeister besser zu ertragen, und zudem fühlte Lewis sich weniger von Eleonores Anwesenheit ... ja, was?

Was ging in ihm vor? Er war nicht sicher. Auf jeden Fall sah er nun dem kommenden Treffen unter vier Augen mit Eleonore recht bang entgegen. Was, by Jove, wollte sie ihm offenbaren?

„Möchten Sie noch etwas?“, fragte Böttiger und wies auf den leeren Teller, in dem Lewis gedankenverloren mit dem Löffel herumkratzte.

Der bemerkte, was er getan hatte, und schüttelte den Kopf. „Nein danke, verzeihen Sie, ich bin noch etwas abwesend.“

Böttiger schaute mitfühlend, aber um seine Mundwinkel zuckte es verräterisch. „Sicher, Ihnen ist ja auch einiges widerfahren. Ich wüsste gern, wie das war, als ...“

Lewis seufzte und begann zu berichten.

Irgendwann setzte sich der bis dahin aufmerksam lauschende Böttiger eilends auf und klatschte mit der flachen Hand gegen seine Stirn. „Ach je!“

Lewis, der gerade auf dem Spannungshöhepunkt der Ereignisse im Martinrodaer Stollen angelangt war, wunderte sich über das plötzliche Erschrecken des sonst so eifrig um Einzelheiten bemühten Böttiger. „Ja, es war furchtbar, doch ...“

„Nein, nein!“, warf Böttiger ein und stutzte dann, als Lewis die Stirn runzelte. „Sicher, es war schrecklich dort unten, aber ich meinte etwas anderes.“ Er griff in seinen Rock und suchte etwas. „Ich habe aus lauter Neu...“ Böttiger biss sich kurz auf die Unterlippe. „... ehrlicher Besorgnis ganz vergessen, Ihnen dies hier zu überreichen, es kam heute Morgen per Bote.“ Er zog ein Schreiben aus dem Rock und reichte es Lewis.

Der fand darauf außer seinem Namen nichts, was einen Absender erkennen ließ, und brach schnell das Siegel. Dann entfaltete er das Briefpapier und sah zunächst nach der Unterschrift, die das Schreiben als von Goethe stammend auswies.

Der wünschte ihm gute Genesung und bedauerte erneut die Unbilden des Schicksals samt der für ihn, Lewis, daraus erwachsenen Missstände. Er bedauerte, ihn, Lewis, dennoch nicht, wie versprochen, bald zu sich einladen zu können. Er habe noch in der Nacht der Rückkehr Order des Herzogs erhalten, ihm auf die Kampagne nach Frankreich zu folgen, und müsse der selbstverständlich sogleich nachkommen. Er sähe in dieser eine willkommene Gelegenheit, sich nach den Ereignissen im Bergwerk unter freiem Himmel aufhalten zu können und noch wichtiger: Dieser Feldzug sei ein Marsch gegen die Gefahr der Unterdrückung. So wenig wie der Mensch im Berg eingeschlossen sein sollte, so sollte er es durch fremde Unterdrücker sein, und so sehr, wie man verhindern müsse, dass ein Stollen einbrach, so müsse man auch dagegen angehen, dass das Weltgebäude, dass ein festes Herrschaftssystem stürze. Daran wolle er mitwirken. Ihm, Lewis, wolle der Geheimrat in aller Freundschaft folgende Order erteilen, nämlich dass er doch am Mittwochsclub teilnehmen solle. Ihm würde am betreffenden Tag zur betreffenden Stunde ein guter Bekannter zur Begleitung gesandt, und das alles zeichnete mit besten Grüßen Goethe.

Unter dem Namenszug stand noch, dass das Schreiben aus dem Grunde versiegelt und anonym sei, damit der neugierige Böttiger nicht etwa seine Nase hineinstecke.

Lewis grinste.

„Gute Nachrichten?“, fragte Böttiger, der allzu unauffällig, aber ohne Erfolg versucht hatte, auf das Schreiben zu schielen. „Oh ja“, antwortete Lewis. „Der Geheimrat lässt Sie schön grüßen.“

Böttiger strahlte. „Wirklich? Hat er das geschrieben?“

„Im weitesten Sinne“, entgegnete Lewis und griente.

„Ein weitsinniger Mann“, lobte Böttiger und setzte sogleich nach: „Und nun erzählen Sie weiter, wie war das mit dem Geheimrat, als das Wasser stieg ...“

Lewis seufzte erneut leise, aber ergeben, setzte seinen Bericht fort und schilderte in aller gewünschten Genauigkeit, was sich am Vortag zugetragen hatte.

Um die Mittagszeit erlöste Eleonore Lewis wie erhofft. Sie brachte Brot und Brühe, hielt während seiner Mahlzeit Wacht, dass Böttiger nicht allzu viel plapperte und fragte, und scheuchte ihren Mann dann aus dem Zimmer, indem sie Lewis eine Mittagsruhe verordnete. Böttiger fügte sich und verschwand, Eleonore blieb, das Tablett mit dem Geschirr in der Hand. Lewis schaute unruhig hin und her und griff schließlich aus Verlegenheit nach einem Glas mit Wasser, das auf dem Nachtkasten stand.

„Fühlen Sie sich auch nicht allzu entkräftet durch das Gespräch mit meinem Mann?“, fragte Eleonore.

„Nicht sehr“, entgegnete Lewis rasch und bereute es im selben Augenblick. Wie gut hätte er dies als Ausrede nutzen können. Jetzt musste er sich dem so unheilschwanger angekündigten Gespräch, ja, Geständnis stellen.

Eleonore setzte das Servierbrett auf der Kante von Lewis’ Sekretär ab, woraufhin diesen zu all seinem Bangen auch noch ein schlechtes Gewissen plagte. Allzu lang war er nicht fleißig gewesen, auch wenn die Umstände es gar nicht erlaubt hätten. Gleichwohl schwor er sich, sobald er wieder genesen war, das versäumte Pensum nachzuholen. Vielleicht konnte er die Ereignisse der letzten Tage auch nutzen und sie sich einfach von der Seele schreiben.

Eleonore hatte seinen geistesabwesenden Blick bemerkt. „Sie ahnen, worüber ich mit Ihnen reden möchte?

Lewis öffnete den Mund, aber erst einmal kam nur ein Krächzen heraus. Er räusperte sich. „Nein ...“, sagte er dann gedehnt, doch voll unangenehmer Vorahnung.

Eleonore machte drei rasche Schritte an Lewis’ Bett heran und setzte sich auf den Stuhl, den Karl dorthin gerückt hatte. Lewis zuckte ein wenig zurück, da er die schnelle Bewegung nicht erwartet hatte. Eleonore Böttiger senkte Stimme und Blick. „Ich muss gestehen, dass ich mich unschicklich verhalten habe, was Sie angeht ...“

Lewis atmete kurz ein und war bemüht, sich nicht zu verkrampfen. Oh weh, dachte er, was widerfährt mir hier?

Dann sah Eleonore ihn fest an, und er meinte zu spüren, wie er unter ihrem Blick schrumpfte, immer kleiner wurde und schließlich in den Bettlaken verschwand. Möglicherweise war es aber eher sein sehnlichster Wunsch, um so dieser Situation entfliehen zu können.

„Ich habe mich zu etwas hinreißen lassen, das mir nicht zusteht“, sprach Eleonore weiter, „und das kann ich nicht länger vor Ihnen verbergen.“ Sie sah Lewis nun bittend an. „Ich muss es Ihnen sagen ...“

Lewis wurde angst und bang, gleich würde es heraus sein – und was dann? Wie konnte er Böttiger unter die Augen treten, wenn nun ... er erstarrte. Eleonore griff zu ihrem Rock und nestelte daran herum. Noch ehe Lewis die Augen zukneifen konnte, zog Eleonore die Hand aus einer der Taschen ihrer Überschürze und hielt einige Blätter Papier hoch. Das Papier war knittrig, so als habe man es zunächst zu einer Kugel geknüllt und dann so sorgfältig als möglich wieder geglättet. Auf den Seiten waren Buchstaben zu erkennen, die Lewis zunächst vage, dann aber außerordentlich bekannt vorkamen.

„Aber das ist ja ...“, begann er, dann versagte ihm der Atem. Eleonore nickte leicht und errötete. „Ich fand es, als ich den Raum in Ihrer Abwesenheit lüften wollte. Mit einem Luftzug rollte es mir wie aus dem Nichts entgegen. Ich hätte nie etwas von Ihrem Sekretär genommen, noch nicht einmal einen neugierigen Blick habe ich darauf je geworfen. Aber dieses hatten Sie ja augenkundig fortgeschleudert, und so ...“

Sie wagte kaum, ihn anzusehen. Lewis hingegen fühlte sich mit einem Male glänzend! Nicht allein, dass sich seine Befürchtungen gegenüber Eleonores „Geständnis“ als überzogen, gleichsam sogar als widersinnig, als plötzlich vollkommen abwegig erwiesen hatten, nein, auch war der Verbleib des so unerklärlich verschwundenen Manuskriptes aufgeklärt, der ihm doch so einiges an Kopfzerbrechen verursacht hatte.

„Aber das ist doch nicht tragisch“, brach es förmlich aus ihm heraus. „Gut, dass Sie es gefunden und ... aufbewahrt haben. Sie konnten es mir bisher ja schwerlich zurückgeben, da ich stets hier oder da oder dort in irgendwelchen Fährnissen weilte ...“ Er versuchte sich an einem aufmunternden Lachen, bis ihm mit einem Male wieder in den Sinn kam, dass es sich bei dem Manuskript nicht um irgendein beliebiges beschriebenes Papier handelte, sondern die tintige Ausgeburt seines entsetzlichen Tagtraumes.

Er sah Eleonore an, die ihn noch immer nicht direkt anzuschauen vermochte, und sprach hastig: „Sie haben es doch nicht etwa gelesen ...“ Und im gleichen Moment schalt er sich einen Narren. Wie sollte das möglich sein? Er hatte im Wahn auf Englisch geschrieben, und dass Eleonore seiner Sprache nicht mächtig war, wusste er.

Dennoch streckte er nun die etwas zitternde Hand danach aus, ergriff das Manuskript und nahm es an sich, als sei es sicherer, es von Eleonore Böttiger zu entfernen.

Er lachte wieder schwach. „Aber nein, natürlich haben Sie das nicht. Meine Handschrift, das Englische und überhaupt ... ich kann Ihnen sagen, dass es absolut nichtig ist, was dort geschrieben steht, und ...“

„Doch“, sagte Eleonore leise, die noch immer mir gesenkten Lidern an ihm vorbeiblickte.

Lewis knisterte mit dem Papier, als seine Finger unwillkürlich zuckten. „Was?“

„Ich habe es gelesen“, hauchte Eleonore, „und es war ...“ – nun sah sie Lewis direkt an, und in ihren Augen leuchtete die Begeisterung – „... schrecklich!“

Lewis ließ das Manuskript fallen, und die Blätter raschelten wie übergroßes und falschfarbenes Herbstlaub auf die Schneelandschaft seiner Bettlaken.

„Aber wie ...“ – er hatte in seiner ersten Verblüffung über Eleonores Offenbarung den zweiten Teil ihrer Aussage gar nicht wahrgenommen – „... wie konnten Sie ...?“

„Ich hatte die Seiten gefunden“, begann sie, und mit jedem Wort schien ein wenig Scheu von ihr abzufallen, „und ich erkannte, dass es sich um englische Worte handelte, und da ich davon ausging, dass es sich um Sätze handelte, die Sie verworfen hatten, dachte ich bei mir, dass ich sie, ohne Ihnen einen Schaden zu tun, auch behalten könnte. Aber ich wollte doch zu gern wissen, was da stand, und so habe ich alles zu Herrn Wieland getragen, mit der Bitte, es mir einzudeutschen. Das hat er getan.“

Sie griff in ihre andere Schürzentasche und holte weitere Blätter hervor, die sie sorgsam entfaltete und Lewis gab. Es war seltsam für Lewis, seine eigenen Worte in einer anderen Sprache zu lesen, aber er musste eingestehen, dass sie auch in der Übertragung nichts von ihrer entsetzlichen Kraft eingebüßt hatten.

Dann schluckte er heftig. „Aber was sagte Herr Wieland? Sie haben ihm doch nicht etwa gesagt, dass dies aus meiner Feder stammt?“

Eleonore lachte. „Das hat er ganz allein ergründet.“

Lewis seufzte. „Das war ja auch nicht schwierig.“ Dann riss er die Augen auf.

„Aber, liebe Frau Böttiger, was sagten Sie da eben über dieses widerliche Werk?“

„Dass ich es entzückend schrecklich fand!“ Wieder glänzten ihre Augen fast fiebrig. „Es ist ganz anders als die Schauerromane, die ich bisher las. Der Grosse, der Spieß, der Flammenberg, sie alle sind nur leerer Rauch gegenüber diesem hellen Feuer! Sie müssen es vollenden, müssen mehr schreiben! Ich bin überzeugt, Sie haben hier Ihre Bestimmung gefunden!“

Lewis Blick wanderte langsam über seine Hand, die noch immer die Übersetzung seines Manuskriptes hielt und nun von den schlanken Fingern Eleonores umspannt war. Sie hatte sich in ihrer begeisterten Rede vorgebeugt und seine Faust ergriffen. Jetzt folgte sie seinem Blick, erkannte, was sie getan hatte, und zog die Hand rasch zurück, legte die Finger der anderen verlegen auf den Mund. Sie errötete und Lewis gleich mit.

Doch ehe einer der beiden etwas sagen konnte, flog die Tür auf, und Karl Böttiger erschien. Er blieb unter der Tür stehen und hob beide Arme. Von seinen Händen hingen kleine, graugefiederte Leiber. Er strahlte Eleonore und Lewis an, die beide erschrocken zusammengezuckt waren.

„Seht! Täubchen! Die hat eben ein Bote vom Herrn Goethe überbracht, mit besten Wünschen für Herrn Lewis, da Täubchen doch eine so vortreffliche Krankenkost und Rekonvaleszenzspeise seien. Ich werde sie gleich Gine übergeben, und dann wird geschmaust!“

Er blickte mit erhobenen Brauen von Lewis zu Eleonore und zurück. „Was ist? Es scheint, als hättet ihr einen Geist gesehen!“

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Nach einem von Eleonore verordneten Schlummer, in dem sich dem jungen Engländer Dinge offenbarten, die er nach dem Erwachen gnädig vergessen hatte, kleidete Lewis sich an und ging hinab ins Speisezimmer. Es schien, als habe die Eröffnung Eleonores ihn mit einem heilsamen Schock bedacht, denn er fühlte sich munter und kräftig. Die Täubchen, mit Blumenkohl und Karotten als Beilage, schmeckten ihm sehr und taten ihr Übriges. Während der Mahlzeit ließ Karl es sich nicht nehmen, in gewohntem Maße zu plaudern, während Eleonore versuchte, Lewis den einen oder anderen scheuen und doch verschwörerischen Blick zuzuwerfen. Er vermochte diesen, so gut es ging, auszuweichen, ohne allzu unhöflich zu erscheinen. Zumindest versagte er es sich, näher darauf einzugehen.

„Sagen Sie, Herr Lewis“, wandte sich Böttiger bei der Nachspeise, einem zuckrigen Grießpudding, mit einer Unvermitteltheit an ihn, die Lewis zusammenzucken ließ, „nachdem es Ihnen wieder so erfreulich rasch bessergeht, gedenken Sie doch sicher Ihre literarischen Arbeiten wieder aufzunehmen, nicht wahr?“

Lewis sah über den Löffel zu Böttiger hin und suchte in dessen Miene nach einem versteckten Hinweis, ob sich in dieser Frage vielleicht eine Spitze verbarg. Böttigers Antlitz sah jedoch so gesund aus, wie es stets nach einem Essen der Fall war.

„Nun“, gab Lewis vorsichtig zurück, „natürlich möchte ich diese Ambitionen nicht vernachlässigen. Es käme mir im Übrigen durchaus gelegen, die kommenden Tage eher auf dem Zimmer zu verbringen. Ich will meine Gesundheit nicht herausfordern, und ich denke auch, mir kann hier nicht allzu viel begegnen, anders als in den vergangenen Tagen, wann immer ich das Haus verlassen habe.“ Er grinste ein wenig schief.

„In der Tat!“, rief Böttiger. „Sie scheinen das Abenteuer nur so anzuziehen! Nun, dann lassen Sie die Abenteuer besser auf das Papier fließen! Was schwebt Ihnen denn vor?“

Aus den Augenwinkeln sah Lewis, wie Eleonore sich kaum merklich vorbeugte.

„Ich denke“, begann er langsam, um Zeit zu gewinnen, „dass ich mich an etwas Leichtem versuchen werde, einem Lustspiel vielleicht. Mir schwebt etwas über die Kolonien in Ostindien vor ...“

„Ah! Dann kann ich Ihnen nur empfehlen, auch das Theater zu besuchen! Die Saison fängt bald an, und ich hörte, dass mit einem von Kotzebues Stücken eröffnet werden soll, dem Papagoy, wenn ich nicht irre!“

„Ich werde diesen Rat gerne beherzigen, das Theater lag mir schon immer am Herzen, und weiterhin“, Lewis bemerkte, dass Eleonore Böttiger ein wenig enttäuscht dreinzublicken schien, „werde ich mich an Übersetzungen versuchen, mir gefallen da besonders der Erlkönig von Geheimrat Goethe und der Oberon von Herrn Wieland.“

Lewis sah rasch von rechts nach links, als befürchte er versteckte Lauscher, und fuhr dann mit gesenkter Stimme fort: „Ich gedenke, diese Übersetzungen den Dichtern als ehrenvolles Geschenk anzueignen. Also bitte, verraten Sie dies nicht ...“

„Niemals“, versetzte Böttiger in gleichfalls bedächtigem Tonfall. „Dieses Geheimnis bleibt bei mir sicher verwahrt!“ Er schaute zu Eleonore hinüber. „Auch meine Gemahlin kann so etwas für sich behalten, nicht wahr, meine Teuerste?“

Eleonore nickte und wurde zugleich ein wenig rot, weswegen sie die Hand vor den Mund legte.

„Ich bin auch sicher“, fügte Lewis hinzu, „dass gerade Herr Wieland eine gute Übersetzung zu schätzen weiß ...“

Eleonore konnte ein Kichern gerade noch unterdrücken, wie Lewis an ihren Augen zu erkennen vermochte.

„Oh ja“, tönte Böttiger, „vor allem seine eigenen! Er hat ...“

„Ich bitte, mich zu entschuldigen“, presste Eleonore zwischen den Fingern hervor, die sie fest gegen die Lippen gedrückt hielt, und stand auf.

„Ist dir unwohl?“, fragte Böttiger besorgt und erhob sich ebenfalls halb.

„Nein, es ist alles bestens“, beschwichtigte Eleonore mühsam, „ich komme gleich zurück.“ Dann verließ sie den Raum, wobei sie Lewis im Vorbeigehen einen frechen Blick zuwarf. Hinter ihrer Hand konnte er ihre Mundwinkel zucken sehen.

„Was hat sie nur?“, wunderte sich Böttiger und setzte sich wieder.

„Ich weiß nicht“, log Lewis. „Vielleicht ist es ihr ein Bedürfnis, Gine für die Zubereitung der Täubchen zu loben.“

„Oh, ja!“, strahlte Böttiger. „Die waren absolut vorzüglich, und dem Geheimrat gebührt ebenfalls Dank. Zu schade, dass ein Kompliment erst nach seiner Rückkehr möglich sein wird.

„Richtig“, meinte Lewis und lehnte sich zurück, froh, Böttiger auf andere Gedanken gebracht zu haben. „Aber ich werde ihm Freude bereiten, indem ich seiner Bitte nachkomme, beim Mittwochsclub vorstellig zu werden.“

„Vorstellig werden!“ Böttiger lachte. „Das haben Sie schön gesagt! Wenn Sie dort sind, passen Sie auf, dass Sie der dicke Bode nicht aufs Korn nimmt! Der ist recht trocken und die Geißel der hiesigen Genies, immer mit Spott zur Hand.“

„So, so“, machte Lewis und spitzte den Mund.

„Wahrscheinlich hat er sich deshalb auch daran gemacht – Sie erwähnten ja eben das Übersetzen in andere Sprachen –, Montaignes Schriften aus dem Französischen zu übertragen. Sich dieses alten, launischen und überaus oft zynischen Sonderlings anzunehmen, sieht dem Bode ähnlich!“

Lewis hob die Brauen.

„Kennen Sie Montaigne? Ach, selbst wenn nicht! Unter dem alten, ehrwürdigen Rost schlummert so manche Unsauberkeit, so etwa im Kapitel über die Imagination. Dort ist von l’art de peter die Rede, was man gemeinhin – wie auch von Bode getan – mit Orgelei des Af...“

In diesem Moment kam Eleonore wieder, und Böttiger brach rasch seine Rede ab und räusperte sich, wie um die letzten Spuren seiner Worte zu übertönen und gleichsam zu tilgen. Eleonores Wangen waren rot, als habe sie herzlich gelacht.

„Es geht dir besser, wie es scheint!“, bemerkte Böttiger, der froh war, die beinahe aufgetretene Peinlichkeit unterbunden zu haben.

„Ja“, entgegnete Eleonore, „ich musste nur kurz durchatmen.“ Sie lächelte die beiden Männer entschuldigend an, wobei ihr Blick einen Augenblick länger auf Lewis verweilte. Diesen berührte das ein wenig unangenehm, obwohl er zuvor bei der kleinen Posse mitgespielt hatte. Seine Scheu vor Eleonore kam wieder zu Tage, und er beschloss, die Gelegenheit zu nutzen und auf sein Zimmer zu fliehen.

„Ich“, sagte er deshalb, „werde mich nun wieder zurückziehen. Ich verspüre nach diesem opulenten Mahl ein wenig Müdigkeit und möchte ihr nachgeben, um Kräfte zu sammeln. Sowohl für die Arbeit als auch für den kommenden Abend mit den gebildeten Herren.“

Er verabschiedete sich schnell, aber artig und verließ den gemütlich grüßenden Böttiger und dessen etwas enttäuscht dreinblickende Frau.

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Es schien Lewis seltsam, aber er merkte, wie er von nun an mit weniger Bangen an das fiebergeborene Manuskript dachte. Vielleicht war es die Gewissheit, nicht mit diesem allein zu sein, da er dessen Geheimnis – wenn auch unfreiwillig – nun mit Eleonore Böttiger und mit Christoph Martin Wieland teilte. Deshalb beschloss er, sich zunächst dessen Gedichtepos Oberon anzunehmen und es ins Englische zu übertragen, wodurch er neben allen literarischen Gründen auch ein klein wenig Revanche zu nehmen versuchte. Diese Arbeit entrückte ihn in gänzlich andere Sphären und ließ ihn für einige Zeit alles Schreckliche, ob real oder ersonnen, vergessen. Auch Eleonore übte sich in gastgeberischer Zurückhaltung und beschränkte sich auf kurze Blicke und feines Lächeln.

Dann war es Mittwoch, und gegen Abend wurde Lewis nach unten gerufen. Er warf seinen hellgrauen Rock über und stieg die Treppe hinunter. Draußen auf der Straße stand eine ihm allzu bekannte Kutsche, in deren Polstern eine Gestalt mit schwarzem Samtkäppchen saß.

„Guten Abend, Herr Wieland“, grüßte Lewis freundlich, und der Angesprochene öffnete schmunzelnd den Wagenschlag. Er war wie schon zuvor in einen dunklen Rock gekleidet, der die Bequemlichkeit, die er seinem Träger bot, unzweideutig ausstrahlte, und wieder trug er Tuchstiefel.

„Wieder darf ich Sie zu einer Fahrt einladen, Herr Lewis! Hoffen wir, dass es dieses Mal erfreulicher endet.“ Wielands helle Augen umkränzten Fältchen.

Lewis nahm Platz und verzog leicht die Mundwinkel. „Beschwören Sie es nicht, Herr Wieland ...“

„Fürwahr!“, lachte der. „Wenn sich hier jemand auf Beschwörungen versteht, dann Sie, Herr Lewis. Man hat da etwas an mich herangetragen, das den Abend in Tiefurt in völlig anderem Licht erscheinen lässt.“

Die Kutsche setzte sich in Bewegung und rollte übers Pflaster. Lewis wusste nicht, ob es diese Vibrationen oder Wielands Worte waren, die ihm unangenehm in den Magen fuhren.

„Ich habe von der kleinen Indiskretion durch Frau Böttiger erfahren; sie hat es mir gestanden“, sagte Lewis. „Ich nehme es ihr aber nicht übel. Ich fürchte, ich sollte mich als Dichter daran gewöhnen, dass andere meine Werke lesen.“

„Eine einsichtige Geisteshaltung!“, nickte Wieland.

„Aber Ihnen gegenüber, geehrter Herr, Ihnen gegenüber muss ich etwas weniger einsichtig sein!“ Lewis lächelte. „Wie konnten Sie Ihre Begabung nur einem Geringeren als William Shakespeare widmen!“

„Oh, grämen Sie sich nicht, das war nur allzu nötig! Nach bald dreißig Jahren kam es mir sehr zupass, wieder einmal mein Angelsächsisch zu bemühen, nach all dem Griechisch seitdem ...“ Wieland tippte an seine mächtige Nase. „Ich möchte meinen, dass Ihre kleine Schauermär bei mir in besseren Händen war als beispielsweise bei Herrn Bode, der ebenfalls aus dem Englischen überträgt und den Sie gleich kennenlernen werden. Ich denke, die Gespräche heute Abend werden sehr fruchtbar werden!“

„Das will ich hoffen“, meinte Lewis, lehnte sich zurück und schloss das kleine Geplänkel für den Augenblick ab.

Die Fahrt war überraschend kurz, und bald schon stiegen Lewis und Wieland vor dem Erfurter Tor an einem schmucken dreigeschossigen Bau aus.

„So“, sagte Wieland. „Hier wohnt der gute Bertuch, den Sie ja schon kennengelernt haben. Sie dürfen davon ausgehen, dass sowohl das Haus als auch das Innere sich durch die gleiche extravagance auszeichnen wie der Herr Unternehmer selbst.“

Das Tor öffnete sich, und ein Diener geleitete sie durch einen Gang, der zu einem weitläufigen, parkähnlichen Baumgarten hinter dem Haus führte. Die Äste und Zweige strotzten vor grünem Blattwerk, und dahinter lärmte ungesehen, aber umso deutlicher vernehmbar, ausgelassen eine Abteilung von Singvögeln.

Lewis sah sich um. „Sollen wir etwa zunächst einen Spaziergang machen?“, fragte er.

Wieland schüttelte den Kopf. „Es scheint, als wolle Bertuch das angenehme Wetter nutzen und das Treffen im Freien abhalten.“

„Hoffentlich wird das gegen Abend nicht zu kühl“, gab Lewis zu bedenken, „ich möchte keinen Rückfall erleiden ...“

„Seien Sie unbesorgt. Ich bin sicher, Bertuch hat wärmende, geistige Getränke bereitgestellt.“

Ein lautes Trompeten durchschnitt die Luft, und Lewis zuckte zusammen.

„Hören Sie die Schwäne?“, fragte Wieland. „Auf dem Schwanseeteich dort wird im Winter Schlittschuh gelaufen. Goethe hat damit angefangen, das hatte er vermutlich von Klopstock, und seitdem begeben sich Hofstaat und Bürger aufs Eis, als sei es ihnen zu wohl.“ Er zwinkerte Lewis zu. „Am verrücktesten hält es Frau von Stein, die von morgens neun bis ein Uhr und dann wieder nachmittags von drei bis sechs oder sieben auf den Kufen steht. Sie macht dabei freilich keine gute Figur ...“ Er hielt die Hand vor den Mund. „Das brauchen Sie aber nicht gegenüber Goethe zu erwähnen. Herrje, ich plaudere schon wie der Böttiger!“

Lewis lachte. „Ein wenig, nur ein wenig ...“

Sie kamen zu einem Häuschen mit Giebeln, dessen rosafarbener Putz keck aus dem Grün hervorleuchtete. Davor standen auf dem Rasen ein Tisch und einige Stühle, und um diese herum hatten sich bereits drei Herren versammelt, die sich angeregt unterhielten.

Friedrich Justin Bertuch sah auf und kam den Neuankömmlingen mit ausgebreiteten Armen entgegen. Er grinste so breit, wie es sein kleiner, voller Mund erlaubte, und seine Augen waren so rund wie die Nasenspitze, die sich ein wenig gerötet zeigte. „Herr Wieland und Herr Lewis! Wie schön!“

Bertuch trug einen himbeerroten Frack zu mausgrauer Hose, deren Kniebänder ebenso rot leuchteten. Seine Weste war rot und gelb gestreift, und über all dem prangte eine blaurote Halsbinde, die zu einer großen Schleife gebunden war. Lewis war versucht, die Augen ein wenig zusammenzukneifen – der Kontrast von Bertuchs Kleidung mit dem Grün der Bäume hätte Goethe gewiss zu neuen Erkenntnissen in der Farbenlehre gebracht.

Bertuch begrüßte die beiden überschwänglich und führte sie zum Tisch, der mit einem hellen Leintuch bedeckt und mit Gläsern und Flaschen förmlich übersät war. Dazwischen standen Schalen mit Obst und Naschwerk und einige Windlichter, die zwar noch nicht entzündet waren, aber vermuten ließen, dass sich dieses Treffen bis über den Einbruch der Nacht hinziehen würde. Die beiden anderen Männer, der eine schmal, der andere untersetzt, schauten interessiert auf Lewis, während sie Wieland zunickten.

„Herr Lewis“, begann Bertuch, „ich darf Ihnen zwei Herren vorstellen, von denen Sie schon gehört haben und die nun endlich zu treffen Sie sich glücklich schätzen dürfen!“

„Ach, Bertuch, rede doch nicht so lange herum“, tönte der Dicke mit tiefem Bass und trat einen Schritt vor. Er war vermutlich in Wielands Alter, an die Sechzig, und kräftig gebaut. Als er lächelte, schoben sich seine Hängebacken beiderseits der dicken Nase nach oben, und die Augen, die von dichten Brauen überschattet und mit schweren Tränensäcken unterlegt waren, blickten freundlich – soweit dies die leicht hängenden Lider zuließen, die dem Mann das Aussehen eines melancholischen Schweißhundes gaben.

„Johann Joachim Christoph Bode“, stellte er sich vor. „Erfreut, Sie kennenzulernen! Engländer sind mir stets ein liebes Volk gewesen, zumal was ihre humorvollen Dichter angeht.“

Bode war in dunkles Violett gekleidet, einzig die helle, zweireihige Weste mit golden blitzenden Knöpfen schien etwas freundlicher. Sein Wesen war jedoch überaus einnehmend, und Lewis vermutete, dass Bode zu den leutseligen Genossen gehörte, sobald der Wein nur ausreichend geflossen war. Dennoch war er ihm sympathisch.

„Sehr angenehm! Ich hoffe, ich kann meinen Landsleuten Ehre erweisen und erweise mich nicht als allzu scherzlos.“

„Davon gehe ich aus!“ Er lachte so laut, dass aus einem nahen Gebüsch einige Sperlinge aufgeregt schimpfend aufstiegen und die Flucht ergriffen. „Ich hörte, sie seien der einen oder anderen Posse nicht abgeneigt.“

Lewis warf einen Seitenblick auf Wieland, der unschuldig mit den Schultern zuckte und sich dann auf einen der Stühle setzte.

Jetzt war der schmalere Mann hinzugetreten, der einen moosgrünen Rock trug, aus dessen Kragen sich ein schneeweißes Halstuch bauschte. Er hatte helles Haar und eine scharf konturierte Nase, einen energischen Mund und ein kräftiges Kinn, wodurch er auf Lewis sehr eindrucksvoll wirkte.

„Das, Herr Lewis, ist“, begann Bertuch, der eine kleine Pause einlegte, als fürchte er, der Schmale werde ihm wie Bode die Vorstellung aus der Hand nehmen, „der Professor für Geschichte an der Salana, Johann Christoph Friedrich Schiller.“

„Das ist die Universität drüben in Jena“, erläuterte Schiller und nickte Lewis zu. In seinen Augen blitzte es, aber Lewis war nicht sicher, ob dies Ausdruck eines leidenschaftlichen Geistes oder eines leichten Fiebers war. Vielleicht beides, dachte er.

„Herr Schiller! Der Dichter der Räuber! Wie überaus beeindruckend, Ihnen persönlich gegenüberzustehen – und auch jenes andere Theaterstück, über diesen Minister ...“

Kabale und Liebe“, half Bertuch, und Schiller ließ es geschehen.

„Wie schön“, sagte er, „dass Sie als Engländer dies kennen.“ Sein Ton war nun ein wenig schärfer. „Sie wissen sicher um die Umstände, die mich bewogen, über dieses Schandmal auf dem Gewand der Menschlichkeit zu schreiben. Menschenhandel!“ Er zog ein Gesicht, als wolle er ausspeien.

Lewis versuchte, nicht auf diesen Angriff einzugehen. „Ja, ich habe mit Herrn Goethe einige Worte darüber gewechselt.“

„So. Mit Geheimrat Goethe“, stieß Schiller hervor und zeigte die Zähne ein wenig. „Wie schade, dass er nicht hier sein kann, aber er muss ja vielmehr an einem Feldzug gegen Frankreich teilnehmen. Als wenn es in diesem Lande nicht genug ...“

„Ist ja gut, Schiller“, murmelte Bode, nahm ihn kurzerhand beim Arm und bugsierte ihn zu einem der Stühle. „Wir wollen heute mal etwas leichtere Gesprächskost verzehren, zu Ehren unseres jungen Gastes.“

Er winkte Lewis heran, während er dem sichtbar mit sich ringenden Schiller Wein einschenkte. „Hier, trink das“, sagte er halblaut und schob ihm dann eine Schale Klaräpfel hin, die hell schimmerten. „Wenn’s dich beruhigt, kannst du ja eine Nase voll hiervon nehmen.“

„Nun denn!“, rief Bertuch, etwas peinlich berührt. „Setzen wir uns doch und trinken etwas guten Rheinwein!“

Für ein Weilchen saßen die Herren da, tranken Wein und atmeten die milde Sommerluft. Schiller hatte die vor ihm stehenden Äpfel mit einem geflüsterten „Zu frisch!“ von sich geschoben und stattdessen getrunken.

Schließlich brach Bode das Schweigen. „Jetzt muss es aber gut sein!“, rief er aus. „Dies ist doch kein Trappistenorden!“

„Nein, wahrhaftig nicht“, grunzte Wieland und sah schelmisch in die Runde. „Da sind ganz andere Orden vertreten ...“

Bode ignorierte diese Äußerung und wandte sich an Lewis. „Ich bin angenehm überrascht von Ihrer Sprachfertigkeit. Dass Sie auch die Feder führen, habe ich ebenso gehört. Sagen Sie, lieber Lewis, haben Sie einmal daran gedacht, dies alles in die Dienste von etwas Höherem zu stellen?“

Lewis setzte sein Glas ab. „Woran denken Sie, Herr Bode?“

„Mir schwebt eine globale Literatur vor, in der jeder Nation das Beste und Wichtigste der anderen Nationen zugängig gemacht wird. Ich bin sicher, dass Dichtung verbinden kann und das gegenseitige Verständnis fördert, also nicht allein zum Belehren und Erfreuen nützlich ist.“

„Wie gedenken Sie, diese Weltliteratur zu erschaffen?“, fragte Lewis und griff wieder nach seinem Glas.

„Indem fleißig von einer Sprache in die andere übertragen wird. Ich selbst habe mich unter anderem des Dorfpredigers von Wakefield angenommen.“

„Wakefield? Ah, sie sprechen von Goldsmiths Vicar! Ja, der ist mir bekannt. Aber keineswegs humorig, obgleich Sie doch erwähnten, Sie seien eher jener Spielart zugewandt?“

„Unzweifelhaft! Zu denen zählt vielmehr die Geschichte von Thomas Jones, die Henry Fielding so vorzüglich beschrieben hat!“

Lewis lachte. „Oh ja, ein famoses Garn! Aber sagen Sie, kennen Sie auch Laurence Sterne? Die Leben ...“

„... und Meinungen des Tristram Schandi. Aber ja! Alle neun Bände, schon vor bald zwanzig Jahren! Ein vorzüglicher, amüsanter Lesestoff!“ Bode nickte und brachte sein dickes Kinn in heftige Bewegung. „Sehen Sie, Herr Lewis, so sollte es sein! Leser unterschiedlichster Länder sollten sich über die Werke ihrer Zungen und Federn unterhalten und austauschen können. Das liegt mir am Herzen.“

Schiller brummte: „Da gibt es noch einiges andere, was mir am Herzen läge, und in Bodes Herzen ist auch noch genug Raum für ...“

Ehe Lewis auf Schillers Anmerkung eingehen konnte, redeten auch schon Wieland und Bertuch auf diesen ein. „Schiller, sag, wie geht denn die Arbeit an der Geschichte des Dreißigjährigen Krieges voran?“, beeilte sich Wieland zu fragen, und Bertuch fragte: „Und was gibt es Neues von den Jungfern Schramm? Sind sie immer noch so gestrenge Mietherrinnen? Ich sag ja, da fehlt eine Männerhand, bei den beiden ...“

Bode tat so, als habe er nichts bemerkt, und sprach weiter mit Lewis. „So glaube ich, dass Sie der rechte Mann sein könnten, mir bei diesem Unterfangen dienlich zu sein.“

Lewis wandte sich wieder Bode zu und versuchte, diesen zweiten Ausfall Schillers zu ignorieren. „In der Tat habe ich selbst über solche Dinge nachgesonnen. Meinen Landsleuten die großen deutschen Dichter noch näherzubringen.“ Er beugte sich ein wenig vor und achtete darauf, dass Wieland ihn nicht hörte. „Ich habe sogar mit einer Übersetzung von Herrn Wielands Oberon begonnen, die ich ihm selbst zueignen will. Sollte jene überdies noch zu dessen ohnehin schon vorhandenen Ruhm in England beitragen, dann ...“

„Na prächtig!“, donnerte Bode, dass die anderen drei Männer hinübersahen. „Immer weiter so! Ich kann Sie in meiner Eigenschaft als Verleger nur unterstützen, und sollten Sie auch eigene Werke ...“

Lewis hob beschwichtigend die Hand und wollte diese Geste auch noch deutlicher in Richtung Wielands vollführen, als dieser schon temperamentvoll nickte.

„Herr Lewis hat schon eigenes vorzuweisen.“

Lewis presste die Lippen aufeinander. „Bitte nicht“, dachte er und sah mit Grausen, wie Bode und Bertuch, sogar Schiller neugierig die Hälse reckten.

„Aber“, sprach Wieland weiter, „das soll hier noch nicht erörtert werden. Das Werk befindet sich noch im Entstehen, und wir wollen es nicht zerreden. Ich glaube aber, es wird einiges an Aufruhr erzeugen, wenn es erst einmal fertig ist.“

Lewis atmete erleichtert aus. „Danke, dass Sie mich nicht den erfahrenen Poeten als leichte Beute vorwerfen.“

Wieland nickte freundlich, und Bode lachte bellend, während Bertuch sich in amüsiertem Lippenkräuseln erging. Schillers Augen dagegen wurden eng. „Wenn ich trotzdem fragen darf – welcher Art ist denn Ihr geplantes Werk? Wenn es solchen Aufruhr verursachen wird, kann es sich doch nur um einen hochbedeutenden Stoff handeln. Im Übrigen, ist es ein Schauspiel?“

„Nein“, sagte Lewis. „Es ist Prosa und ...“

„Auch Prosa kann bahnbrechendes Gedankengut enthalten.“ Schiller schien auf einmal sehr neugierig.

Wieland meldete sich wieder zu Wort. „Mir schien, es sollte eher der Zerstreuung denn der Erziehung dienen.“ Er rieb sich die Nase. „Aber sollten Sie anderes damit vorhaben ...“

Lewis seufzte. „Was soll ich sagen? Es ist noch gar nichts gediehen, was mir Klarheit geben könnte. Bedenken Sie, dass das, was Sie gelesen haben, allein durch Zufall in Ihre Hände gelangte und ...“

Schiller tippte mit dem Zeigefinger in die Luft. „Aber worum handelt es sich denn nun?“

Lewis räusperte sich und bewegte die Hände in der Luft, als wisse er nicht genau, wo er ansetzen sollte. „Vielleicht kennen Sie den Roman Die Burg von Otranto, den mein Landsmann Walpole verfasst hat?“

„Nein“, schnappte Schiller. „Aber was kümmern mich auch mittelalterliche Bauten?“

„Na, na, Schiller!“, schalt Bode, der sich eines jovialen Untertones befleißigte, damit seine Kritik nicht allzu scharf klang. „Immer gemach!“

Schillers Antlitz schien hagerer zu werden, als er Bode anfunkelte, aber zu Lewis sprach. „Was schreiben Sie nun, ohne Umschweife!“

„Das ist ... schwierig“, setzte Lewis an, der sich sehr unbehaglich fühlte, weil ihn Schiller so bedrängte. „Wie gesagt, es ist eine Romanze im Stile Walpoles, die man mit den deutschen Schauergeschichten vergleichen könnte ...“

„Ach je!“, rief Schiller. „Eine Spukgeschichte! Völlig indiskutabel.“

Wieland schnalzte mit der Zunge. „Wenn ich mich recht entsinne, sitzt hier ein Mann, der erst vor kurzem eine gewisse Geisterseherei zu Papier gebracht hat.“

„Richtig!“, pflichtete Bertuch bei, der bislang mit unstetem Blick zugehört hatte.

Schiller machte eine wegwerfende Handbewegung. „Nicht doch! Es ist allgemein bekannt, dass ich damit gewisse Dinge ins rechte Licht rücken wollte und ...“ Dann erhellte sich seine Miene, und er fasste Lewis scharf ins Auge. „Haben Sie etwa auch vor, unter dem Mantel des Romans etwas darzustellen, gar aufzuklären?“

Bode hob die schweren Brauen und schaute interessiert.

„Ich ... aber nein ...“ Lewis stockte. „Keinesfalls. Ich will nur ein ergötzliches ... schreckliches ...“

„Schreckliches findet sich in der wirklichen Welt genug!“ Schiller zeigte wieder seine zusammengebissenen Zähne. „Der Dichter kann eine scharfe Waffe dagegen führen, wenn er es versteht.“

Lewis schüttelte den Kopf. „Nein, ich will unterhalten, nur unterhalten.“ Eine unangenehme Wärme stieg ihm im Kragen hoch, und das konnte nicht an den letzten Strahlen der Sonne liegen, die auf die Runde niederfielen.

„Das“, sagte Schiller, „ist sehr bedauerlich.“ Er rümpfte die Nase. „Ein Dichter sollte sich zu Höherem berufen fühlen.“

„Nun ist’s aber genug!“ Bode klopfte auf den Tisch. „Herr Lewis soll schreiben, wonach ihm der Sinn steht! Meinen Segen hat er! Er wird schreiben, und er wird übersetzen, so wie wir es auch tun, und er wird auch selbst übersetzt und wie wir Teil der großen Literatur werden.“ Er zwinkerte Lewis aufmunternd zu.

Schiller begann plötzlich leise, fast wie für sich selbst, das Thema fortzutreiben: „Gespenster und Schauer! Nachher wird eines fernen Tages irgendein leichtfertiger Kopf behaupten, ich hätte mit dem Lewis’schen Machwerk etwas zu schaffen, gar fälschlich behaupten, ich wolle die Geschichte in deutsche Sprache übertragen!“ Dann murrte er wieder lauter: „Zu schade, dass Herder heute nicht hier sein kann, er würde mir zustimmen.“

„Allerdings“, lachte Bode. „Gut, dass er nicht da ist, der alte Prediger ...“

„Ach, Herr Lewis“, warf Wieland ein, „ich soll Ihnen recht nette Grüße vom jungen Herrn Herder ausrichten.“

Lewis lächelte. „Herzlichen Dank.“ Er griff nach seinem Glas und trank einen Schluck.

„Ach, der junge Herder“, meinte Bode. „Der nimmt doch im Herbst sein Studium in Jena auf. Da könnte man ihn beglückwünschen, einmal fort vom Vater zu sein, und da gerät er in die Fänge Schillers ...“

Schillers scharfe Nase ruckte herum.

„Nicht allzu ernst nehmen“, beschwichtigte Bode. „Aber ersprießlich ist es trotzdem nicht, bei den augenblicklichen Umständen und den Dingen, mit denen Herder sich hervorgetan hat ...“

„Was meinen Sie?“ Lewis war beunruhigt.

„Das kann Ihnen Herr Schiller besser erklären“, entgegnete Bode.

Schiller rutschte auf seinem Stuhl herum. „Nichts Großartiges“, sagte er knapp und geradezu nebenbei. „Ein wenig Hin und Her wegen der Begebenheiten in Frankreich. Meinungen und Ansichten und in Jena ein paar Rangeleien wegen der Abschaffung der Duelle ...“

Bode und Bertuch öffneten leicht die Münder, und selbst Wieland sah ein wenig verwundert zu Schiller hinüber.

Lewis merkte es nicht, sondern stellte erschrocken sein Glas ab. „Duelle? Das ist keine gute Sache. Da möchte ich die Hoffnung aussprechen, dass sich dies zum Besten wendet, damit Herder nichts zustößt!“

Er sah zu, wie Schiller bedächtig aus seinem Glas trank und über den Rand verstohlen zu Bode, Bertuch und Wieland blickte. Lewis sah sich um und erkannte, wie seltsam die anderen Männer dreinblickten. „Aber es verhält sich doch so, nicht wahr?“

„Sicher, sicher“, bestätigte Wieland rasch und nahm den Blick von Schiller, um Lewis anzulächeln. „Niemand will, dass dem jungen Herder etwas zustößt. Genauso wenig wie Ihnen.“ Er blickte langsam in die Runde. „Oder sonst jemandem ...“

Lewis nickte. Dieser Wunsch schien ihm selbstverständlich, und er fragte sich, warum Wieland ihn so überdeutlich formulierte.

„Herr Lewis“, sagte Bertuch plötzlich. „Haben Sie sich schon gründlich hier im Garten umgesehen? Was meinen Sie dazu? Ich spiele mit dem Gedanken, in meinem Modenjournal einen Aufsatz über Alter und Ursprung der Englischen Gärten zu verfassen. Ist Ihnen der Name Kent ein Begriff? Der große Schöpfer der Englischen Gartenkunst, der zum Wohltun des Auges das Joch des berühmten Le Nôtre zerbrach und ...“

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Als es dunkel war, machte sich Lewis auf den Heimweg. Es fröstelte ihn ein wenig, und er hatte dem Wein etwas zu sehr zugesprochen. Im Schein der Windlichter hatte er sich von den vier Herren verabschiedet, die noch länger debattieren wollten, und auf die Kutsche verzichtet. Besonders Schiller schien es sehr recht zu sein, dass Lewis fortging, denn der Professor hatte die zuvor verstrichene Zeit des Abends nur wenig zur Unterhaltung beigetragen und Lewis nur ab und an mit einem unangenehmen Blick bedacht. Er war Lewis sehr unsympathisch. Bode hingegen erschien ihm als ein gutherziger Mann, gemütlich und scharfsinnig, und Lewis sah mit Zuversicht auf seine künftige Arbeit als Übersetzer.

Zunächst verlangte es ihn jedoch, nach Hause in sein Bett zu kommen, und am morgigen Tage würde er sich vielleicht brieflich beim jungen Herder melden, um ein paar Worte zu wechseln. Möglicherweise wusste dieser mehr über die Geschehnisse an seinem künftigen Studienort. Davon, Böttiger zu fragen, hielt Lewis wenig.

Er schritt kräftig aus und bewegte sich durch die dunklen Straßen auf den Kirchturm zu, der ihm als Scherenschnitt vor dem dunklen Himmel den Weg zum Haus Böttigers wies. Da hörte er ein Geräusch hinter sich und drehte sich um. Im Eingang zu der Gasse, die er zur Hälfte durchschritten hatte, war der Schattenriss eines Mannes aufgetaucht, der nun eilig auf ihn zukam. Zu eilig, als dass es sich um eine Person auf dem Nachhauseweg handeln konnte. Die Stiefel hämmerten ein Stakkato, das von den Häuserwänden auf Lewis eindrang. Schnell drehte sich Lewis wieder um, konnte seinen Gang jedoch nur einige Schritte weit beschleunigen, als er zurückschrak. Auch vor ihm war ein Mann aufgetaucht. Lewis war nicht sicher, ob es am schwachen Licht lag, aber es schien ihm, als sei diese Gestalt von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet, und auch ihr Gesicht war nicht zu erkennen!

Lewis machte eine fahrige Bewegung zu Seite, da war der Mann hinter ihm auch schon heran und legte ihm die behandschuhten Finger auf die Schulter. Lewis zuckte zusammen und erwartete im gleichen Augenblick, einen scharfen Stahl zu spüren. Seine Kehle war trocken, und er brachte nur ein Ächzen hervor.

Der andere Mann kam näher und hielt schließlich dicht vor Lewis inne. „Sie sind Matthew Gregory Lewis?“, fragte eine schaurige Stimme.

Lewis konnte nur fassungslos nicken.

„Schweigen Sie und folgen Sie uns, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist. Es möchte Sie jemand sprechen.“