Fünftes Kapitel

In welchem es innerhalb und außerhalb der Weimarer Köpfe spukt

Die Welt schwankte in tiefer Finsternis. Etwas klirrte und schabte nahe bei Lewis in der Finsternis. Als er mit Mühe die Augen öffnete, sah er Funken und Blitze zucken. In deren Irrlicht erkannte er zwei Gestalten, die auf ihn hinabsahen. Er schrak aus seiner liegenden Position auf und hob den Oberkörper, um sich auf einen Arm zu stützen. Er fühlte gepolstertes Leder und erkannte, dass er sich im Inneren einer Kutsche befand, die augenscheinlich durch einen nächtlichen Wald fuhr. Draußen huschten Schemen von Bäumen vorbei, die von Lampen am Kutschbock matt beleuchtet wurden. Nun flammte die Kerze einer kleinen Handlaterne auf. Auf der Bank ihm gegenüber saßen der junge Herder und Goethe, die ihn besorgt ansahen.

„Sie sind wach, welch ein Glück“, sagte Herder. „Wir wollten Sie schon zu einem ...“ – er stockte kurz und lächelte schief – „... richtigen Arzt bringen, nachdem ich nicht mehr als ihren Puls hatte fühlen können.“

Goethe verstaute Feuerstein und Stahl in einer Schublade unter dem Sitz, die mit Kerzen gefüllt war, während er die Laterne hochhielt. Dann hängte er sie an einen kleinen Haken in der Mitte des Kutschendaches, wo sie, vom Rütteln des Wagens bewegt, unstet hin- und herpendelte.

„Immer gut, alles zur Hand zu haben ... das dumme Ding war gerade erloschen ... wir wollten nicht, dass Sie im Finsteren erwachen, nach all dem.“ Goethe blickte für einen Augenblick aufrichtig besorgt, dann schaute er überzogen rasch wieder ernst drein. „Sie haben allen einen gehörigen Schrecken eingejagt. Zuerst den Damen, dann allen anderen.“

Lewis vermied es, die pendelnde Laterne anzusehen. Er griff sich an die Kehle, da ihm der Mund trocken war, und spürte erstaunt, dass sein Kragen und sein Halstuch sowohl gelockert als auch tropfnass waren. Herder reichte ihm ein Tonbecherchen, das er aus einer ebenfalls tönernen Flasche gefüllt hatte. Zwischen seinen Füßen erkannte Lewis eine ähnliche Schublade wie die bei Goethe, nur dass sich in ihr weitere Tonbecher befanden. Dankbar trank er.

Herder goss ihm nach. „Einige Versuche, Ihnen etwas einzuflößen, sind leider gescheitert, wie Sie gewiss spüren.“

Lewis schluckte und setzte sich auf. „Was ist vorgefallen?“

Goethe zuckte die Achseln. „Was weiß ich? Ich bin durch den Park gestreift, um den faulen Zauber aus meinem Kopf zu vertreiben, als im Haus ein Geschrei anhub. Ich bin losgehetzt und platzte ins Gesellschaftszimmer, wie Sie es früher am Tage taten.“

Lewis sah betreten zu Seite.

Goethe achtete nicht darauf. „Dort angekommen, sah ich Sie am Boden liegen, die Anwesenden um Sie geschart. Die Damen in heller Aufruhr und der Ohnmacht nah, die Herren in wirrer Tätigkeit verstrickt und dieser welsche Wundertäter mittendrin in großem Erschrecken erstarrt, was mir nicht weniger Pose schien als all sein Tun zuvor.“ Goethe verschränkte die Arme und sah aus dem Fenster, als ginge dort draußen etwas äußerst Interessantes vor sich. Dann wandte er sich an Herder. „Was davor geschah, erzählen besser Sie. Herr Lewis soll es aus erster Hand erfahren, obwohl er der Hauptakteur bei der Sache war.“ Wieder wandte Goethe den Blick nach draußen und verharrte in dieser Position, was Herder als Aufforderung verstand, mit seinem Bericht zu beginnen.

Zunächst sah er Lewis fragend an. „Was war das Letzte, woran Sie sich erinnern?“

Lewis rieb sich die Stirn. „Der Mesmerist ließ sein Pendel spielen, ich hörte seine Stimme, und dann wurde es dunkel.“

„Das war unzweifelhaft der Moment, in dem Sie Ihre Augen schlossen.“

„Aber ich wollte es nicht. Ich hatte mir fest vorgenommen, mich nicht in den Bann dieses Mannes ziehen zu lassen und sagte dies mit innerer Stimme beständig vor mich hin.“

„Vielleicht hat das die Hypnose noch unterstützt ...“

„Mag sein.“ Lewis seufzte. „Mein Geist ist wohl zu schwach, um solcherlei Dingen zu widerstehen.“

Vom Fenster klang ein schnaubender Laut, und als Lewis und Herder zu Goethe sahen, zog der gerade eilig ein Tuch aus seinem Rock hervor.

„Es ist nichts“, sagte Goethe beschwichtigend. „Die kühle Nachtluft reizt die Nase.“ Wie zur Bekräftigung fuhrwerkte er mit dem Tuch im Gesicht herum. Im schwankenden Licht glaubte Lewis, ein spöttisches Lächeln hinter dem Stoff zu erkennen, was ihn sehr verletzte.

Herder sah es und sprach schleunigst weiter. „Was geschah, als es Ihrer Ansicht nach dunkel wurde?“

Lewis hob den Blick wieder. „Dann wurde es rot.“

„Offenbar die Auswirkung der Lichter des Pendels durch Ihre Lider.“

„Aber was dann kam, wird sich nicht so leicht medizinisch erklären lassen, Herr Herder!“ Lewis schien es ungerecht, den Ton derart zu ändern, doch das Gefühl der Kränkung war nun leichtem Zorn gewichen, der sich Luft machen wollte. Allerdings bot sich bei Goethe nicht die Gelegenheit dazu. Lewis rieb sich die Stirn. Er fühlte sich immer noch benommen und nicht Herr seiner Sinne. Von seinen Gefühlen ganz zu schweigen.

„Verzeihen Sie“, bat er.

Herder nickte. „Sie sind verständlicherweise durcheinander. Denn das, was sich dann ereignete, war schon für uns Anwesende erschreckend. Wie muss es da erst auf Sie gewirkt haben?“

Lewis öffnete skeptisch den Mund. Dann schluckte er trocken. „Sie wissen, was vor sich ging? In meinem Kopf, vor meinem geistigen Auge?“

„Natürlich. Leone, der Mesmerist, hatte Ihnen eingegeben, über alles, was Sie in der Trance sahen, zu berichten.“ Herder schien etwas matt zu werden. „Wir erlebten alles durch Sie mit, durch Ihre eigenen, furchtbaren Worte.“

„Ich habe Deutsch geredet?“ Lewis schüttelte den Kopf.

„Ja, seltsam, nicht? Man sollte annehmen, dass Träume und Visionen doch vielmehr in der eigenen Sprache ihren Ausdruck finden. Aber Sie teilten sich uns in der Ihnen fremden Zunge mit, aber mit äußerster Gewandtheit. Nicht von ungefähr hatte all das einen so tiefen Eindruck auf uns. Wenn es nicht so erschreckend real und gegenwärtig gewesen wäre, hätte man meinen mögen, Sie erzählten eine Schauergeschichte ...“

„Glauben Sie, ich hätte mir das alles ausgedacht?“

„Nein, das bezweifle ich. Denn dann hätte es Sie selbst nicht so ergriffen, dass Sie in Ohnmacht fielen.“

Lewis war peinlich berührt. „Ich fiel in Ohnmacht? Wie eine Dame?“

„Oh nein, nein, vielmehr wurden Sie bewusstlos, als Sie zu Boden fielen. Sie hatten ausführlich von dieser Frau berichtet, als Sie ...“

„Sagen Sie es nicht! Es war zu abscheulich!“ Lewis biss die Zähne zusammen und schaute zur Seite.

Herder hob beschwichtigend die Hände. „Das hatte ich gar nicht vor. Denn schreckenerregend war es in der Tat, und Sie, der Sie es im Wachtraum noch viel deutlicher erlebten als wir Zuhörer, Sie schrien auf, als wehrten Sie sich gegen das Geschehen. Sie schlugen um sich, dass Herr von Knebel und ich dem Mesmeristen zu Hilfe springen mussten, um Sie zu bändigen. Sie befreiten sich, während Leone Sie aus Ihrer Trance zu wecken versuchte. Dann stürzten Sie mitsamt dem Stuhl um und erschlafften, wie in Ohnmacht.“

Lewis rieb sich den Hinterkopf. „Ja, diese Beule erinnert mich daran, wenn auch nichts anderes.“

„Wir versuchten, Sie zu wecken, was nicht gelang, weswegen sich Herr von Goethe anbot, Sie mit seinem schnellen Gespann in die Stadt zu bringen. Ich sollte wegen meiner medizinischen Kenntnisse dabei sein.“

Lewis wandte sich Goethe zu, der noch immer aus dem Fenster sah und dessen Wangenmuskeln zu arbeiten schienen. „Ich danke Ihnen, Herr von Goethe.“

„Sie sind willkommen“, sagte Goethe halblaut, wobei er kaum den Mund öffnete.

Lewis wusste nicht, wie er diese englisch erscheinende Redensart deuten sollte. „Danke“, sagte er noch einmal, dann sah er wieder Herder an. „Auch wenn ich mich nur mit Schaudern daran erinnere, so scheint es mir seltsam, dass ich offenbar nicht mit meinen eigenen Augen diese schrecklichen Dinge erblickte. Vielmehr war mir, als befände ich mich in einem fremden Körper, verstehen Sie?“

„Durchaus. Sie haben alles genau beschrieben.“

„Ja?“ Lewis rieb sich die schmerzende Wange. „Wie ...?“

„Sie beschrieben die Frau, und dann sprachen Sie von sich oder Ihrem anderen Ich, jener Traumgestalt, durch die Sie das grauenvolle Ereignis erlebten. Sie können sich denken, dass die Tat umso erschreckender war, da ein Diener Gottes sie beging ...“ Er atmete tief ein. „Besonders mein Vater, auch wenn er der Dichtung keineswegs ablehnend gegenübersteht, wie Sie vielleicht wissen, war abgestoßen von dieser Sache. Entrüstet geradezu. Wenn Sie nicht in diesem Zustand gewesen wären, hätte er Sie hinauswerfen lassen, obwohl er keineswegs das Hausrecht in Tiefurt besitzt.“

Lewis erschrak. „Was war mit der Herzoginmutter? Was sagte sie? Sicher bin ich durch solche Lästerungen in Ungnade gefallen.“

„Nach dem ersten Schrecken haben die Damen, besonders die Herzoginmutter, alles gut verkraftet. Sie ist eine starke Person, müssen Sie wissen, anderenfalls hätte sie kaum über das Herzogtum herrschen können, bevor der jetzige Herzog, ihr Sohn, die Regierungsgeschäfte übernahm. Das Fräulein von Göchhausen ist eine robuste Natur, die ebenso einstecken wie austeilen kann.“

Wieder erklang das Schnauben aus Goethes Richtung, doch diesmal sah keiner der beiden hin. „Die Dame Schröter hat schon andere Auftritte mit Bravour überstanden.“

Goethe schnaubte nochmals, kräftiger diesmal. Herder blickte Lewis ungerührt an, und auch dieser verzog keine Miene.

„Na gut“, sagte er langsam. „Dann bin ich beruhigt, dass ich keinen Schaden angerichtet habe – außer am Mobiliar, wie mir scheint.“

„Sie trifft ja keine Schuld. Die Herzoginmutter zog vielmehr den Urbino Leone zur Rechenschaft. Dass aus einem Schauspiel so ein Unglück erwüchse, sei nicht in ihrem Sinne, hieß es. Er wird sich dafür verantworten, und ich denke, auch Herr Bode, der dies ja veranlasst hat.“

Lewis sah zu Boden und schüttelte den Kopf. „Wer hätte auch ahnen können, dass dieses Spiel mit den Gedanken solche Dinge hervorbringen würde!“

„Ich weiß auch nicht, Herr Lewis“, sagte Herder und versuchte aufmunternd zu lächeln, als der Engländer wieder aufblickte. „Aber auf jeden Fall scheinen Sie für solcherlei Dinge anfällig zu sein. Wollen wir hoffen, dass es kein Omen ist ...“

Goethe räusperte sich und wandte sich vom Fenster ab, den beiden jungen Männern zu. „Meine Herren! Ich muss Sie mahnen! Besonders Sie, Herr Herder, als angehender Arzt, sollten nichts, aber auch gar nichts auf abergläubisches Geschwätz geben. Das Wort Omen sollten Sie aus Ihrem Sprachschatz streichen.“ Er zuckte energisch mit der Hand. „Sie auch, Herr Lewis. So erschreckend all das gewesen sein mag, Sie sollten es nüchtern betrachten: Einerseits hatten Sie an diesem Tag bereits genug erlebt, um Ihnen eine unruhige Nacht im Traumbette zu bereiten, wen wundert’s also, dass Sie im Schlafzustand der Hypnose einen solchen Alp zustande brachten, und andererseits ...“

Goethe beugte sich vor und nahm Lewis scharf ins Auge. „... andererseits ist Ihnen als belesenem Mann und anstrebendem Dichter wohl ein gerüttet Maß an Phantasie mitgegeben. Dass all dies über die Stränge schlagen kann, noch angeregt durch den Hokuspokus eines Menschen, wie dieser Leone einen darstellt ... ach, das brauche ich Ihnen ja wohl kaum zu erläutern!“

„Ja, Herr Geheimrat von Goethe“, sagte Lewis und beugte ergeben den Nacken.

Er fühlte sich scheußlich. Zusammengesunken saß er auf seiner Bank, während die Kutsche durch die Nacht schaukelte. Nach einem kurzen Halt am Stadttor rollten die Räder über Straßenpflaster, vereinzelte Lichter waren hinter den Fenstern der dunklen Häuser zu sehen.

„Nun“, begann Goethe und schlug einen wesentlich konzilianteren Ton an als zuvor, „wir werden Sie bei Böttiger absetzen. Oder fühlen Sie sich unwohl und bestehen auf einer Untersuchung?“

„Ich denke, der Doktor muss nicht in seiner Abendruhe gestört werden“, sagte Lewis schwach. „Ich fühle mich nur müde, was aber, wie Sie erwähnten, an diesem aufregenden Tag liegen muss. Ich möchte zu Bett gehen und hoffe, dass mit dem morgigen Tag alle Unbill verflogen ist.“

„So ist’s recht“, nickte Goethe. „Gehen Sie doch morgen durch die Grünanlagen an der Ilm, damit Sie auf andere Gedanken kommen. Sie müssen Heiteres sehen und erleben, dann sind die dunklen Dinge rasch vergessen.“

„Ich werde Ihrer Anregung mit Freude nachkommen.“

„Damit Sie nicht allzu eigenbrötlerisch leben, möchte ich Sie herzlich zu unserem Mittwochsclub einladen. Dort geht es einfacher zu als in Tiefurt und ...“, Goethe hob den Finger, als er sah, wie Lewis widersprechen wollte. „Keine Widerrede! Sie haben dort keine Fisimatenten zu befürchten, mit denen Herr Bode die Herzoginmutter zu beeindrucken sucht, vertrauen Sie mir.“

„Wenn Sie es sagen ...“, meinte Lewis so höflich wie möglich, obwohl er sich sehr über den Mund gefahren fühlte. Aber im gleichen Augenblick kam ihm in den Sinn, dass ein gelungener Gesellschaftsabend vielleicht einiges zu seinem Wohlbefinden beitragen könnte, von seinem Ruf gar nicht zu reden.

„Außerdem“, sagte Goethe, „denke ich, dass Sie in Herrn Herder einen guten Freund gefunden haben.“

Herder grinste, was Lewis ein wenig betreten erwiderte. Goethe hob salbend die Hände. „Also, bleiben Sie in Verbindung. Es kann dem jungen Engländer hier nicht schaden, auch mit anderen Leuten als nur Poeten und Gelehrten im gesetzten Alter zu verkehren.“

Bevor Lewis etwas entgegnen konnte, fuhr die Kutsche vor dem Haus der Böttigers vor. „Da sind wir“, sagte Goethe und öffnete fast ein wenig hastig den Schlag. „Schlafen Sie wohl, und beherzigen Sie meine Worte. Wir hören voneinander.“

Lewis stieg aus und verabschiedete sich.

Herder schmunzelte. „Träumen Sie etwas Angenehmes. Oder bemühen Sie sich zumindest darum!“

Die drei nickten einander zu, und Lewis ging auf das Haus der Böttigers zu. Am Eingang winkte er zögerlich zur Kutsche zurück. Goethe grüßte zurück und bat den Kutscher loszufahren. Der nickte, begann dann aber, heftig zu niesen und machte eine Geste, die um eine kurze Pause bat. Goethe schloss den Schlag. Die Vorhänge an den Fenstern schwankten. Oben auf dem Bock schnäuzte sich der Kutscher lautstark und beschäftigte sich ausgiebig mit seiner Nase.

Lewis sah zwischen Kutsche und der Haustür hin und her und kam sich etwas verloren vor. Er entschloss sich, die Verzögerung durch den Kutscher zu nutzen und noch ein Wort an Goethe und Herder zu richten.

Auf halbem Wege hörte er, wie Goethe sich hinter den Vorhängen an Herder wandte.

„Erzählen Sie mir doch einmal Genaueres über diese Reiter, die Ihren Wagen von der Straße abdrängten ...“

Herder klang erstaunt. „Ich selbst habe sie nicht gesehen; es wäre besser gewesen, Sie hätten dies vorhin angesprochen, als Herr Lewis noch zugegen war. Er hat, glaube ich, mehr erkannt.“

Lewis war versucht, an die Tür der Kutsche zu klopfen, um seine Hilfe anzubieten, doch als er hörte, was Goethe entgegnete, blieb er stehen. „Ich habe es mit Bedacht nicht getan. Der junge Herr war schon angegriffen genug, als dass ich ihn damit beunruhigen wollte.“

„Beunruhigen? Herr Geheimrat, ich fürchte, Sie tun das Nämliche mit mir. Worum geht es?“

„Als ich nach dem Intermezzo mit jenem Scharlatan das Haus verlassen hatte und durch den Park ging, bemerkte ich unter einer Baumgruppe einige Männer, die Pferde an ihren Zügeln hielten. Als ich mich ihnen näherte, brachen sie auf, ohne mich jedoch bemerkt zu haben, wie ich glaube.“

„Und ...“

„Nun“, sagte Goethe und lehnte sich wieder zurück. „Ich vermeinte, einige Sprachfetzen aufgeschnappt zu haben, die eindeutig italienischer Zunge entstammten.“

„Vielleicht Reisegefährten des Herrn Leone“, vermutete Herder.

„Möglich“, sagte Goethe. „Aber warum verbargen sie sich, und warum waren sie in Schwarz gekleidet?“

Lewis stand da und rang nach Luft. Plötzlich öffnete sich die Tür. Rasch trat er hinter die Kutsche, gerade rechtzeitig, als Goethe den Kopf hinausstreckte und den Kutscher anrief: „Je rascher wir nach Hause kommen, um so schneller kann Er sich um Seinen Katarrh kümmern! Los!“

Der Kutscher zog die Nase hoch und brummte etwas, ließ die Kutsche aber endlich anfahren.

Goethe sah zum Hauseingang der Böttigers und die Gasse entlang. Lewis machte schnell einen weiteren Schritt und war sicher, dass Goethe ihn nicht gesehen hatte. Dann verschwand Goethes Kopf im Kutscheninneren.

Lewis blickte dem Gefährt hinterher, bis es um eine Häuserecke bog. Sein Herz klopfte. Dann begab er sich erneut zum Eingang des Hauses, hinter dessen Fenstern im oberen Stockwerk noch Licht brannte. Böttiger hatte ihm vor seinem Aufbruch versichert, er wolle noch bis in die Nacht arbeiten, Lewis würde also auch bei späterer Ankunft noch Einlass erhalten. Dem Engländer schien dies nicht in gastgeberischer Fürsorge begründet, sondern vielmehr in unbändiger Neugierde. Während sich Lewis also daran machte, anzuklopfen, fragte er sich, was an diesem Abend schrecklicher gewesen war: der von dem Mesmeristen verursachte Traum oder das zufällig belauschte Gespräch, in dem es sich um wesentlich wirklichere Dinge gedreht hatte.

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Eine Viertelstunde später befand sich Lewis in seinem Zimmer und im Bett. Nachdem er sich hastig ausgekleidet und das Nachthemd übergeworfen hatte und unter die Laken geschlüpft war, fühlte sich endlich einigermaßen komfortabel, wenn nicht gar sicher. Dies war schließlich der vertrauteste Raum in all der fremden Umgebung mit den fremden Menschen. Hier lagerten seine englischen Kleider, seine englischen Bücher und all die anderen kleinen Dinge, die ihn an seine Heimat erinnerten, darunter das Medaillon mit einer Locke seiner Mutter. Es drängte ihn, sich in einem Brief an seine Mutter mitzuteilen, doch noch scheute er sich, sich all dies wieder ins Gedächtnis zu rufen. Es war ihm zuvor immerhin gelungen, den noch sehr munteren Böttiger mit einigen Nichtigkeiten abzuspeisen und auf seiner eigenen dringend benötigten Bettruhe zu bestehen. Er hatte ihm nur kurz mitgeteilt, wen er kennengelernt hatte und wie sehr ihm Böttigers kundige Worte zugute gekommen waren. Die Affäre mit dem Mesmeristen und seiner entsetzlichen Vision verschwieg er, und auch das mitangehörte Gespräch zwischen Goethe und Herder. Einerseits wollte er nicht durch einen Bericht allzu lebhaft daran erinnert werden, andererseits konnte er auf weitere Kommentare zu seiner Affinität solcherlei Dingen gegenüber verzichten.

Mit einem Mal kam ihm das zerknüllte Manuskript in den Sinn, das er vor langer Zeit, wie ihm jetzt schien, obgleich es nur der Morgen desselben Tages gewesen war, unter das Bett geworfen hatte. Es schien ihm unmöglich, mit solcherlei zu Papier gebrachten Scheußlichkeiten in der Nähe seines Kopfes auch nur ein Auge zuzutun. Rasch schlug er die Laken beiseite, ergriff die Kerze und ließ sich auf die Knie sinken. Er leuchtete unters Bett.

Doch außer einigen Staubflusen war dort nichts zu sehen. Er bewegte die Kerze hin und her, um alle Winkel zu erleuchten, doch das Papierknäuel war nicht auszumachen.

Lewis stand auf, ging im Zimmer herum und suchte. Vielleicht hatte er sich geirrt, als er gesehen zu haben glaubte, wie die Kugel unters Bett gerollt war. Er schaute unter den Nachtkasten, unter den Stuhl, sogar unter den Schreibtisch, obwohl ihm dies töricht schien.

Doch das Manuskript blieb verschwunden.

Lewis war konsterniert. Ihm fiel nichts mehr ein, was mit dem Papier geschehen sein könnte. Ermattung überkam ihn. Er kroch ins Bett zurück, löschte das Licht und hoffte, ihm werde jeglicher Traum erspart bleiben, der die heutigen Ereignisse wieder aufleben ließ.

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Am Morgen saß er, durch ungewöhnlich erquickenden Schlaf erfrischt, am Frühstückstisch, gemeinsam mit der Familie Böttiger. Der Gymnasialdirektor hatte einen freien Tag, weshalb er am Vorabend noch so spät wach gewesen war. Er hatte auch nach Lewis’ Ankunft weiter gearbeitet und berichtete freudig von allerlei, was er zu Papier gebracht hatte. Eleonore Böttiger, die versuchte, ihrem Sprössling kleine Stücke gebutterten Brotes schmackhaft zu machen, was ihr nur mit mäßigem Erfolg gelang, hörte diesen auch für Lewis’ Ohren recht trockenen Ausführungen über Altertümer geduldig zu. Schließlich fragte sie, wobei sie ihren Eifer zu unterdrücken suchte, was ihr recht annehmbar glückte, nach den Erlebnissen, die Lewis am Tag zuvor zuteil geworden waren. Lewis erläuterte die Fahrt nach Tiefurt mit schlichten Worten, aus Rücksicht auf die frühe Stunde und die Anwesenheit des jungen Böttigers. So vermied er etwa jegliche Erwähnung der dunklen Reiter und tat den Kutschenunfall als bedauerliches Zusammenspiel von Zufällen ab, indem er vage auf Steine und Wurzeln hinwies. Die mühevolle Arbeit im Schlamm schilderte er als leichtherzige Posse und genoss das Amüsement, das er bei seinen Gastgebern erzielte. Selbst Karlchen vermochte er mittels einiger lustiger Gesichter, die er schnitt, ein fröhliches Krähen zu entlocken. Nicht minder komisch schilderte er die Ankunft in Tiefurt und seine Begegnung mit den anwesenden Gästen. Böttiger war offenkundig stolz, seinen jungen Gast mit dem nötigen Rüstzeug in Gestalt persönlicher Anmerkungen versorgt zu haben. Gleichzeitig zog er aus Lewis’ Bericht insofern einen Nutzen, als dass er sich die eine oder andere Äußerung oder Reaktion dieser oder jener Gestalt des öffentlichen Lebens in Weimar gut merkte, um sie später vielleicht einmal selbst wiedergeben zu können. Während Böttiger also aufmerksam jedes Wort Lewis’ in sich aufnahm, saß Eleonore da, das Kinn zierlich auf die Knöchel der einen Hand gestützt, während sie dann und wann am Kaffee nippte, der schon längst kalt geworden war. Sie lauschte aufmerksam und mit leuchtenden Augen. Lewis fragte sich, warum sie so begeistert von seinem Bericht war, da ihr Mann solche Dinge sicher tagtäglich vorzubringen hatte. Schließlich erklärte er es sich durch seine eigene, im Vergleich zu Böttiger weniger klatschhaft scheinende Erzählweise, die ihr diese höfischen Gesellschaftsneuigkeiten schmackhaft machten. Während er vom Auftritt des Mesmeristen und Goethes Widerspenstigkeit berichtete, wägte er sorgsam ab, wie von seiner eigenen Trance zu berichten wäre. Unmöglich konnte er seine Traumgesichte wahrheitsgemäß wiedergeben – wobei sich allerdings die Frage stellte, inwiefern man hier von einer Wahrheit würde sprechen können. Das drastische Ende jener Episode würde er unterschlagen müssen, um niemanden zu ängstigen. Zwar drängte sich ihm der Gedanke auf, dass Eleonore Böttiger aufgrund ihrer Lektürevorlieben dem ganzen vielleicht etwas weniger schockiert gegenüberstehen würde als etwa die Damen bei Hofe, doch wollte er es nicht auf eine Prüfung ankommen lassen. Schließlich mochte er sie nicht vor ihrem Mann in jene unangenehme Situation bringen, sich etwa erklären zu müssen, warum sie keine angemessene Reaktion gezeigt hätte. Genauso wenig wollte er sie zwingen, ihrem Mann etwas vorzugaukeln, was sie nicht empfand, nur um einem Bild gerecht zu werden oder etwas zu verheimlichen. Lewis merkte, wie er über all diesem Nachsinnen ins Stocken geriet und widmete sich wieder dem Erzählen. Er berichtete also, wie die Wahl des nächsten Anschauungsobjektes für Leones Fähigkeiten auf ihn fiel.

„Ha!“, rief Böttiger. „Das sieht dem Geheimrat ähnlich. Seinen überlegenen Geist herauszustellen und andere vorzuführen. Ich erinnere mich da an eine Sache mit einem befleckten Betttuch ...“ – er stockte, als er den empörten Blick seiner Frau sah –, „... aber das ist kein Gespräch für den Tisch. Verzeihung, Herr Lewis.“

Lewis nickte und hatte wieder die ungeteilte Aufmerksamkeit Eleonore Böttigers. Er berichtete vom glitzernden Pendel, bei dessen Beschreibung besonders Karlchen große Augen machte. Den Beginn der Vision beschrieb er getreu seiner Erinnerung. Ihm wurde dabei mit einiger Fassungslosigkeit, die er nur mit Mühe überspielen konnte, bewusst, wie ähnlich die Traumgestalt der Frau doch der leibhaftig vor ihm sitzenden Eleonore war. Ängstlich ließ er den Blick von ihr zu Böttiger wandern, doch in keinem der beiden Antlitze konnte er etwas lesen, was darauf hingedeutet hätte, dass seine Zuhörer diese Entdeckung teilten. Er war froh, dass die männliche Figur, deren Züge er nun schilderte, ihm in keiner Weise glich. Während er erzählte, bemerkte er, wie Eleonore ihn immer schärfer musterte, als erkenne sie für ihren Teil sehr wohl eine Artverwandtheit zwischen Traumgestalt und Träumendem. Rasch fügte Lewis die Beobachtung hinzu, dass es sich bei dem Mann offensichtlich um einen Geistlichen gehandelt hatte und die Szene in einer Kirche spielte. Dann ersann er rasch eine andere Auflösung, indem er angab, mit einem Donnerschlag seien die Trugbilder vor seinem inneren Auge erloschen, was ihn derart erschreckt habe, dass er vom Stuhl gestürzt sei. Von seinem Sturz hatte er Böttiger nämlich schon am vorigen Abend berichtet, als dieser nach dem Grund der unerwartet frühen Heimkehr des Engländers gefragt hatte. Lewis hoffte, dass das wahre Ende der Vision nicht über die üblichen mündlichen Wege doch noch seinen Weg in Böttigers Ohr finden würde. Ein törichter Wunsch, wie ihm aufging. Aber immerhin wäre es ihm möglich, auf einen Verlust der getreuen Erinnerung infolge des Sturzes hinzuweisen, womit er sich dem Vorwurf der Lüge entziehen könnte. Lewis seufzte leise.

„Ach, Sie Armer!“, rief Eleonore Böttiger mitfühlend. Ihr Mann hatte ihr natürlich schon zuvor von dem Missgeschick berichtet und sie der Unversehrtheit des Gastes versichert, doch der Bericht aus erster Hand rührte sie verständlicherweise doch mehr an. „Solch ein Ende eines schönen Abends haben Sie wirklich nicht verdient – und den Anfang erst. Wären Sie doch nur hiergeblieben!“

„Liebe Frau Böttiger, ich danke Ihnen für die Anteilnahme“, sagte Lewis und war froh, dass er einiges an Tatsachen unterschlagen hatte. „Aber ich habe ja alles heil überstanden.“ Er sah die beiden Eheleute nacheinander an. „So heil, dass ich mein Glück nicht allzu rasch wieder auf die Probe stellen will. Keine Kutschfahrten, keine abendlichen Séancen. Herr Goethe hat mich in den Mittwochsclub eingeladen, was ich sehr nett finde ...“

„Goethe will Sie also in seinen eigenen vier Wänden empfangen. Sie können mir glauben, dann sind Sie seinem genialischen Weltgeist völlig ausgeliefert …“ Böttiger unterbrach sich, als schösse ihm ein Gedanke durch den Kopf. „Da fällt mir ein, er kann ja momentan gar kein Gastgeber für den Gelehrtenverein sein, da sowohl die alte Wohnung als auch die neue alles andere denn als wohnlich zu bezeichnen sind. Wahrscheinlich dürfte die Wahl auf Bertuch fallen, und dann haben Sie Gelegenheit ...“

Lewis erlaubte sich ein kurzes Lachen und führte Böttigers Satz fort: „... das schönste Haus in ganz Weimar zu sehen, dessen Bau und Möblierung schon Schiller gelobt hat. Ja, das hat mir Herr Bertuch schon nicht ohne Stolz berichtet.“

Böttiger zog sich am Ohrläppchen. „Ich sehe schon, bald kann ich Ihnen nichts mehr berichten, weil Sie selbst schon alles in Erfahrung gebracht haben. Doch nichtsdestoweniger werden Sie bei einer solchen Gelegenheit Herrn Schiller persönlich treffen und feststellen, dass er sich nicht allein auf tatsächliche Gebäude versteht, sondern auch auf jene geistiger Art.“

„Ich sehe dem freudig entgegen. Doch zunächst möchte ich Herrn Goethes anderer Empfehlung nachkommen und durch Weimar spazieren, insbesondere durch die Parks. Denn ich sollte ja nicht nur die Menschen hier kennenlernen, sondern auch deren Umfeld.“

„Richtig. Streifen Sie nach Herzenslust durch die Gassen. Es kann nicht schaden, wenn Sie nicht allein die Bekanntschaft mit dem Bürgertum und dem Adel machen, sondern auch dem einfachen Volk begegnen. Das mag Ihr Ohr schärfen und Ihre Zunge geschmeidig machen für die deutsche Sprache, auch wenn Sie sie schon vorzüglich beherrschen. Aber versprechen Sie mir, nicht allzu sehr der Sprache der Gassen zu verfallen. Nicht dass Sie allzu unbedacht bei Hofe oder in Anwesenheit von Damen Dinge aussprechen, die Sie von einem Fuhrmann oder Bauernlümmel aufgeschnappt haben.“

„Ich werde mich zu benehmen wissen. Vielleicht höre ich auch erst gar nicht hin, wenn derlei Unaussprechlichkeiten ausgesprochen werden.“

Er schaute freundlich Eleonore Böttiger an, die den Blick ein wenig senkte und dann über die vor ihr Lächeln gelegte Hand zurücksah.

„Oh, Karl“, sagte sie. „Versuch doch nicht, Herrn Lewis zu erziehen. Das kannst du bei den Schülern und deinem Kind. Aber als angehender Dichter muss unser Gast doch alles in sich aufnehmen, dessen er gewahr wird. Sonst kann er doch nie das Leben in seinen Werken abbilden – und vertraue doch ein wenig mehr auf seine Manieren. Schließlich hat er sich bislang wacker geschlagen, was ihm nicht gelungen wäre, wenn es in Umgangsformen schlecht um ihn bestellt wäre.“

Böttiger hob abwehrend die Hände und lächelte. „Herr Lewis, Sie sehen, Sie haben die beste Verbündete, die Sie sich in diesem Haus, ja vielleicht in ganz Weimar wünschen können.“ Er küsste seiner Frau die Hand und stand auf. „Nun folgen Sie mir doch, ich kann Ihnen auf einem Stadtplan in meinem Arbeitszimmer zeigen, wohin Sie Ihre Schritte lenken müssen, um an die erbaulichsten Orte dieser Stadt zu gelangen.“

Lewis folgte dieser Einladung, die Eleonore durch ein aufmunterndes Nicken bekräftigte.

Langsam begannen ihre Wangen, das Rot zu verlieren, das die Bemerkung ihres Mannes und der darauffolgende Blick von Lewis darübergelegt hatten.

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Eine Viertelstunde später spazierte Lewis über den Marktplatz, den Weg in Richtung des Ilmufers einschlagend. Böttiger hatte ihn diesmal nicht allein mit kundigen Ratschlägen und Empfehlungen bedacht, sondern ihm auch etwas Handfestes mit auf den Weg gegeben: Lewis schwang im Gehen einen gewaltigen Knotenstock.

„Der hat dem Johann Kaufmann gehört, ein Dichter, den Sie nicht kennen müssen. Irgendwann hat er den Stock bei Goethe vergessen, und dann ist er bei mir geendet. Vor gut fünfzehn Jahren ist Kaufmann damit durch Dessau einhergestelzt, und er hat ihn nicht einmal im Zimmer der Fürstin oder an der Tafel des Fürsten abgelegt. Das gehörte zu seinem Selbstverständnis als Genius. Auch eine eigene Tracht hatte er. Während Goethe in Hosen und Weste aus weißem Leinen einherging, trug Kaufmann eine grüne Friesjacke und Charivaris – das sind Reithosen, die mit Leder besetzt sind und an der Seite Knöpfe haben –, die Brust war bis zum Nabel hinunter nackt, und sein Haar flatterte wie eine Mähne. Das soll ein Anblick gewesen sein! Aber wie auch immer, Sie wollen sich Weimar erwandern, dann brauchen Sie einen guten Stock, und dieser hier ist so gut wie jeder andere, wenn nicht sogar besser. Nehmen Sie ihn, er wird Sie gut führen.“

Lewis hätte gern erwidert, er gedenke, keine Bergtour zu unternehmen, willigte aber ein. Wie konnte er eine solch freundliche Geste abschlagen? Zumal er noch immer von seinem Gewissen geplagt wurde, was die Beugungen der Wahrheit anging, die er bei seiner Erzählung vorgenommen hatte.

So ließ er auf seinem Weg die Spitze des Stockes munter auf das Pflaster pochen. Die Sonne schien herrlich, und Lewis erlaubte es sich, da es wärmer und wärmer wurde, die Weste ein wenig aufzuknöpfen. Nicht zu weit, selbstverständlich, das wäre ihm nicht schicklich erschienen. Der ungetrübte Himmel strahlte über den Dachfirsten, und Lewis spürte, wie sich die düsteren Gefühle der vergangenen Tage verflüchtigten.

Auf dem Marktplatz trieben sich einige Bürger und Bauern umher, und Lewis beschloss, seinen direkten Weg zum Lauf der Ilm zu unterbrechen und einige Runden zu drehen. Beim Annähern an zahlreiche Personen und Gruppen schieden sich allmählich einzelne Gespräche aus dem Geplapper, und er lauschte auf das, was man einander hier und dort mitteilte. Gerede gab es und Tratsch, ganz wie ihn Böttiger zu berichten wusste, nur waren die Protagonisten hier die niedrigeren Bürger, die Bauern und die Tagelöhner, deren sittliche Kapriolen sich kaum von jenen der höheren Gesellschaft zu unterscheiden schienen. Frauen mit Hauben und ausladenden Röcken standen beieinander, Körbe oder Kannen in den Händen, und schwatzten. Nachdem zuvor Waren den Besitzer gewechselt hatten, war es jetzt an der Zeit, Neuigkeiten auszutauschen, die oftmals ebenso verderblich waren wie Fisch oder Eier und die deshalb nicht allzu lange gelagert werden durften. War mit dem Einkauf für das leibliche Wohl gesorgt, so mussten nun auch Kopf, Herz und vielleicht auch die Galle zu ihrem Recht kommen. Die Männer in steifen Jacken und mit Hüten, deren Krempen weich herabhingen, sogen vehement an ihren Pfeifen, und wenn sie es nicht taten, nutzten sie die Stiele als Instrumente, um ihre Darlegungen zu unterstreichen. Diese drehten sich zumeist um geldliche und politische Dinge und wurden teilweise in recht zurückhaltender Lautstärke geäußert, als seien sie wesentlich indiskreter als die privaten Belange der Mitbürger.

Lewis strich umher, lauschte hier und lauschte dort, stets darauf bedacht, nicht aufzufallen. Wurde er nach kurzem Verharren und Ohrenspitzen misstrauisch beäugt, was häufig genug vorkam, so streckte er die Nase in die Luft und begann gemächlichen Schrittes zu lustwandeln, als sei sein Innehalten eine zufällige Unregelmäßigkeit in seinem Gang gewesen. Insgesamt geschah es aber, dass solcherart Gespräche schlagartig leiser wurden oder ganz verstummten, oft schwenkten sie zu unverfänglichen Themen um. Lewis schien es, dass sich die Reaktion der Marktgänger aufteilte: Einerseits schien da eine allgemeine Scheu zu sein, belauscht zu werden. Nicht etwa die Befürchtung, dass jemand etwas zufällig mitanhörte, sondern tatsächlich lauschte.

Dann schien es Lewis, er falle durch seine Kleidung und Bewegung auf, obwohl er nichts Besonderes darin sah, auch nicht im direkten Vergleich zu anderen Bürgern. Aber sicher war das kleine Weimar untereinander so vertraut, dass ein jeder noch so unauffällige Fremde dennoch auffiel.

Schließlich schien es ihm – ein im Grunde närrischer Gedanke –, dass ihn einige wenige der Frauen und Männer tatsächlich erkannten und sich daraufhin, wenn sie auch nicht gerade das Weite suchten, aus seiner Nähe entfernten. Darauf konnte Lewis sich keinen Reim machen. Er sagte sich, dass er sich dies nur einbildete, und ging auf den Brunnen mit der Neptunfigur zu, um kurz die Hände ins kühle Wasser zu tauchen. Als er dort am Brunnenrand saß, außer Hörweite jeglichen Gespräches, war es ihm, als benähmen sich die Weimarer wieder normal. Gebärden und Gespräche waren wie zuvor und kamen als stetes, aber unbestimmbares Gewimmel und Gemurmel bei ihm an.

Er ließ den Blick schweifen und bemerkte in einiger Entfernung einen Mann, der ebenso müßig und ziellos wie er zwischen den Grüppchen auf dem Platz umherstrich. Auch er schien dann und wann beiläufig stehenzubleiben und ins Rund der Häuser oder den Himmel darüber zu blicken. Manche Gespräche verstummten oder wechselten das Thema, wenn er bemerkt wurde – Lewis erkannte das an den Gesten, die er mittlerweile unterscheiden konnte –, und einige der zuvor noch munter Plaudernden schienen sich mit einem Mal der übermäßig verstrichenen Zeit zu entsinnen und strebten auf eine der Gassen zu, die vom Marktplatz abgingen.

Gerade als Lewis halb unernst dachte, ob sich dies um einen weiteren Engländer handelte, setzte sich eine Person neben ihn auf den Brunnenrand. „Guten Morgen!“ Es war Wilhelm Herder, der ihn gutgelaunt angriente.

Lewis war ehrlich erfreut. „Wie schön, Sie zu sehen, Herr Herder!“

„Schön zu sehen, dass Sie wieder bester Dinge und für einen belebenden Ausflug gewappnet sind.“ Herder wies auf den Knotenstock, den Lewis an den Brunnenrand gelehnt hatte und der dem Engländer mit einem Mal furchtbar vorkam. Herder sah glänzend aus, mit seinem meerblauen Rock über sandfarbenen Hosen. Lewis kam sich wie ein Trauervogel vor, mit seiner eigenen Kleidung, die so dunkel war wie Herders Augen.

„Ja“, sagte er, „ich wollte die Stadt erkunden. Den Park an der Ilm und dergleichen. Dann bin ich aber hiergeblieben, um, wie es heißt, dem Volk aufs Maul zu schauen. Ich dachte, es könne nicht schaden, was mein Deutsch angeht.“

„Löblich“, entgegnete Herder, und der Klang seiner Stimme war Lewis sehr angenehm. „Haben Sie Interessanteres mitgehört als in den höheren Kreisen, in denen Sie bislang verkehrten?“

„Nun, es scheint, als seien die Bürger und Bauern peinlich darauf bedacht, dass nichts, was sie an Wichtigem zu sagen haben, in falsche Ohren gerät ...“

Herder schmunzelte wissend, aber sein Blick wurde kalt. „Gut erkannt. Ich denke, Ihnen ist bekannt, dass eine jegliche Obrigkeit genauso darauf bedacht ist, das Ohr am Munde des Volkes zu haben, wie Sie, wenn auch aus anderen Gründen, nämlich um etwaige Umtriebe frühzeitig zu erkennen.“

„Das leuchtet ein, aber warum ...“

„Sie fallen auf. Sie sind fremd hier, und Weimar ist klein. Hinzu kommt, dass Sie als einzelne, ohne festes Ziel umherstreifende Person ein wenig Misstrauen erregen ...“

„Oh ...“ Er überlegte. „Da war noch ein anderer Mann, und der ist selbst mir aufgefallen.“

„Gut erkannt“, lobte Herder, „das war gewiss ein Spitzel. Von denen treiben sich einige vermehrt umher, seitdem im Sommer die Studenten in Jena unruhig wurden, und über allem schweben die Nachwirkungen der Revolution in Frankreich und die nahenden Franzosen.“ Er schlug sich auf die Schenkel und stand auf. „Aber was rede ich! Kommen Sie, wir gehen noch einmal über den Markt und lauschen, und was wir nicht selbst erhaschen, werde ich Ihnen erklären. Schließlich sollten Sie genau wissen, wo und in welcher Stimmungslage Sie die kommenden Monate verbringen.“

Lewis war überrascht, wie anders er nun die Bevölkerung auf dem Marktplatz erlebte. Mochte es daran liegen, dass er munter plauschend mit einer anderen Person über das Pflaster spazierte, oder daran, dass es sich dabei um Herder handelte, der ein rechtes Geschick für Scharaden an den Tag legte – es war nun möglich, viel mehr Gespräche mitzuhören.

Einiges, was er vernahm, erfüllte ihn mit Staunen. Nicht, dass er staatlichen Dingen blauäugig gegenüberstand, er wusste wohl, welche Auswirkungen und Auswüchse Herrschaft und Untertanentum haben konnten.

Aber hier, am Musenhof von Weimar, im Idyll der kleinen Stadt mit ihren großen Menschen, hätte er eine solche Unzufriedenheit der niederen Bürger nicht erwartet. Er hörte von heftigen Konfrontationen um Weiderecht und über harte Strafen für die Verweigerung von Frondiensten. So wollte der Hof mit Lebensmitteln und anderen Naturalien versorgt werden, Brennholz für Beamte herbeigeschafft und die eine oder andere Reparaturarbeit an fürstlichen Bauten unternommen sein. Beklagt wurde sich über das ausufernde und zügellose fürstliche Jagdgebaren und über hohe Abgaben – und darüber, dass diese Klagen empfindliche Repressalien nach sich zogen. Im schlimmsten Falle drohte das Zuchthaus.

Doch selbst das mochte nicht das Ende des Unheils sein. Hier und da klang Besorgtheit auf. Die Ereignisse in Frankreich, die Feldkampagne des Herzogs und die durchmarschierenden preußischen Truppen erinnerten viele an die Zeit, als für den Krieg der Engländer gegen die abtrünnigen Kolonien in Amerika Soldaten zwangsrekrutiert wurden. Schon fürchteten manche, die Werber würden wieder durchs Land ziehen und Männer zum Militärdienst pressen. Damals war man auch im Zuchthaus nicht sicher gewesen: ein verschobener Häftling sparte dem Herzogtum nicht allein die Kosten der Verpflegung, sondern brachte der Staatskasse sogar noch einen Betrag ein.

Was, wenn nun der Krieg sich ausweitete, wenn er näherkam?

Lewis war über die Unzufriedenheit, die hinter der schönen Fassade Weimars brodelte, erschrocken. Deswegen war er beinahe erleichtert, dass angeblich allenthalben Spitzel durch die Mengen streiften, denn es durfte doch nicht sein, dass sich die Oberen dem vergeistigten Schein hingaben, ohne zu wissen, was im Volke gedacht wurde. Herder teilte mit ihm letztere Ansicht, was jedoch die Bespitzelungen betraf, so konnte er keineswegs zustimmen.

„Herr Lewis, ich denke, Ihr Umgang prägt Sie zu sehr. Ich möchte Sie hiermit einladen, irgendwann mit mir nach Jena zu kommen, um meine studentischen Freunde dort kennenzulernen. Sie sollte nicht nur mit Geheimräten und dergleichen verkehren ...“ Er lächelte gewinnend, so dass Lewis keinen Anlass hatte, dies als Stichelei zu sehen.

„Ich nehme dies gern an. Es kann nur förderlich sein, so viele Meinungen und Facetten wie nur möglich betrachten zu können.“

„Außerdem wäre es förderlich, auch einmal dort zu sein, wo es recht lustig zugeht! Sie scheinen mir manchmal gar so ernst, Herr Lewis!“

„Nun ...“ Lewis hob verlegen die Hände.

„Aber machen Sie sich nichts daraus. Nun muss ich mich sputen, ich bin spät dran!“ Herder legte die Hand an den Hut. „Ich werde mich bei Ihnen melden, vielleicht früher, als Sie denken!“ Er grinste breit und verschwand in der Menge.

Lewis sah ihm kurz nach, und es schien ihm, als habe er in dessen Nähe für einen Moment den Mann wiedererkannt, den er zuvor vom Brunnen aus gesehen hatte. Nach einem Lidschlag konnte er den anderen Mann nicht mehr ausmachen. Er war verschwunden.

Lewis zuckte die Achseln und verließ auch den Marktplatz. Er hatte genug von den schweren Gedanken fremder Leute gehört und wollte jetzt mit sich und den ihm eigenen – die hoffentlich von leichterer Natur waren – allein sein . Der Park rief ihn, lud zum Lustwandeln. Lewis schwang den Knotenstock und pfiff eine alte englische Volksweise, etwas, das er schon viel zu lang nicht mehr getan hatte. Er schlug einen Weg zum Schloss ein. Als die Wilhelmsburg mit ihren hohen Mauern in Sichtweite kam, wurde ihm bewusst, wie selten in Weimar eine Gebäudebezeichnung ihrem tatsächlichen Gegenstand gerecht wurde. Zumindest, wenn es sich um ein Schloss handeln sollte: Hatte sich Schloss Tiefurt nach genauer Betrachtung als ehemaliges Pächterhaus herausgestellt, so war das Weimarer Stadtschloss – eine Ruine. Als Böttiger Lewis den Weg zum Park an der Ilm erläutert hatte, hatte er ihm nebenbei etwas über den großen Brand wissen lassen, der im Jahr 1774 die Dachstühle und Innenräume des Herrschaftssitzes zum Raub der Flammen werden ließ. Seitdem logierte die Herzogsfamilie im Fürstenhaus an einem Ausläufer des Marktplatzes, im Wittumspalais oder eben in den ländlichen „Schlössern“ Tiefurt, Ettersburg, Dornburg und im Belvedere. Wenn manche Monarchen viele Meilen innerhalb ihrer Paläste zurückzulegen hatten, so waren die Fürsten von Weimar gezwungen, viele Meilen zwischen ihren Palästen zurückzulegen.

Lewis zog die Nase kraus und schüttelte den Kopf. Als er die kopflosen, ihrer Dächer beraubten Gebäude sah, mochte er kaum glauben, dass bereits seit drei Jahren am Wiederaufbau gearbeitet wurde; Böttiger hatte ihm erläutert, dass Goethe Mitglied der Schlossbaukommission und an der Planung und Ausführung des Auf- und Ausbaues beteiligt war. Lewis fragte sich, ob es eine Angelegenheit in Weimar gab, in die der Geheimrat nicht auf die eine oder andere Art einbezogen war.

Als er das Schloss halb umrundet hatte, kam er zu einer zweibogigen, steinernen Brücke, die sich nahe an den Mauern über das Flüsschen Ilm spannte. Interessiert blickte er auf den Wasserlauf, auf die kleinen Wellen, die darauf spielten, und die Enten, die vor sich hindümpelten. Er blickte noch einmal an den Mauern hinauf, die steil aufragten und deren Schatten auf ihn zuzuwandern begann. Dem Gebäude würde er sich ein anderes Mal widmen, momentan stand ihm der Sinn gar nicht nach Ruinen, und so wandte er den Blick wieder zum Fluss und zur Brücke. Der Weg streckte sich einladend ins lockende Grün der ersten Parkbäume und der Wiesen. Mit einem Auftappen der Stockspitze kam er der Aufforderung nach und betrat die Brücke. Unter ihm rauschte die Ilm, ein paar Enten lärmten jetzt, und er ging forsch voran, wobei er je einem Doppelschritt ein Aufsetzen des Stockes folgen ließ, so dass es klang, als bewege er sich auf drei und nicht etwa zwei Beinen.

Er betrat den Park und fühlte sich wie in England. Die Wege säumten ausgedehnte Grünflächen, besät mit Bäumen und Sträuchern. Friedrich Bertuch, damals Legationsrat, hatte fünfundzwanzig Jahre zuvor zusammen mit dem fürstlichen Gärtner, Johannes Reichert, tatsächlich künstlerische Arbeit geleistet. Lewis war glücklich, dass ihm Böttiger auch hierüber ausführlich Kunde gegeben hatte – er wollte bei nächster Gelegenheit dem guten Bertuch zu seinem Werk gratulieren. Ihm war, als sei er, eben noch in den Gassen der Stadt, geradewegs mitten in die freie Natur getreten. Tief atmete er ein, weit schritt er aus, und mit jeder Elle, die er auf den Wegen zurücklegte, fühlte er sich prächtiger. Das war doch wesentlich angenehmere Natur als jener Wald vor Tiefurt, der dicht und düster und wurzelig und vor allem schlammig gewesen war.

In der Flanke eines kleinen, baumbestandenen Hanges erspähte Lewis so etwas wie eine künstliche Grotte mit einem unregelmäßig geformten Wasserbecken. Er trat näher und sah in einer nicht sehr tiefen Höhlung im Fels, umrahmt von einer Art Torbogen, der grob aus dem Gestein herausgehauen war, eine Gestalt kauern. Es war das Steinbild einer Sphinx, die löwenleibig und mit Pharaonenhaupt auf einem Piedestal ruhte. Lewis betrachtete abwechselnd die Figur und ihr Abbild im Wasser des Beckens. Mit einem Mal kamen ihm sein Gang über die Brücke und das uralte Rätsel des Fabelwesens in den Sinn: Was geht morgens auf vier Beinen, mittags auf zweien und abends auf drei Beinen?

Lewis lachte. „Verzeih, gute Sphinx, aber auf mich trifft es nicht zu, auch wenn ich ein Mensch bin, wie als Antwort verlangt! Ich gehe bereits morgens auf drei Beinen!“ Er klopfte übermütig mit dem Stock an einen der Felsen. Als das Licht der Sonne im Wasser flirrte, blickte er zum Himmel. „Nun, genauer betrachtet, gehe ich auch mittags noch auf drei Beinen, wie es scheint!“

Die Sphinx beachtete ihn nicht, und Lewis war es auch egal. Er blickte sich um, und ein leises Plätschern von Wasser lockte ihn zur Seite. Ganz in der Nähe entsprang aus dem felsigen, mit Gesträuch bewachsenen Grund eine Quelle, die sich in eine Mulde aus aufgeschichteten Gesteinsbrocken ergoss und in einem ebensolchen Bett weiterlief. Lewis folgte dem Lauf des Bächleins ein wenig, zwischen Bäumen und Büschen hindurch, wobei ihm der Knotenstock gute Dienste leistete, bis er zu einer sternförmigen Kreuzung mehrerer fest angelegter Wege kam. Er folgte einem in Richtung der Sonne, bis er eine hölzerne Brücke erreichte, die ihn erneut über die Ilm brachte. Hügelig war es hier, und Felsen stachen aus dem Grün, in dem sich die Bäume festkrallten. Durch den Fels brach sich eine Treppe Bahn, den Hügel hinauf. Lewis, dem der vorige Pfad am Bächlein entlang uneben genug gewesen war, nahm flink die gleichmäßigen Stufen. Der Tritt war angenehm sicher, und rasch war der Aufstieg geschafft. Lewis schnaufte begeistert und blickte umher. Linker Hand schimmerten hinter einigen Bäumen die Steine einer Ruine. Lewis wusste von Böttiger, dass diese künstlich war, vielmehr, dass man einer alten Mauer das Ansehen einer weit größeren und wichtigeren Anlage gegeben hatte. Hier sah man einen Torbogenrest, dort, halb im Boden vergraben, das Kapitell einer Säule.

Unter einem weiteren Torbogen, der zu dicht über der Erde saß, als dass ein normal gewachsener Mensch hätte eintreten können, und flankiert von zwei gemeißelten Wappen in der Mauer ruhte eine Steinkugel auf einem Podest. Lewis fuhr mit der Hand darüber, überlegte, sich darauf zu setzen, entschied sich aber dagegen. Selbst an diesem warmen, hellen Sommertag – ein paar Vögel ließen sich in einiger Nähe vernehmen – hatte dieser Ort etwas Melancholisches. Man glaubte, die traurigen Überreste einer Burg zu sehen.

„... worin weiland ein ehrenfester Ritter mit seiner ganzen Sippschaft hauste und welche der Neid und die Habsucht eines mächtigeren Nachbarn in diesen schaudererregenden Steinhaufen verwandelte ...“

Lewis fuhr sich über die feuchte Stirn. Der Satz war plötzlich aus ihm herausgebrochen, als habe der Anblick der Ruine ihn in den Tiefen seines Seins aufgespürt und an die Oberfläche getrieben. Lewis keuchte. Dieser Platz flößte ihm mehr und mehr Unbehagen ein, wiewohl er sich dagegen sträubte, die heitere Stimmung, die ihn zuvor erfüllt hatte, zu verlieren. Plötzlich knackte ein Zweig, und Lewis wirbelte herum, sah, wie ein Kopf hinter der Mauerecke erschien, die sich nahe der Treppe befand. Der Mann vom Markt! Hastig stürzte Lewis davon, seinen Stock fest umklammert, und mit Mühe gelang es ihm, nicht kopfüber ins Gras zu schlagen. Hinter sich hörte er ein Lachen. Er wich den Baumstämmen aus, stolperte einen Hang hinab, wobei er nahezu einen Schuh verlor. Endlich, endlich erreichte er einen Weg und verbarg sich hinter einem mächtigen Baum. Vorsichtig blickte er zurück. Niemand war zu sehen. Aber aus einer anderen Richtung hörte er nochmals ein Lachen. Er drehte sich erschrocken um. In einiger Entfernung spazierte ein Pärchen, in neckischem Dialog vertieft. Unbeschwerte Spaziergänger wie er selbst noch wenige Augenblicke zuvor. Lewis’ Panik fiel mit einem Mal von ihm ab. Er versuchte, sich zu erinnern. Es mochte nicht der Mann vom Marktplatz gewesen sein, den er an der Ruine gesehen hatte. Nein, eigentlich war er ziemlich sicher, dass er es nicht gewesen war, denn bei näherem Entsinnen ähnelten sich weder die Hutform noch dessen Farbe, ganz zu schweigen davon, dass er weder das Gesicht des Mannes auf dem Marktplatz noch jenes halb von der Mauer verdeckte Antlitz genau hatte sehen können. Lewis schnaufte verächtlich. So ein wunderbarer Tag, so wunderbar, wie er begonnen hatte, und dennoch bedurfte es nur einer dürftigen, zumal noch unechten Ruine, die nicht einmal einem Kind als Spukstätte einen Schrecken würde einjagen können, um ihn, Lewis, in die alten Ängste zu versetzen. Er beschloss, die Schauerromane von nun an zu meiden, ja mit Verachtung zu strafen – und das verschwundene Manuskript? Gut, dass es verschwunden war! Das Alptraumgespinst aus Papier und Tinte, fort damit und nicht mehr daran gedacht!

Ein Gegenmittel musste her, um seinem Schreibwillen Genüge zu tun. Warum nicht, um sich nebenbei auch weiter in der Sprache zu üben, einige Zeilen von den großen Weimarer Dichtern übertragen und ihnen diese als Dank für die freundliche Aufnahme – und den Beistand in gewissen, unangenehmen Situationen – verehren?

Lewis hob den Stock, drohte der längst nicht mehr sichtbaren Ruine und wandte das Antlitz der Sonne zu. Weiter auf dem heiteren Spaziergang, die Luft und das Wetter genossen und die muntere Laune der Natur in sich aufgenommen! Er setzte den Stock auf den Boden, und Schritt für Schritt bewegte er sich weiter auf dem Weg, zwang sich zu tun, als sei nichts gewesen.

Nach einem guten Stück, das er hinter sich gebracht hatte – auch wegen des hilfreichen Pfeifens eines Liedchens – war er wieder besserer Dinge.

Bald überquerte er mittels einer Brücke zum dritten Male die Ilm und ging auf einem langgestreckten Weg in Richtung des Schlosses und somit der Stadt zurück. Langsam überkam ihn ein Hungergefühl, es musste schon über die Mittagszeit sein.

Aus dem Blättergrün sah er mit einem Mal ein hohes, gelbes Haus schimmern. Das Gartenhaus Goethes, wie er sich dank Böttigers Schilderung erinnerte. Hier hatte der Geheimrat einige Jahre gelebt und gedichtet, umgeben von einem dicht bepflanzten Garten. Lewis kam näher, trat bedächtig heran und betrachtete die Front des Hauses, wo sich an einem hölzernen Gitterwerk Ranken emporschlängelten.

Einen Moment lang überlegte er, ob er durch das kleine weiße Tor in der Hecke eintreten sollte, um nachzuschauen, ob Goethe vielleicht anwesend wäre, alter Zeiten gedenkend. Oder vielleicht, um dem Staub und dem Lärm im Haus am Frauenplan zu entfliehen. Nein, dachte sich Lewis, warum sollte er? Jetzt zur Mittagszeit war er sicher bei seiner Frau und dem jungen Sohn, um mit der kleinen Familie seine Mahlzeit einzunehmen.

Lewis spürte, wie sein eigener Magen knurrte, so heftig, dass es selbst über das Vogelgezwitscher in den Zweigen hörbar war. Es war höchste Zeit zurückzukehren, um, sollte er den Mittagstisch versäumt haben, doch immerhin bei der Köchin einen am Herd warmgehaltenen Rest zu erhalten.

Er hatte den einen Fuß schon vorangesetzt, als ihm eine Bewegung an der Fassade des Gartenhauses auffiel. Er sah genauer hin. War dort oben, im linken Fenster des oberen Stockwerks, nicht ein Schatten erschienen? Falls Goethe doch im Hause war und ihn gesehen hätte, wäre es doch unhöflich, nicht kurz zu grüßen.

Lewis hob den Hut.

Doch im linken, oberen Fenster rührte sich nichts. Vielleicht war Goethe nur rasch vorbeigeschritten, ohne einen Blick aus dem Fenster und auf den Weg zu werfen.

Lewis drückte die Kopfbedeckung wieder auf seinen Scheitel. Warum auch Goethe? Genauso könnte ein Bediensteter in den Räumen zugange sein, ein Fremder, dem auch Lewis fremd wäre, und ebenso hätte es eine Spiegelung im Fenster sein können, Schwalben flogen hier zuhauf durch die Luft.

Lewis Magen knurrte erneut und forderte ihn zum Gehen. Rasch strebte er den geraden Weg entlang, bog seinem Gespür folgend nach links ab und kam tatsächlich wieder an der Sphinxgrotte vorbei. Das Wesen erwiderte seinen freundlichen Abschiedsgruß nicht, und so überquerte Lewis, ohne länger zu verweilen, die große steinerne Brücke, die ihn auf die Stadtseite der Ilm führte.

Der Weg zum Haus der Böttigers war schnell zurückgelegt, was von Lewis einen angemessenen Tribut an Schweiß forderte. Einigermaßen erhitzt kam er an und erbat sich in der Küche zunächst einen Trunk kühlen Wassers.

Die Köchin war gerade mit dem Säubern ihrer Gerätschaften beschäftigt und erschrak, als er den Raum betrat. Er fragte nach den Böttigers, sie sagte ihm aber knapp, der Herr Direktor und seine Frau hätten nach dem Essen nacheinander das Haus verlassen. Die Köchin, die die Böttigers stets nur „Gine“ riefen, zeigte für eine Frau ihres Berufs recht schmale, wenn auch keineswegs hagere Züge. Der Mund schien etwas spitz, vielleicht auch die Nase, was aber nicht schnippisch wirkte. Das bleich erscheinende Haar, das schon einige graue Strähnen hatte, war ordentlich aufgesteckt, die Schürze überraschend rein.

Lewis setzte sich an den schön mit Sand geschrubbten Tisch und dankte Gine, als er einen Teller mit Hammelfleisch und Karotten bekam. Er nahm vom Brot, verschmähte aber den Salat aus Kartoffeln, weil Sardellen darin waren, die einen ihm allzu suspekten Geschmack besaßen. Dennoch war er sehr zufrieden mit der Mahlzeit, die seinen Magen füllte und auch am Gaumen wenig zu wünschen übrigließ. Er fühlte sich von der Köchin beobachtet und schenkte ihr ein Nicken, da er nicht mit vollem Mund sprechen mochte.

Sie wandte sich halb wieder ab, schien ihn aber nicht aus den Augen zu lassen.

Lewis schluckte. „Es schmeckt mir sehr, vielen Dank“, sagte er, weil er glaubte, die Köchin verlange nach Anerkennung. Kurz überlegte er, doch noch vom Kartoffelsalat zu kosten, doch dieser Preis schien ihm für ein wenig Höflichkeit doch zu hoch. Also sah er in der Küche umher, als wolle er deren Ordnung loben. Dabei bemerkte er den Korb mit Holz, der neben dem Herd stand, und die Fetzchen Papier, die zwischen den Scheiten hervorlugten.

Mit einem Satz, der den Stuhl nach hinten über den Boden scharren ließ, sprang er hinzu und zerrte das Papier hervor. Gine hatte bei der heftigen Bewegung und dem scharfen Geräusch einen kurzen Schrei ausgestoßen und beinahe die Pfanne fallen gelassen, an der sie mit einem Lappen herumwischte.

Lewis, der entgegen seines Eides im Park gehofft hatte, das verschwundene Manuskript zu finden, wurde enttäuscht. Es war nur eine zerrissene Zeitungsseite. Lewis musste sich eingestehen, dass er zwar nicht betrübt über den Verlust des Textes, aber dennoch neugierig auf den Verbleib der Papiere oder den Umständen ihres Verschwindens war.

„Verzeihen Sie“, wandte er sich an Gine, „aber Sie haben doch zum Entfachen des Herdes heute Morgen sicher auch Papier benutzt?“

„Sicher“, sagte sie und drückte die Pfanne an die Brust.

„Können Sie sich erinnern, was darauf stand?“

„Ich kann nicht lesen.“

Lewis trat näher. Gine trat einen Schritt zurück und hob die Pfanne.

„Können Sie sich erinnern, ob es beschrieben oder bedruckt war?“ Lewis hob die Hände in einer beiläufigen Geste, die sein Bitten unterstreichen sollte.

Gine packte die Pfanne fester. „Nein“, sagte sie langsam, und ihre Augen wurden schmal.

Lewis bemerkte es nicht, da er überlegte, wie er der Frau sein Anliegen erläutern konnte. Er kam noch näher und suchte nach Worten, wobei er mit den Fingern in die Luft griff, als könne er die Begriffe dort herauspflücken. Gine hob die Pfanne noch höher.

„Sehen Sie ...“, begann Lewis, und in diesem Moment fiel ihm etwas ein. Er rief: „Ja!“ und hob den Finger.

Gine holte aus.

„Gine!“, rief Eleonore Böttiger von der Schwelle zur Küche. „Um Gottes Willen!“

Diesmal erschrak Lewis, sah die Köchin mit ihrem wilden Gesicht und taumelte zurück. Die Pfanne zischte durch die Luft. Eleonore lief herbei und legte der Köchin die Hand auf den Arm. „Was tust du denn!“

„Der komische Kerl kam mir zu nahe!“, sagte sie und ließ die Pfanne sinken, zeigte mit der anderen Hand auf Lewis, der kreidebleich war und nicht wusste, wie ihm geschah.

Eleonore sah ihn ungläubig an. „Herr Lewis ...?“

Lewis wedelte mit den Händen. „Aber nein, ich wollte nur ...“

Eleonore trat zwischen die beiden. „Bitte, was ist hier vorgefallen?“

Lewis und Gine redeten durcheinander. „Ich wollte nach dem Papier fragen.“

„Er kam mir zu nah und hat nach mir gegriffen!“

Eleonore schüttelte den Kopf. „Was für ein Papier? Gine, stell die Pfanne ab, Herr Lewis tut dir nichts! Du benimmst dich ja, als sei er ein Fremder!“

„Das ist er doch auch!“

„Nein“, sagte Eleonore nachdrücklich, „er ist unser Gast, und ein ehrenwerter dazu!“

„Er ist mir unheimlich!“

Lewis, der eigentlich auf die Frage Eleonores antworten wollte, riss die Augen auf. Sein Haar hing ihm wirr in die Stirn. Eleonore sah von Lewis zu Gine und zurück. Hinter ihrer empörten Miene hätte man bei genauem Hinsehen ein leises Lächeln erkennen können.

„Gine, ich bitte dich! Er ist ein netter junger Mann, der keiner Fliege etwas zuleide tut. Selbst Karlchen hat keine Angst vor ihm!“

Lewis hielt es für vernünftiger, in dieser Situation keine Widerworte zu geben, und so nickte er.

Gine sah ihn immer noch misstrauisch an. „Aber ich habe gehört ...“, begann sie.

„Was hast du gehört?“, fragte Eleonore scharf.

Gine wurde leiser. „Ich habe gehört, die Tilde habe von der Magd gehört, wie das Kammermädchen Fräulein von Göchhausens gesagt hat, was der Herr für schreckliche ...“

„Ach“, schalt Eleonore. „Glaub doch nicht, was diese Weiber daherreden! Das ist nur das übliche Gerede, wenn mal jemand Neues in der Stadt ist! Im Grunde – ach, Schluss damit!“

Sie legte Gine nochmals die Hand auf den Arm. „Geh jetzt einfach nach Haus. Ich möchte sowieso mit Herrn Lewis reden.“

Gine nickte und warf Lewis einen undurchdringlichen Blick zu. Zumindest konnte er ihn nicht deuten.

„Entschuldigung“, sagte er kläglich. Dann band Gine die Schürze ab, hängte sie an einen Haken an der Tür, grüßte Eleonore und ging.

Lewis breitete die Arme aus und bewegte die Hände. „Es tut mir leid, ich weiß auch nicht, was geschehen ist ...“

Eleonore schüttelte den Kopf. „Sie müssen sich nicht entschuldigen. Ich erkenne das Missverständnis. Auch jetzt machen Sie recht heftige Bewegungen, das mag Gine erschreckt haben.“

Lewis ließ die Hände sinken und biss sich auf die Lippe. „Aber das ist doch nicht ...“

„Gemeinhin nicht“, lachte Eleonore. „Aber Gine hat recht, wenn sie sagt, dass man sich hier und da etwas über Sie erzählt, mag es nun stimmen oder nicht. Weimar ist eine kleine Stadt, das haben Sie doch wohl auch schon bemerkt.“

„Nun ja, aber eine schöne allemal ...“ Lewis fühlte sich unbehaglich.

„Sie dürfen davon ausgehen, dass sich nicht allein die höheren Herrschaften mit Neuigkeiten voneinander versorgen.“

„In der Tat, ich ging heute auf dem Marktplatz umher, und da ...“ Lewis zögerte zu berichten, dass sich die Bürger und Bauern über wesentlich weniger harmlose Dinge unterhalten hatten als über musische und menschliche Vor- und Misslieben. „Da konnte ich so einiges hören“, beendete er den Satz behutsam.

Eleonore schmunzelte. „Sehen Sie? Also nehmen Sie es einer Köchin nicht übel, wenn Sie irgendwelche Spukgeschichten glaubt. Es ist ja zum Glück nichts geschehen.“

Lewis schielte zu der Pfanne und fuhr sich über die Stirn. „Ja ...“

„Weil es gut ausgegangen ist, werde ich Sie auch nicht mit der Frage behelligen, warum irgendjemand sich vor Ihnen ängstigen könnte, wo doch der Abend in Tiefurt nach Ihren eigenen Worten gar nichts Erschreckendes an sich hatte.“ Eleonore sah Lewis an, und der fühlte sich, als könne sie mit diesem Blick tiefer in ihn dringen, als ihm lieb war.

„Ja“, sagte er einfach, und als Eleonore nichts entgegnete und ihn nur weiterhin ansah, hob er rasch die Hand und presste die Finger gegen die Schläfe.

„Ach, Frau Böttiger“, sagte er schwach. „Wenn Sie mich entschuldigen möchten, der lange Spaziergang hat mich ermüdet. Vielleicht ist es auch die Sonne gewesen. Oder dieser Schreck eben ... ich würde mich gern zurückziehen und ein wenig hinlegen.“

„Aber gewiss.“ Eleonore lächelte ihr undurchschaubares Lächeln, und Lewis konnte sich des Gedankenbildes der steinernen Sphinx im Park nicht erwehren, das ihm durch den Kopf schoss.

Er grüßte eilig und ging so schnell aus der Küche, wie es gerade noch möglich war, ohne unhöflich zu wirken. In seinem Zimmer warf er sich auf das Bett und grübelte so lang, bis er tatsächlich einnickte.

Vor ihm erschien die steinerne Sphinx, die sich von ihrem Podest über dem Wasserbecken erhob und auf ihn zukam. Sie setzte die schweren Pranken auf die schimmernde Oberfläche des Wassers, und als sich Spiegelbild und Stein berührten, bildete sich zwischen ihnen ein lebendiges Zittern konzentrischer Kreise. Wie über eine Eislache schritt die Sphinx, ohne einen Laut, ohne einzusinken, ohne innezuhalten. Lewis sah, wie sich das Hellgrün der Blätter von Büschen und Bäumen ringsum verfärbte, über Gelb zu Braun, und wie es schließlich tot zu Boden sank. Kälte umfing ihn, und er sah seinen Atem, so dicht, dass er ihm die Sicht zu nehmen drohte. Vor den schwarzen, toten Bäumen stand die Sphinx und sah ihn aus leblosen Augen an. Mit einem sachten Knistern zog Raureif über den harten Boden, der Lewis mit den Sohlen seiner Schuhe festfrieren ließ, so dass es ihm unmöglich war, fortzulaufen. Die Sphinx kam näher, wuchs dabei, bis sie ihm an Statur ebenbürtig war. Auf dem Stein schimmerte der Frost, und das bleiche Sonnenlicht, das vom fahlen Himmel sickerte, brach sich darin wie in gemahlenen Diamanten. Lewis spürte, wie sich Schweiß auf seiner Stirn bildete, der sogleich gefror und harte Perlen auf seiner Haut zurückließ. Die Sphinx stand vor ihm, nur zwei Schritt entfernt, ihr Schwanz peitschte die eisige Luft. Wie gebannt folgte Lewis den Bewegungen, hin und her. Doch plötzlich hielt die Sphinx inne. Es krachte laut. Zwischen den Pranken des Wesens tat sich die harte Erde auf, riss in sternförmigen Mustern wie eine geborstene Glasscheibe, und in den dunklen Abgrund, der sich auftat, stürzte die Sphinx, und dann schloss sich die Erde mit einem Donnerschlag wieder, hinterließ nur kalten, reifglitzernden Boden wie zuvor, als sei nichts geschehen.

Lewis starrte auf die Stelle, bis ihn ein anderes Geräusch aufblicken ließ. Hinter den dunklen Baumstämmen waren nachtfarben gekleidete Männer hervorgetreten. Ihre Schultern, Arme und die Körper wurden von den langen Umhängen verhüllt, und schwarze Halbmasken bedeckten die Gesichter unter den schwarzen Dreispitzen. Lewis sah sich einem halben Dutzend dieser Figuren gegenüber, die ihn stumm und unbeweglich ansahen. Immer noch hielt der furchtbare Frost ihn gefangen, die Sohlen festgehalten am Boden und die Glieder gelähmt vor Kälte, und dennoch strömte ihm der Schweiß über das Gesicht, und wieder gefror dieser sogleich, bis ein dichter Panzer aus Eis seine Züge umhüllte.

Verschwommen konnte er mit seinen weit aufgerissenen Augen erkennen, wie sich die Gestalten von den Bäumen lösten und auf ihn zugeflogen kamen.

Da schrie Lewis, und der Panzer aus Eis zersprang in tausend Splitter, die mit dem Klang von silbernen Totenglocken zu Boden fielen.

Lewis schrak in seinem Bett auf, und einen Augenblick befürchtete er, die nachtfarbenen Männer hätten ihn erreicht und mit ihren weiten Umhängen umhüllt, so finster war es um ihn herum. Doch schnell erkannte er, dass er sich in seinem Zimmer befand und die Dunkelheit nur daher rührte, dass die Nacht angebrochen war. Er hatte vom frühen Nachmittag bis jetzt geschlafen, was er der Tatsache zuschrieb, dass die Strapazen des vorigen Abends und der doch recht kurzen Nacht Tribut gefordert hatten. Seine Munterkeit am Morgen schien eine Täuschung gewesen zu sein.

Lewis setzte sich auf und stützte die Ellbogen auf die Knie. Was für ein absonderlicher Traum. Noch immer klangen die hellen Töne des zerberstenden Eises in seinen Ohren.

Da war es wieder! Es klirrte um ihn herum, nein, direkt neben ihm. Er warf den Kopf, ja den ganzen Körper herum und sah, wie die Scheibe seines Zimmerfensters bebte. Lewis ernüchterte sich schnell und schüttelte den Schrecken ab. Da warf offenkundig jemand mit Steinchen, um seine Aufmerksamkeit zu erregen.

Langsam stand er auf und ging zum Fenster. Der Mond leuchtete hell, und er hätte ohne Probleme den Steinewerfer erkennen können, doch der Winkel zwischen dem Fenster und der ein Stockwerk tiefer liegenden Gasse war zu ungünstig. Wieder klirrte ein Kiesel.

Wer konnte ihn zu solch einer Stunde mit solchen Bubenstreichen behelligen? Plötzlich schoss es ihm durch den Kopf: Das konnte nur der junge Herder sein! Ihm traute er so ein Verhalten zu, und außerdem hatten sie ja in Verbindung bleiben wollen. Lewis hätte nur nicht geglaubt, dass dies schon so bald sein würde und erst recht nicht unter diesen Umständen. Dennoch griff er beherzt nach dem Fenster und öffnete es. Er streckte den Kopf hinaus, blickte hinab in die dunkle Gasse und erschrak.

Da saß, auf einem dunklen Pferd, eine hohe Gestalt im dunklen Mantel und mit einem Hut, der das Gesicht beschattete. Den Arm hatte sie ihn drohender Gebärde erhoben. Lewis wich zurück und wollte in Panik das Fenster zuwerfen, als er eine bekannte Stimme hörte:

„Das hat aber gedauert! Ich habe schon keine Kiesel mehr!“

Lewis beugte sich vor. Die Gestalt ließ etwas aus der erhobenen Hand rieseln und hob dann den Hut, so dass Lewis das Gesicht erkennen konnte. Es war Goethe.

„Kleiden Sie sich an, Herr Lewis, und kommen Sie! Es ist dringend – nehmen Sie einen Mantel mit!“

Als Lewis zögerte und den Mund in Ermangelung vernünftiger Worte öffnete und gleich wieder schloss, drängte Goethe weiter: „Nun machen Sie schon! Es eilt! Ich hoffe, Sie können reiten?“