IX

Buendnisse

A.D. 494

 

Fackeln an der zerfallenden Stadtmauer und auf Hengests grünen Grabhügel verbreiteten flackernd einen blassen Schein im letzten Licht des milden Sommertages. Der Platz vor dem Grabhügel war geräumt und mit Binsen ausgestreut worden, und nun standen dort die Tische für das Hochzeitsfest. Die Halle des Königs bot zu wenig Raum für so viele Menschen, zudem war es so kurz vor Mittsommer ohnehin zu warm, um sich drinnen aufzuhalten.

Der Klang von Andulfs Lied wurde vom Wind weitergetragen. Mittlerweile war der Skalde alt, und seine Stimme war nicht mehr so volltönend wie einst, dennoch wusste er immer noch, wie er sie einsetzen musste, damit man ihn weithin hören konnte.

 

»Heil dem Herrn, dem Erben von Helden,

Der Sachsen Sohn, die mit Schiffen vordem

Auf dem Wal-Weg westwärts, vom Wind getrieben,

Ihr Land verließen, ein neues zu finden –«

 

Oesc, der mit seinem Hausverwalter darüber beratschlagte, ob sie noch mehr Met auftischen sollten, betrachtete die Szene und lächelte. Zwei Dutzend Tische standen im Halbkreis mit seiner Tafel in der Mitte, wo Rigana, in scharlachrote Seide gehüllt und mit Gold geschmückt, ihn erwartete.

Ihr Gesicht war halb von einem Schleier bedeckt, dennoch sprang bei ihrem Anblick sein Herz in der Brust. Während des Monats, seit er sie nach Hause nach Cantuwaraburh gebracht hatte, hatte er entdeckt, dass er stets ihre Anwesenheit zu spüren vermochte, und sein Herz begann zu rasen, wenn nur ihre Hände sich berührten.

Er hatte auch noch einen anderen Grund, zufrieden zu sein. Die Häuptlinge Cantuwares, die anerkennend nickten, als Andulf Oescs Ahnen aufzuzählen begann, waren alle mit ihren Getreuen zum Fest angereist, aber das hatte er erwartet. Es war ihre Pflicht, die Hochzeit ihres Herrschers mit der Frau zu bezeugen, die ihm seinen Erben schenken würde. Aber Ceredic hatte seine Westsachsen mitgebracht, und Aelle, dessen Haar inzwischen gänzlich weiß geworden war, während er an Kraft nichts eingebüßt zu haben schien, war von Süden herangereist, um der Feier beizuwohnen, und auf diese Ehre hatte Oesc nicht zu hoffen gewagt.

Und neben Rigana, auf dem Platz ihres Vaters, hätte er noch gelebt, saß Artor, der Hochkönig. Er hatte die Zeit gefunden, diesem Fest beizuwohnen, obwohl er gerade erst seinen Feldzug gegen die Angeln zu Ende gebracht hatte und sich bereits einer neuen Bedrohung durch irische Brandschatzer in Demetia gegenüber sah. In gewisser Weise wirkt er beinahe wie ein Vater, dachte Oesc, während er die beiden beobachtete. Im vergangenen Jahr war Artor kräftiger geworden; das stundenlange Tragen der schweren Rüstung während der langen Feldzüge hatte seine Muskeln ausgebildet. In Artors Augen erkannte Oesc immer noch den Knaben, dem er vor sechzehn Jahren zum ersten Mal auf einem Schlachtfeld begegnet war, die Statur jedoch war nun wahrhaft die eines Mannes – und eines Königs.

Voller Begeisterung hatte Artor Oescs Einladung angenommen, bei der Hochzeit die Familie der Braut zu vertreten.

Weniger Begeisterung zeigte Rigana, als sie davon erfuhr. Gewiss, es war der Vor-Tigernus Vitalinus gewesen, der ihres Großvaters Reich verschenkt hatte, nicht Uther, doch obwohl es keinen Mann aus diesem Geschlecht mehr gab, dem Cantium zustünde, gab Rigana dem Hause Ambrosius die Schuld daran, es nicht wieder der britischen Herrschaft unterworfen zu haben, und Artor verübelte sie, dass er Oesc als dessen König bestätigt hatte.

Es war sinnlos darauf hinzuweisen, dass sie, wären die Sachsen nie gekommen, vermutlich bereits in jungen Jahren mit irgendeinem Fürsten irgendwo in Britannien verheiratet worden wäre, wohingegen sie nun fortan Königin in ihrem eigenen Land sein würde. Allmählich verstand Oesc die Braut, die er aus den Hügeln mit nach Hause gebracht hatte. Mutig war sie und leidenschaftlich, doch Logik zählte nicht zu ihren Tugenden.

»Edel die Frau, die zur Hochzeit er führt«, sang Andulf.

 

»Tochter von Königen, kühn ist ihr Herz,

Strahlend schön wie der Tag ist der Anblick

Der Herrin, die den Herrn mit dem Lande vereint.«

 

Das gefiel ihr bestimmt, dachte Oesc. Artor hatte den Ehevertrag für sie unterschrieben, und nun schnitt er Fleisch vom Braten, der soeben aufgetischt worden war. Während er die Scheiben auf ihren Teller legte, lächelte sie. Sollte ihm das zu denken geben, fragte sich Oesc.

Als er sie beobachtete, entdeckte er keine Anzeichen von Koketterie in Riganas Zügen, doch in Artors Augen vermeinte er Wehmut zu lesen. Die Frage einer Heirat des Hochkönigs war schon häufig der Mittelpunkt angeregter Gespräche gewesen, aber obschon zahlreiche Maiden für die hohe Ehre ins Gespräch gebracht worden waren, schien Artor sich nie die Zeit genommen zu haben, um ein Mädchen zu werben. Niemand wusste zu sagen, ob Artor eine heimliche Liebe gefunden hatte.

Oesc glaubte zwar nicht an eine geheime Geliebte, dennoch war Artor kein kaltherziger Mensch. Sollte er sich dereinst verlieben, dann mit ganzer Seele.

Nicht um meine Braut sollte ich mir Sorgen machen, dachte Oesc, sondern um meinen König.

Er sah, wie Ceredics Tochter Alfgifu sich näherte. Sie trug das große, silbergefasste Auerochsenhorn voll Met. Andulf schlug einen letzten Akkord an und beendete seinen Gesang.

Rasch kehrte Oesc an seinen Platz neben Rigana zurück, als Artor das Horn entgegennahm.

»Ich habe die Ehre, als Erster einen Trinkspruch auf das Paar auszubringen. Jede Ehe ist ein Vorbote der Hoffnung, denn durch sie nimmt das Leben seinen Fortgang. Doch vor allem diese Hochzeit erfüllt mich mit großer Hoffnung für die Zukunft, denn der Bräutigam, der einst mein Feind war, ist ein Freund und Verbündeter geworden, und die Braut, eine Frau meines eigenen Volkes, verkörpert die lebendige Verbindung zwischen der alten königlichen Linie und der neuen. Es kommt stets einem Wunder gleich, dass zwei so verschiedenartige Wesen wie ein Mann und eine Frau in Harmonie miteinander leben können.« Er setzte ab und ließ das unterdrückte Gelächter gewähren. »Aber wenn es Oesc und Rigana gelingt, besteht Hoffnung, dass auch Briten und Sachsen in Frieden miteinander leben können.

Dies also ist mein Wunsch für das Brautpaar: dass so, wie sie ihr Leben miteinander teilen, sich auch unsere Völker verbinden. Und sollten sie nicht immer in vollkommenem Einklang leben«, abermals wartete er, bis das aufkeimende Gelächter verstummte, »dann wünsche ich ihnen, dass ihre Streitigkeiten rasch beigelegt werden und dass aus ihrer Vereinigung neues Leben entspringen möge!«

Er drehte das Horn behutsam herum, sodass die Spitze nach unten wies, hob es an die Lippen und nahm einen tiefen Schluck, ohne einen Tropfen zu verschütten. Dann gab er es Alfgifu zurück, die es zunächst zu Aelle, danach zu Ceredic und den anderen Häuptlingen trug.

Die übrigen Segenswünsche erwiesen sich als herkömmlicher, wobei der Zeugung starker Söhne besonderer Nachdruck verliehen wurde. Oesc hörte sie kaum. Sein pochendes Herz erinnerte ihn daran, dass die Feier alsbald zu Ende gehen und es an der Zeit sein würde, Rigana vollends zu seiner Frau zu machen.

Nachdem die Trinksprüche geendet hatten, geleiteten die Frauen Rigana in die Halle, um sie für das Brautgemach vorzubereiten. Während ihre Gesänge in der Ferne verhallten, wurde das Gelächter der männlichen Gäste lauter, nun waren sie von den bislang eingehaltenen Regeln des Anstandes befreit.

»Trinkt ordentlich, Herr«, schlug Wulfhere vor und füllte Oescs Horn.

Der Bräutigam ergriff es, trank und musste an sich halten, um nicht zu husten, als er erkannte, dass es sich nicht um das milde Bier handelte, an dem sie sich bisher gelabt hatten, sondern um ein Gebräu, dessen Süße nicht vollends die Stärke zu überdecken vermochte. Er schluckte und spürte, wie ihm schwindelte, während sich ein Feuer in seinem Bauch ausbreitete. Sogleich gab er das Horn dem anderen Mann zurück.

»Großartiges Gebräu, aber ich halte mich besser zurück, sonst bin ich meiner Braut wenig nütze.«

»Wenn du dich nicht entspannst, nützt du ihr ebenso wenig«, gab Ceredic schmunzelnd zu bedenken und hielt ihm sein eigenes Horn hin. »Trink weiter, Mann!«

»Stimmt«, räumte Oesc ein und griff nach dem Horn.

»Der Hochkönig Britanniens setzt sich anlässlich deiner Hochzeitsfeier zu seinen sächsischen Feinden. Fühlst du dich nicht geehrt?« Immer noch lächelte er, aber seinen Worten haftete ein bittersüßer Beigeschmack an.

Oesc zog eine Augenbraue hoch. »Sollte ich mich denn nicht geehrt fühlen?«

Ceredic zuckte die Schultern. »Artor spricht zwar honigsüß von Frieden zwischen Briten und Sachsen, aber das ist so, als versuchte man, ein Bündnis zwischen Hunden und Wölfen zu schließen.«

»Du bist doch selbst ein halber Brite«, setzte Oesc an.

Ceredic grunzte. »Aber im Herzen bin ich Sachse. Das Blut mag sich wohl vermischen, der Geist jedoch muss rein bleiben. Jetzt lecken die Briten ihre Wunden, aber sie hassen uns nach wie vor, besonders Cador, der uns den Tod seines Bruders bei Portus Adurni nie verziehen hat. Es heißt, er hätte sich geweigert, mit Icel Frieden zu schließen und die Armee unmittelbar danach mit all seinen Männern verlassen. Ebenso wenig stellt er sie Artor in Demetia zur Verfügung. Dieser Mann lechzt nach Blut, und ihm ist egal, woher er es bekommt. An deiner Stelle würde ich Wachen an meinen Grenzen aufstellen.«

»Artor wird ihn an der Leine halten.«

Ceredic schüttelte den Kopf. »Artor mag sich wohl Frieden wünschen, aber eines Tages werden seine Fürsten ihn zwingen, sich gegen uns zu wenden. Wenn er dich zum Krieg gegen dein eigenes Volk auffordert, wofür wirst du dich dann entscheiden?«

Eine lange Weile musterte Oesc ihn mit gerunzelter Stirn. Der Met in seinem Bauch erkaltete. »Für mein Land«, antwortete er schließlich. »Für Cantuware.«

Ceredic öffnete den Mund, als wollte er etwas hinzufügen, dann schloss er ihn wieder. Plötzlich ließ ein Windstoß die Fackeln aufflackern, und Oesc drehte sich um. Haedwig war in den Lichtkreis getreten. Schweigen kehrte ein, als die Männer sie dort stehen sahen, und ein oder zwei, die sich unbeobachtet wähnten, vollführten verstohlene Schutzgesten. Oesc fiel ein, dass Haedwig mittlerweile ihr sechstes Lebensjahrzehnt erreicht haben musste, doch wie immer, wenn sie die Gewandung der Priesterin anlegte, wirkte sie alterslos.

Die weise Frau ließ den Blick über die Runde wandern, dann wandte sie sich mit einem Lächeln Oesc zu. »Dies ist eine Zeit der Veränderung; die Spindel dreht sich und spinnt neue Fäden für das Netz des Schicksals. Wollt Ihr wissen, mein König, welche Zukunft diese Eure Ehe bringen wird?«

Die am nächsten stehenden Männer wichen zurück. Oesc stellte fest, dass er jäh ernüchtert war.

»Fürchtet Ihr Euch etwa?«, fragte sie.

Er schüttelte den Kopf. Dies war Haedwig, die ihn seit seiner Kindheit geleitet und behütet hatte.

»Ich fürchte weder dich noch mein Schicksal. Ob gut, ob schlecht – weiß ich’s im Voraus, vermag ich mich ihm besser zu stellen.«

Die Gäste zogen sich zurück, um den Platz rings um die beiden zu räumen. Haedwig breitete ein Leintuch auf dem Boden aus und holte ein Bündel Runenstäbe aus ihrem Beutel hervor.

»Sagt denn, was wünscht Ihr zu erfahren?«

Einen Augenblick verharrte Oesc schweigend im Nachdenken und legte sich die Worte zurecht. »Sag mir, ob diese Ehe gedeihen und meine Königin mir einen Sohn schenken wird, der mir als mein Erbe in diesem Land nachfolgt.«

Haedwig nickte. Sie schloss die Augen und flüsterte ein Gebet, das er nicht hören konnte. Dann bückte sie sich und warf die Runenstäbe mit einer geübten Handbewegung auf das Tuch.

Die Eibenholzstäbe klapperten leise, als sie fielen, prallten voneinander ab und lagen dann still. Oesc beugte sich vor und versuchte die Symbole zu erkennen, die in die glatt geschliffenen Seiten der Stäbe geschnitten und gemalt waren. Mittlerweile war es ziemlich dunkel. Im Flackern des Fackellichts schienen die Runenzeichen sich zu drehen und zu winden.

Wie jeder Mann edlen Blutes kannte er die Runen, ihre tiefere Bedeutung jedoch, vor allem mehrerer Runen zueinander, war ihm fremd. Die Stäbe lagen verstreut auf dem Tuch. Die meisten waren nach außen gefallen; aus jenen, die innerhalb des aufgemalten Kreises in der Mitte lagen, las man die Prophezeiung.

»Ing, die Rune des Königs, der über das Meer kommt, der Gott im königlichen Grabhügel.« Haedwig deutete auf eine Rune gekreuzter Winkel, die in der Mitte des Tuches lag. »Eure Saat wird in dieser Erde wurzeln.« Von den anderen Männern erhob sich anerkennendes Gemurmel.

»Und da, gleich daneben, sind Ethel, Erbe und Heimatland, und Ger, die Rune reicher Ernten. Das bedeutet, Ihr werdet Eurem Land Glück bescheren. Aber Haegl, das Eiskorn, liegt dicht daneben. Auch ein gewaltsamer Aufstand droht.«

»Was ist das für eine Rune, die quer über der anderen liegt, gleich rechts der Mitte des Tuches?«, wollte Oesc wissen.

Eine Weile starrte Haedwig darauf, während sie leise murmelnd vor und zurück schaukelte. Schließlich seufzte sie.

»Nyd kreuzt Gyfu – die Rune der Notwendigkeit schneidet jene der Gaben und des Tausches. Seht Ihr, wie ähnlich sie einander sind? Eine gleicharmig, während die andere eine vom Bogen gekreuzte Feuerfurche zeigt. Gyfu ist eine Rune, die große Errungenschaften verheißt, aber sie ist auch ein Zeichen für Selbstopferung. Manch einer behauptet, Nyd zeige den Schnitt eines Schwertes oder die Spindel der Nornen. Was immer wahr sein mag, diese beiden gekreuzten Runen schneiden einander.« Die weise Frau schaute zu Oesc auf, und angesichts der Sorge in ihren Augen schloss sich eine eisige Hand um sein Herz.

Haedwig seufzte und fuhr fort. »Dies ist das Schicksal, das die Runen mir verraten. Eure Herrschaft wird fruchtbar sein, mein König, und Euer Sohn wird lange in diesem Land regieren. Doch ein Preis ist zu bezahlen. Immer. Nur wenn Ihr bereit seid, alles zu geben, wird alles eintreten, was Ihr Euch wünscht.«

»Alles?«, wiederholte er leise und erinnerte sich, wie der Leib seines Großvaters an jenem Baum gehangen hatte. Seit Kindesbeinen an wusste er, was von einem König erwartet wurde. »Ich habe darin schon eingewilligt, als ich auf Hengests Grabhügel wachte, ehe ich seinen Thron bestieg.«

»Ihr habt weise geantwortet.« Die Wicce stützte sich auf ihren Stock und richtete sich auf. »Eure Braut erwartet Euch. Geht jetzt und erfüllt Eure Bestimmung.«

Das Licht um sie wurde heller. Oesc drehte sich um und sah, dass vier der Frauen, die Rigana zur Halle geleitet hatten, mit frischen Fackeln zurückgekehrt waren, deren Flammen der aufkeimende Wind in lodernde Bänder verwandelte.

»Erfüllt Eure Bestimmung!«, echote Ceredic schmunzelnd. »Na, das wird euch heute nicht schwer fallen!« Er versetzte Oesc einen Stoß und reihte sich jubelnd mit den anderen Männern hinter ihm ein, während die Frauen ihm den Weg zum Brautgemach leuchteten.

 

Um dem Wunsch seiner Braut nach einem privaten Gemach, römischer Sitte gemäß, nachzukommen, hatte Oesc eine Trennwand errichten lassen, die das Ende der Halle, wo sich die Schlafstatt des Königs befand, vom Rest des Raumes abgrenzte. Vier Säulen trugen den Rahmen, und schwere breit gewebte Bänder aus scharlachroter und goldener Wolle bedeckten die Holzwand, hinter der sich ein Bett aus Stroh und Federn verbarg. Ein Holzboden war gelegt worden, den nun ein Teppich aus Wolfsfell zierte. Von Halterungen an der Wand baumelten getöpferte Lampen, und die Frauen hatten das Bett mit Grün und Frühsommerblumen geschmückt.

Noch wichtiger aber war, dass in das Gemach eine Tür führte. Als er sie fest hinter sich zuzog, war Oesc froh, sich die Mühe gemacht zu haben, diesen Raum zu bauen. Wenn nur ein dünnes Leintuch ihn von den derben Ermutigungen der Männer draußen getrennt hätte, wäre diese Stunde für ihn noch schwieriger gewesen.

Er räusperte sich. »Rigana?«

Von der anderen Seite des Vorhanges ertönte etwas, das wie ein verhaltenes Lachen klang.

»Je eher du ins Bett kommst, desto eher werden die da draußen still sein und uns in Ruhe lassen«, antwortete sie.

Oesc fingerte an der Schnalle seines Gürtels, zerrte sich das Hemd über den Kopf, ließ es fallen und stieg aus der Hose. Als er den Vorhang beiseite zog und ins Bett kletterte, spürte er sein Herz pochen, als zöge er in eine Schlacht.

Licht filterte durch das raue Webmuster der Vorhänge und schimmerte auf der hellen Haut seiner jungen Frau, die im Schneidersitz auf dem Laken saß. Oesc stockte der Atem, als er ihre kleinen, festen Brüste und die schlanken Schenkel erblickte; seine Augen bestätigten, was seine Hände bereits ertastet hatten, als sie im Gras miteinander rangen. Seit jenem Tag hatte sie sich kaum von ihm berühren lassen. Dennoch wirkte sie keineswegs scheu.

»Bist du betrunken?«, fragte sie.

Er schüttelte den Kopf. »Meinst du, ich muss mir Mut antrinken, um zu dir zu kommen?«

»Ich habe mich nur gefragt, was dich so lange aufgehalten hat.« Sie lehnte sich in die Kissen zurück und betrachtete ihn mit demselben unverhohlenen Interesse wie er sie zuvor.

Oesc hoffte, dass sie im schwachen Licht nicht erkennen würde, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg, und legte sich zu ihr ins Bett.

»Haedwig hat die Runen gelesen. Sie sagt, wir werden einen prächtigen Sohn haben, der König dieses Landes wird.«

»Tatsächlich? Dann ist es wohl an der Zeit, ihn zu zeugen.«

Oesc vermochte nicht zu entscheiden, ob ihr Lächeln verheißungsvoll war oder Trotz barg.

Er hatte sich diesen Augenblick in seinen Träumen ausgemalt, vorgehabt, zärtlich zu sein, sie langsam zu nehmen – er wollte ihre Wange streicheln, mit den Lippen ihren Hals liebkosen und ihre Brust einer zarten Frucht gleich in seiner Hand ruhen lassen. Er konnte nicht ahnen, welches Feuer ihr herausforderndes Lächeln in seinem Blut entfachen würde. Frigg, steh mir bei! dachte er, als er Rigana in die Arme zog.

Ihre drahtige, geschmeidige Kraft war wie in seiner Erinnerung, doch die zarte Haut, die sich gegen seine schmiegte, als sie miteinander rangen, ließ ihn jeden klaren Gedanken vergessen. Seine Finger packten ihr Haar, als er sie küsste, sein Körper presste sich gegen den ihren, bis sie still lag. Als er in sie eindrang, schrie sie auf und kämpfte abermals gegen ihn an, doch unmerklich fast wurde aus dem Kampf Harmonie, und beider keuchender Atem war im Einklang, während sie wie auf Sturmwogen ritten. Er fühlte, wie sie sich in seinen Armen anspannte, und schließlich trug letztes, leidenschaftliches Aufbäumen sein Bewusstsein mit sich fort.

Eine Ewigkeit danach nahmen sie einander wieder als eigenständige Wesen wahr. Wind flüsterte durch das Gebälk, und vom Festplatz hörten sie Männerstimmen singen. Oesc stützte sich auf einen Ellbogen und blickte auf seine Braut hinab.

»Glaub bloß nicht, es wird jedes Mal so einfach…«, mahnte sie mit bebender Stimme.

»Einfach?« Oesc zuckte, als er sich der Bisse und Kratzer bewusst wurde. »Ich fühle mich wie ein Schiff, das mit knapper Not einem Sturm entkommen ist. Wenn dieser Vereinigung ein Sohn entspringt, dann wird er ein Krieger!«

»Ein typischer Sachse!«

»Wild wie seine Mutter!«, gab Oesc zurück. Ratlos schüttelte er den Kopf. »Wenn du uns so sehr hasst, warum hast du mich dann geheiratet?«

»Du hast mich entführt«, entgegnete sie. »Was hatte ich denn für eine Wahl?«

»Du weißt genau, dass ich dich nicht gezwungen hätte. Außerdem schien mir dein Körper nach meinem zu verlangen! Rigana – derselbe Wind hat uns erfasst und letzten Endes in einen sicheren Hafen geweht. Selbst jetzt willst du mir dein Vertrauen nicht schenken?«

»In Wahrheit mag sich wohl mein Körper deinem ergeben haben, aber mein Verstand sagt mir noch immer, dass du mein Feind bist.«

»Und dein Herz?«, fragte er mit sanfter Stimme.

Rigana seufzte. »Mein Herz lernt langsam – du musst ihm Zeit geben, damit es versteht.«

 

In den folgenden Wochen musste Oesc oft an jene Worte denken. Die Ehe mit Rigana glich einer Reise über das Meer, wo die Winde aus allen Richtungen bliesen. Bisweilen wehten sie sanft wie auf einer sagenhaften Insel des Südens, und Oesc, halb trunken von den Küssen seiner jungen Frau, mochte schwören, er hätte sie endlich erobert. Doch dann prallten erneut ihre unterschiedlichen Ansichten über Kulturen oder Ideen aufeinander, oder sie blickte auf die Ruinen, über die ihr Großvater einst geherrscht hatte, und die Winde wehten wieder mit kaltem Biss aus Norden und betäubten seine Seele mit Frost. Ihre Körper jedoch gehorchten eigenen Regeln. So oft Rigana es erlaubte, liebten sie sich, und ihr Liebesspiel wurde zu einer Kraft, die beide bis ins Innerste erschütterte. Und bald wurde offensichtlich, dass Oescs Samen in fruchtbarem Boden keimte.

Während ihrer Schwangerschaft fand die Königin oft neue Anlässe, ihren Mann zu beschimpfen, insbesondere während der ersten Monate, in denen ihr häufig übel war. Nichtsdestotrotz wandte sich Rigana, während die Frucht ihrer körperlichen Liebe zusehends augenscheinlicher wurde, mehr und mehr ihrem Gemahl zu. Es war ein goldenes Jahr mit reichen Ernten und einem milden Winter, und Oesc genoss sein neues Glück mit einer Mischung aus Staunen und Freude.

Kurz nach der Frühlings-Tagundnachtgleiche, als die Regenstürme in stetiger Folge über das Land peitschten, setzten Riganas Wehen ein. Das Bett im Schlafgemach war mit sauberen Tüchern und frischem Stroh ausgelegt, und Oesc wurde aus der Kammer verbannt und wartete draußen in der Halle mit den anderen Männern am Feuer.

»Frauenzimmer!«, rief Wulfhere aus. »Wenn eine von ihnen im Stroh liegt, tun sie, als wären alle Männer Ungetüme!«

»Nicht alle Männer«, widersprach Oesc, der zusammenzuckte, als er Rigana von der anderen Seite der Wand fluchen hörte. »Nur ich…« Er rieb sich den linken Arm, wo seinerzeit Riganas Schleuder den vormals gebrochenen Knochen ein zweites Mal verletzt hatte. Der Arm machte ihm nach wie vor Schwierigkeiten.

»Unsere Königin kennt viele Worte«, stellte Wulfhere fest und fuhr sich mit der Hand durch das sich lichtende aschblonde Haar.

Oesc zwang sich ein Lächeln ab. Wulfhere war ein guter Freund, geradeheraus und unerschütterlich wie ein jeder guter Sachse. Aber er war in Cantium geboren worden, als Sohn eines Mannes, der mit Hengests erster Kriegsschar nach Britannien übergesetzt hatte. Er verstand Oescs Liebe für das Land. Zudem war er Vater von vier Kindern und wusste, was sein Herr im Augenblick durchlitt.

Unvermittelt schaute Oesc auf, als ihm bewusst wurde, dass aus dem Schlafgemach kein Laut mehr drang. Ungestüm wollte er aufspringen, doch Wulfhere schüttelte nur den Kopf.

»Sobald es etwas Neues gibt, kommt jemand heraus.« Er schob ihm den Bierkrug zu.

»Nein. Ich will nicht betrunken sein, wenn… Das dauert jetzt schon seit heute Morgen, und mittlerweile ist es nach Mitternacht! Ich würde lieber in einer Schlacht kämpfen, als hier zu warten. Dort könnte ich wenigstens etwas tun!«

»Das ist das Schlachtfeld einer Frau. Der Sieg aber ist Leben, nicht Tod.«

»Hoffentlich.« Schweren Herzens setzte Oesc sich wieder.

Aus dem Schlafgemach ertönte ein Stöhnen, dann etwas, das sich sehr nach einem Schlachtruf anhörte. Die beiden Männer starrten einander an, wagten kaum zu atmen, bis sie gleich einem Echo ein leises, aufbegehrendes dünnes Schreien vernahmen.

Frauenstimmen sprachen geschäftig, als die Tür sich öffnete und Haedwig ihnen ein Zeichen gab. Oesc brauchte kaum zwei Schritte, um zu ihr zu gelangen.

»Ist Rigana – ist das Kind – « Ihm fehlten die Worte. Hinter der Wicce sah er seine Frau in dem Bett liegen, in dem das Kind empfangen worden war. Auf dem Boden lag ein Haufen blutbefleckter Tücher. Rigana wirkte blass, doch ihre Augen leuchteten ungemein strahlend. Behutsam, so als könnten seine Schritte etwas zerbrechen, trat er an ihre Seite und ergriff ihre Hand.

»Liebste, es tut mir so leid«, stammelte er. »Ich hatte ja keine Ahnung!«

»Es tut dir leid? Nachdem ich dir einen prächtigen Sohn geboren habe? Sieh ihn dir doch an!« Sie schlug ein Leintuch zurück, und er erkannte, dass das, was er für ein zerknülltes Laken gehalten hatte, die Tücher waren, in die ein winziges Wesen gewickelt lag, das ob der Störung raunte und sich an die Mutterbrust schmiegte.

»Geht es dir gut?«, fragte er.

»Aber ja. Ich habe zu vielen Schafen geholfen, ihre Lämmer in die Welt zu setzen, um viel Aufhebens zu machen – obwohl ich sagen muss, dass die Schafe es leichter zu haben scheinen! Heb ihn mal hoch – ist er nicht wunderschön?«

Oesc wurde bewusst, dass alle Frauen ihn beobachteten, und jemand hatte seine Hauskarle gerufen, die nunmehr in die Kammer drängten.

»Er ist wunderschön«, murmelte er, obwohl die runzligen, geröteten Züge eher jenen eines winzigen Trolls als jenen eines Menschen glichen. Behutsam schob er die Hände unter das kleine Bündel und hob es empor. Als die verkniffenen Augen sich öffneten, und er flüchtig das Antlitz seines Großvaters Eadguths in jenem des Kindes erblickte, hielt er den Atem an.

»Wunderschön«, wiederholte er und wusste, worauf sie alle warteten. »Und ich erkenne ihn als meinen Sohn an! Haben wir Wasser da?« Er schaute zu Haedwig.

»Hier – ich habe es aus der geheiligten Quelle geholt.« Sie reichte ihm eine Schale aus dunkelbraunem Ton mit einem Zackenmuster unterhalb des Randes.

Oesc tauchte die Finger in das Wasser und träufelte die kühlen Tropfen auf die Stirn des Säuglings. »Eormenric, Sohn des Oesc, benenne ich dich, Enkel des Octha und des Gorangonus von Cantium, Urenkel Hengests des Heerführers und Eadguths, des Myrging-Königs. Ich widme dich Woden, der dir Atem verliehen, und der Herrin dieses Landes, die dir den Leib geschenkt hat. Lebe lang, mein Sohn, denn Cantuware ist dein Erbe!«

 

»Ich glaube, ich habe früher nie gewusst, wie es sich anfühlt, einfach glücklich zu sein«, meinte Oesc. Wulfhere, der neben ihm ritt, lachte.

»Nun, Herr, dazu habt Ihr auch allen Grund.«

Oesc stellte fest, dass er lächelte. Die Bewegung des Pferdes unter ihm, die Art und Weise, wie das Sonnenlicht durch die raschelnden Blätter auf den Pfad schien, der nordwärts durch den Forst nach Aegeles Furt führte, sogar die Süße der Luft, die er atmete – heute erfüllte ihn alles mit Freude. Auch früher war er durch schöne Sommertage geritten, doch nie war ihm ihre Schönheit so zu Herzen gegangen. Es war das Glück, das er in den großen Dingen seines Lebens fand, das ihm gestattete, auch den Wert der kleinen zu schätzen.

»Einem glücklichen Menschen erscheint alles golden«, gab er das alte Sprichwort wieder. »Fürwahr, ich bin tatsächlich gesegnet.«

Nach wie vor lächelnd, ging er im Geiste die Gaben durch, mit denen die Götter ihn beglückt hatten: Rigana hatte sich gut von der Geburt erholt, und Eormenric war der ersten Zerbrechlichkeit des Säuglingsalters entwachsen und mittlerweile ein so prächtiges, gesundes Kind, wie man es sich nur wünschen konnte. Die erste, beunruhigende Ähnlichkeit mit seinen Großvätern war verblasst, als er Gewicht zulegte. Der drei Monate alte Knabe hatte pralle Bäckchen, leuchtende Augen und lechzte danach, die Welt mit den pummeligen, rosa Händchen zu umarmen.

Trotz seiner Freude über das Kind vergaß Oesc nicht die Frau, die es ihm geschenkt hatte. Es würde niemals einfach sein, mit Rigana zusammenzuleben, doch nach einem Jahr Ehe hatte sie ein wenig von der heißblütigen Art abgelegt, die anfangs jede Unterhaltung zu einer Schlacht werden ließ. Nun stritten sie nur noch ein-, zweimal die Woche, und da ihre Schlachten häufig im Bett endeten, konnte Oesc sich kaum darüber beklagen.

Auch Hengests alte Halle hatte noch nie so strahlend gewirkt. Rigana besaß das Gebaren einer Prinzessin, aber durch ihr Leben auf dem Gehöft in den Hügeln wusste sie, welcher Arbeit es bedurfte, um einen Hof instand zu halten. Sie verlangte von ihren Mägden nichts, was sie selbst nicht besser hätte vollbringen können, und obwohl sie gelegentlich die scharfe Zunge ihrer Herrin zu spüren bekamen, achteten die Bediensteten sie.

Auch unter den Menschen Cantuwares hatte ihm seine Ehe neue Achtung verschafft, besonders von den Sippenführern und Ältesten. Sie haben keine Angst mehr, dass ich ihre Söhne zu wilden Abenteuern verleite, dachte er. Allmählich werde ich ein wahrer König dieses Landes.

Haesta jedenfalls schien davon überzeugt. Als Oesc jüngst zu Gericht saß, lobte der Häuptling seine Urteile. Sogar Hengest, meinte er, hätte das Land und dessen Bedürfnisse nicht so gut verstanden.

Zudem war Oesc immer noch jung und erfreute sich, abgesehen von der fortwährenden Schwäche im linken Arm, bester Gesundheit. Es gab keinen Grund, weshalb er nicht ebenso lange wie sein Großvater leben und zusehen sollte, wie seine Enkel in dem Land Wurzeln schlugen. Er hatte Rigana und den Knaben zu Aegeles Furt gebracht, damit sie den Segen der Göttin der geheiligten Quelle empfangen konnten.

Plötzlich verlangte seine Freude nach Taten. Die Furt befand sich kaum eine Stunde entfernt, und dann würde er seine Frau und sein Kind wiedersehen, doch er wollte nicht so lange warten. Die Ohren des Pferdes zuckten, als er die Zügel anhob.

»Wulfhere, deine Mähre schleicht wie ein Ackergaul. Ich habe vor, Aegeles Furt bis Mittag zu erreichen. Glaubst du, du kannst mit mir Schritt halten?«

»Ich werde vor Euch dort ankommen!« Wulfheres Augen leuchteten.

»Tu das, und ich überlasse dir die fränkische Schwertscheide, die Haesta mir geschenkt hat.«

»Und Ihr dürft Euch aus Spitzohrs nächstem Wurf ein Tier aussuchen, wenn Ihr gewinnt«, gab Wulfhere zurück. Die anderen Männer schüttelten nachsichtig die Köpfe, dennoch lenkten sie ihre Rösser aus dem Weg, als der junge König und sein Freund mit einem ungestümen Schrei den Pfad entlang lospreschten.

 

Über den Hals der grauen Stute gebeugt, sog Oesc die Brise ein, die durch die wehende Mähne gefiltert wurde. Erst als er zu husten begann, bemerkte er, dass die Luft nach Rauch roch. Nicht nach dem Rauch eines Feuers beim Kochen, Seifensieden, Verbrennen von Gebüsch oder wofür auch sonst auf einem Bauernhof Feuer entfacht wurden – nein, es war der beißende Gestank einer Feuersbrunst, von loderndem Holz und schwelendem Stroh. Im Krieg hatte er diesen Pesthauch zu oft wahrgenommen, um sich zu irren.

Er richtete sich auf, verlagerte das Gewicht nach hinten und zog die Zügel an. Kurz begehrte die Stute gegen ihn auf, dann stellte sie sich schnaubend auf die Hinterbeine, gerade als Wulfhere hinter ihm um die Kurve geprescht kam.

»Was ist los? Ist Euer Pferd…?«, setzte er an. Dann stieg auch ihm der Geruch in die Nase, den der Wind herbeitrug, und seine Miene veränderte sich.

»Reit zurück und hol die Krieger«, befahl Oesc mit leiser Stimme. »Die Packtiere sollen nachfolgen, so schnell sie können.«

»Aber, Herr!«

»Ich war oft Kundschafter. Ich werde mich langsam annähern und darauf achten, dass ich nicht entdeckt werde.«

Oesc wartete, bis das Hufgeklapper Wulfheres in der Ferne verhallte und es im Wald rings um ihn still wurde. Zwar hörte er weder Gebrüll noch Hufdonner, dennoch musste das Feuer nahe sein, denn es roch sehr stark nach Qualm. Vielleicht verbrannte Aegele nur Gestrüpp, redete er sich ein, und er, Oesc, würde wegen seiner Befürchtungen ausgelacht werden. Dann blies ihm der sich drehende Wind den Gestank versengten Fleisches ins Gesicht, und er trieb seiner Stute die Fersen in die Flanken.

Erst als er den Hang zur Furt hinabritt, ließ er das Pferd wieder Schritt gehen; mittlerweile hörte er Rabengeschrei, und Raben schrien erst, nachdem ein Kampf vorüber war.

Es war seltsam, stellte ein merkwürdig losgelöster Teil seiner selbst fest, als er auf das Gehöft ritt, wie deutlich er immer noch Spuren zu lesen vermochte, obschon sein letzter Ritt in den Krieg beinahe zehn Jahre zurücklag.

Die Angreifer waren ohne Vorwarnung über das Gehöft hergefallen. Die Frauen hatten gerade Stoff gefärbt. Zwei blaue Tücher flatterten feucht am Trockengestell, der Kessel aber lag umgestürzt, und sein Inhalt war mit dem Blut auf dem Boden vermischt. Daneben lag eine der Leibeigenen, mit eingeschlagenem Kopf; in der Hand hielt sie noch den Holzstiel, mit dem sie den Kessel umgerührt hatte. Ihr Rock bedeckte schamhaft die Schenkel.

Wo ist Rigana? Oesc zwang die aufgeregte Stimme in seinem Inneren zu verstummen.

Die Angreifer waren weder auf Vergewaltigung aus gewesen, noch hatten sie den Hof geplündert – im Stall brüllten noch die Rinder. Doch die Hufabdrücke hatten ihm bereits verraten, dass diese Leute gute Pferde aus römischer Zucht ritten, nicht die zottigen Berg-Ponys, auf denen Geächtete zu reiten pflegten.

Neben dem Stall fand er zwei weitere Leibeigene, dann einen von Aegeles Männern, der noch das Schwert in der Hand hielt. Geächtete hätten die Waffe keinesfalls zurückgelassen; zudem wiesen die Hiebe, die den Mann getötet hatten, auf militärische Genauigkeit hin. Dies war kein Raubüberfall, sondern ein wohlgeplanter Angriff, durchgeführt von ausgebildeten Kriegern mit einem militärischen Ziel vor Augen.

Meine Frau und mein Sohn! Tot oder Geiseln? Abermals verdrängte er die Stimme.

Gezielt bahnte Oesc sich einen Weg um die Gebäude. Überall lagen weitere Männer, denen man neben den Wunden, die sie im Kampf davongetragen hatten, noch die Kehlen durchschnitten hatte. Die Angreifer hatten niemanden am Leben gelassen, der die Geschichte erzählen konnte. Aegele selbst lag mit seiner Frau innerhalb der Ruinen seines Hauses. Sein Leichnam war teilweise verbrannt, aber das goldene Band, das ihn als Edlen kennzeichnete, prangte nach wie vor an seinem Arm.

Haedwig war bei ihnen. Konnte ihre Magie Rigana und das Kind verborgen haben?

Er ließ die Stute zurück und stieg den Pfad zum Schrein hinauf. Der Ort war von der Verwüstung, die der übrige Hof erfahren hatte, verschont geblieben – ein weiterer Grund, der jenen kalten, berechnenden Teil seines Verstandes, der den lodernden Zorn in seinem Inneren im Zaum hielt, darauf schließen ließ, dass britische Krieger dies angerichtet hatten. Im Staub vor dem Schrein erblickte er Spuren eines Kampfes. Blut war geflossen – dunkle Tropfen sprenkelten den Boden.

Ein Windhauch strich durch sein Haar und kühlte den Schweiß auf seiner Stirn. Er trat ein.

Die Lampen waren schon kalt, aber auf dem Stein lag noch ein Strauß Sommerastern, daneben der Beißknochen eines Kleinkindes.

»Herrin«, flüsterte er. »Sie sind gekommen, um dir zu dienen. Hättest du sie nicht beschützen können?«

Wasser murmelte melodisch aus der Quelle, dasselbe Lied, das es schon für Kelten, Römer und jene vor ihnen gesungen hatte. Ich bin hier, wie ich immer hier gewesen bin… tuschelte es. Schweig still und wisse…

Doch Oesc konnte nicht zuhören. In ihm braute sich ein heftiger Sturm zusammen, der Geduld und Vernunft gleichermaßen hinwegfegte.

Ein paar rasche Schritte brachten ihn zurück zur Tür und zum verwüsteten Gehöft am Fuß des Schreins. Wulfhere und seine Männer trafen gerade ein. Doch er nahm sie kaum wahr.

»Rigana«, flüsterte er. Das Tosen des Sturmes wurde lauter, obwohl sich kein Blatt regte. »Rigana!«

Alle Vernunft war hinweggefegt von einem gewaltigen Schrei, der die Stille zerriss, als aus ihrem Namen das wortlose Gebrüll eines Berserkers wurde. Brüllend rannte Oesc den Hügel hinab.

 

Während der nächsten vier Tage blieben sie den Angreifern auf der Spur. Boten galoppierten los, um die Armee zusammenzurufen, während Oesc und seine besten Fährtensucher der Spur folgten.

Das war ein leichtes Unterfangen. Auf ihrem Weg nach Cantuware hatten die Briten weitere Gehöfte überfallen, doch offenbar war ihnen bewusst, dass sie mit Rigana einen Preis wertvoller als jede Beute errungen hatten, und so verloren sie keine Zeit, sie aus den sächsischen Gebieten fortzuschaffen. Die Spur führte zunächst in den Norden von Durobrivae, danach nach Westen entlang der alten Römerstraße.

Für jene, an denen sie vorbeikamen, waren die Angreifer nur das Echo hallender Hufschläge, ein Schemen in der Nacht. Doch als die Kunde sich im Land verbreitete, schlossen sich ihnen Krieger aus den Orten an, die auf dem Hinweg überfallen worden waren. Als Oesc die Grenzen seiner eigenen Gebiete erreichte, umfasste seine Armee über hundert Mann.

Doch der Vorsprung der Briten betrug bereits einen ganzen Tag. Sie hatten kurz vor Londinium die Straße verlassen und waren danach querfeldein geritten, auf Nebenpfaden, die den Sachsen unbekannt waren. Sie trachteten unverkennbar danach, Venta Belgarum ebenso zu meiden wie Londinium, dennoch führte ihr Weg weiter gen Westen.

Eine Woche, nachdem Rigana entführt worden war, ließ Oesc seine Kriegshorde an der britischen Grenze innehalten. Ihre Beute war west- und südwärts nach Dumnonia geflüchtet, und Oesc hatte nicht die Streitmacht, ihnen zu folgen. Doch mittlerweile wusste er, wen er jagte. Die Krieger, die seine Frau und sein Kind geraubt hatten, gehörten zu Cador, dem Fürsten der Cornovii und Feind der Sachsen.

»Was wollt Ihr nun tun?«, fragte Wulfhere. Der anstrengende Ritt über eine ganze Woche hinweg hatte sein Gesicht gezeichnet.

Oesc drehte sich zu ihm um. »Beric.« Er deutete auf einen rothaarigen Burschen auf einem scheckigen Pony. »Deine Mutter war Britin, und du beherrschst die Sprache gut. Ich schreibe eine Botschaft auf Lateinisch, die du Artor überbringen musst. Ich glaube, er hält sich in Demetia auf – die Iren stiften wieder Unruhe. Es ist an der Zeit, ihn an seinen Eid zu erinnern. Rigana und der Knabe sind nur lebendig als Geiseln wertvoll. Ich muss annehmen, dass Cador sie gut behandelt. Aber seinem König wird er sie aushändigen müssen.«

»Und wenn er sich weigert?«

Oesc spürte, wie sich seine Züge vor Wut verzerrten. »Wenn Artor sie nicht für mich zurückholt, dann ist auch mein Eid an ihn null und nichtig. Dann wende ich mich an mein eigenes Volk, an Ceredic und Aelle, und gemeinsam werden wir einen Rachekrieg entfachen, der die Briten ins Meer zurücktreibt!«