VIII
Schlachten im Nebel
A.D. 493
»Leben denn überhaupt noch Angeln in Germanien?« Artor ließ die Faust so heftig auf den Tisch niedersausen, dass die Landkarte erzitterte und das Tintenfass beinahe umkippte. »Seit fünfzehn Jahren strömen jeden Frühling mehr von ihnen, Wildgänsen gleich, nordwärts über das Meer. Aber diese Wildgänse fliegen nicht zurück nach Hause. Die Gebiete der Iceni und Trinovantes sind längst an sie verloren, und nun breiten die Angeln sich im Land der Coritani aus. Wenn sie sich mit ihren Landsleuten oberhalb des Abus zusammentun, hat König Icel die halbe Insel im Würgegriff!«
Eine flackernde Hängelampe verlieh dem grauen, regenblinden Licht, das durch die dicken Fensterscheiben drang, eine unstete Helligkeit. Es regnete schon seit geraumer Zeit.
»Um Eure erste Frage zu beantworten«, erwiderte Bediver, »in Gallien heißt es, das Heimatland der Angeln sei zur menschenleeren Öde geworden. Wir werden nicht mehr mit weiteren Siedlern rechnen müssen. Um Eure zweite Frage zu beantworten: Die letzten Boten, die eintrafen, berichten, dass Lindum umzingelt ist. Selbst wenn Icel die Stadt nicht einnimmt, ist Ost-Britannien bereits in seiner Hand…«
»Deine Worte sind wirklich ein großer Trost«, stellte Gwalchmai fest, der sich an den Türrahmen lehnte. Er überragte nun selbst Artor an Größe und musste den Kopf einziehen, um durch die Tür zu gelangen. Sein Bruder Gwyhir, der sich Artors Haushalt zwei Jahre nach seinem Bruder angeschlossen hatte, war ebenso groß, und zweifellos würde auch der junge Aggarban, der dritte von Artors Neffen, der ihnen noch folgen würde, zu einem großen Mann heranwachsen.
»Lindum war durch den letzten Angriff der Sachsen schwer beschädigt worden, und die Mauern wurden nicht mehr instand gesetzt.« Bediver fuhr mit dem Finger auf der Karte die Römerstraße gen Norden nach. »Mittlerweile könnte die Stadt bereits gefallen sein. Wir hätten schon längst Verstärkung schicken sollen.«
»Gwalchmai hat Recht«, murmelte der König. »Du kannst einen deprimieren.«
»Ihr würdet es mir nicht danken, wenn ich Lügen auftischte.«
Artor blickte mit dem blitzenden Lächeln auf, das seinen Worten die Schärfe nahm. »Selbstverständlich hast du Recht, aber das schlechte Wetter lässt es nicht zu, die Reiterei einzusetzen. Haben die Angeln denn Schwimmhäute? Ich hörte, dass Anglia zum größten Teil aus Sumpfland besteht – sie müssen sich hier wie zu Hause fühlen.«
Gwalchmai brach in schallendes Gelächter aus. »Darauf wette ich! Ich hätte mir die Füße des guten, alten Oesc ansehen sollen, als er noch hier war. Aber ist er nicht ein Jute?«
»Seine Mutter war eine Myrging, Hengest hingegen stammte von den Angeln ab. Gott sei Dank ist Oesc fest in Cantium verwurzelt und damit zufrieden, innerhalb seiner Grenzen zu bleiben«, fügte Bediver hinzu.
»Aber er hat Artor den Eid geleistet – gewiss könnte man ihn rufen.«
Der König schüttelte den Kopf. »Ich habe einst eine junge Wildgans aufgezogen, sie folgte mir, als sei ich ihre Mutter. Einen ganzen Sommer lang fraß sie mit den weißen Hausgänsen und schien zufrieden. Aber als im Herbst die Wildgänse vorüberzogen, da breitete mein Küken die Schwingen aus und flog davon. Ich habe versucht, es zurückzurufen, und es kreiste dreimal, doch es musste dem Ruf der Wildnis folgen, und so verlor ich es.«
Gwalchmai blickte ihn verständnislos an.
»Ich glaube, ich habe Oescs Freundschaft erlangt; zudem gab er mir sein Wort«, erklärte Artor. »Aber obwohl Hengests und Icels Geschlecht stets als Gegner galten, halte ich es für klüger, Oescs Treue nicht allzu sehr auf die Probe zu stellen. Zum Königtum gehört mehr, als nur Befehle zu erteilen – man muss das Wesen derer begreifen, die herrschen.«
Gwalchmais ohnehin schon rote Wangen glühten in einem noch tieferen Rot. »Mir genügen Eure Befehle.«
»Weil das dein Wesen ist«, erwiderte Artor mit sanfter Stimme.
»Zweifellos wird Cador Männer senden, aber es wird eine Weile dauern, bis sie hier eintreffen«, sagte Bediver in die Stille, die folgte. »Er liebt es, Sachsen zu töten; es ist ihm auch gleichgültig, zu welchem Stamm sie gehören. Ein Trupp wird aus Glevum kommen, ein weiterer aus Deva – « Er erwog die Stärke ihrer Streitkräfte.
»Und wir brauchen Fußsoldaten. Ich frage mich…« Plötzlich lächelte Artor. »Vielleicht würde mir Cunorix einen Trupp seiner wilden Iren senden. Sie werden keine Bedenken haben, gegen Icel zu kämpfen, wenn sie einen guten Anteil an der Beute erhalten.«
Draußen regnete es unvermindert.
Auch in Cantuware regnete es. Oesc hieß vorbeiziehende Wanderer in seiner Halle willkommen und lauschte ihren Berichten. Während er gemütlich am Feuer saß, bedauerte er die Männer, die über die triefnasse Erde der Länder der Coritani marschieren mussten, und er sagte sich, dass diese Art zu kämpfen ohnehin keinerlei Ruhm berge.
Das Wetter, das die königlichen Boten aufgehalten hatte, sorgte auch dafür, dass die Antworten jener, die Artors Ruf folgten, nur zögernd eintrafen. Die Angeln hingegen, die an sumpfigen Untergrund gewöhnt waren, drängten weiter, und kurz nach Beltene kam die Kunde, Lindum sei gefallen. Nun besaß Icel ein Hauptquartier, von dem aus er, wenn er es zu halten vermochte, über alles Land zwischen Eboracum und Durolipons herrschen konnte.
Oesc warf dem Bettler, der ihm die Neuigkeiten berichtet hatte, eine Münze zu und verließ die Halle. Der feine Nieselregen bildete auf der blauen Wolle seines Mantels winzige Kristallperlen, doch er nahm die Feuchtigkeit kaum wahr. Er sah nicht den Schlamm des Hofes, sondern die blutige Erde eines Schlachtfelds, und statt Wulfhere und Guthlaf und den anderen Männern seines Haushalts Bediver, Gwalchmai und Artor selbst, wie sie gegen den Feind ritten. Er hätte bei ihnen sein sollen – doch er verstand, weshalb der König ihn nicht gerufen hatte. Fürchtete Artor tatsächlich, Oesc könnte in Versuchung geraten, auf der anderen Seite zu kämpfen?
Er hatte Artor schon einmal in einer Schlacht gegenübergestanden, zu einer Zeit, als er ihn noch nicht kannte. Bei dem Gedanken, es wieder zu tun, befiel ihn ein unbehagliches Gefühl. Doch sein Leib schrie nach Taten; er wollte kämpfen. In jenem Augenblick hätte er gegen jeden kämpfen können, und die Leute des Gehöfts wichen vor ihm zurück.
Alsbald stand er vor dem Stall.
Er verlangte nach seinem Pferd. Jemand fragte ihn, ob er jagen wollte, und er nickte. Wenig später ritt er mit einem kleinen Tross im Trab auf das südöstliche Stadttor zu.
Mehrere Meilen lang erstreckte die Straße sich kerzengerade über die Ebenen östlich des Flusses. Zu ihrer Rechten schimmerten seine Wasser zwischen sumpfigen Werdern. Doch Oesc hatte nicht die Absicht, auf die andere Seite zu gelangen – diese so nahe der Stadt gelegenen Wälder bargen keine Beute, die ihn zu reizen vermochte.
Die Nacht brach an, ehe sie den Fluss überquerten und auf den uralten Pfad gelangten, der zu den Gipfeln der Hügelländer hinaufführte. Dort machten sie Rast. Am folgenden Morgen, ehe die Sonne vollständig aufgegangen war, ritten sie auf dem Pfad in die Hügel. Die Nacht im Freien hatte Oescs Unruhe ein wenig gelindert. Das Reiten vertrieb die Kälte aus seinen Gliedern, und die steifen Muskeln entspannten sich. Tief sog er die Morgenluft ein, die nach Humus und frischem Gras roch, und spürte, wie sich auch in ihm ein wenig die Anspannung löste. Zum ersten Mal, seit er die Halle verlassen hatte, nahm er seine Umgebung wirklich wahr. Und als seine Begleiter und er kurz nach Mittag die Fährte eines Hirschen kreuzten, schwand alles andere aus seinen Gedanken, und er gab sich ganz der Freude an der Jagd hin.
Nach der Tiefe der Spuren zu schließen, war der Hirsch ein ausgewachsenes reifes Tier, das gewiss wusste, wie man seinen Feinden entrinnt. Doch Oescs Fährtensucher war ein Bursche, dessen Volk schon in den Hügelländern lebte, ehe die Römer kamen, und er kannte die Tiere seiner Heimatwälder so gut wie seine eigene Verwandtschaft. Kurz nachdem die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hatte, sichteten sie die Beute und trieben die Pferde zur offenen Verfolgung an. Oescs Ross war das flinkste, und so ritt er außer Sichtweite der anderen, als sein Pferd einen weiten Bogen um einen umgestürzten Baum machte und dabei mit dem Huf in ein Loch geriet. Oesc spürte, wie das Tier unter ihm strauchelte, doch ehe er abspringen konnte, stürzte es bereits. Er sah dicke Äste an sich vorübersausen, dann hörte er einen krachenden Aufprall und verlor das Bewusstsein.
Als Oesc zu sich kam, hielten die Wolken den Hang eng und feucht umklammert; alles im Umkreis weniger Schritte verschwand hinter grauen Schwaden. Sein Pferd stand ein paar Fuß entfernt. Ein Vorderbein berührte kaum den Boden. Stöhnend mühte Oesc sich hoch, wankte zu dem Tier hinüber und betastete behutsam das Bein. Es schien nicht gebrochen zu sein, den Göttern sei Dank, doch das Gelenk war stark geschwollen. Als er an den Zügeln zog, folgte ihm das Pferd humpelnd auf nur drei Beinen.
Sie kamen quälend langsam voran. Das spielte jedoch kaum eine Rolle, denn Oesc musste feststellen, dass er sich verirrt hatte. Selbst wenn dieser Landstrich ihm vertraut gewesen wäre, hätten die Nebelschwaden alles fremdartig erscheinen lassen. Doch auch ohne Ziel war es besser, in Bewegung zu bleiben; irgendwohin würde sein Weg ihn führen.
Er konnte lediglich die schemenhaften Umrisse der Baumstrünke im Nebel erkennen, doch er wusste, dass der Wald hügelabwärts noch dichter wuchs. Seine einzige Hoffnung bestand darin, sich zu den kahlen, offenen Hängen emporzukämpfen, welche die Hügelkuppen krönten; dort mochte er vielleicht wieder auf den alten Pfad stoßen. Einige Sagen aus dieser Gegend sprachen von uralten Zeiten, als in den Hügeln noch Menschen lebten; damals war die Welt noch wärmer, und man kannte noch nicht den Pflug, mit dem jetzt in den Tiefländern die Erde aufgebrochen wurde. Sogar heute noch durfte Oesc darauf hoffen, einem Hirten oder Bettler zu begegnen, der durch die Hügel wanderte.
Sobald er auf den Pfad gestoßen war, konnte er diesem zurück zum Fluss folgen und sich über seine Begleiter lustig machen, die mittlerweile der Verzweiflung nahe sein mussten. Verhungern würde er bis dahin nicht; er hatte seinen Bogen bei sich, und er kannte die essbaren Frühlingskräuter. Getrennt von seinen Freunden mochte er wohl sein, aber wenigstens jagten ihn keine Feinde. Jedenfalls erging es ihm hier besser, als wenn er mit Artors Armee gezogen wäre.
Dieselben Stürme, die über Cantuware hinwegpeitschten, hatten auch vor dem Norden nicht Halt gemacht. Die Erde war durchweicht, und Artors Armee sah sich gleichermaßen den Angriffen der Elemente und des Feindes ausgesetzt. Das steigende Wasser schlug gegen die hoch gebauten Römerstraßen, Karren blieben im zähen Schlamm stecken, Tiere lahmten. Der Regen verdarb die Vorräte, die sie mit sich führten, und obschon es reichlich Wasser gab, war dies trüb und faulig. Mit diesen Hindernissen hatten sie wohl gerechnet, das machte es jedoch nicht einfacher, sie zu ertragen. Mehr als einmal wünschten die Männer, Merlin würde die Wolken hinwegzaubern, doch der Hexer war zu eigenen Geschäften im Norden unterwegs.
Die Angeln wussten wohl, in welcher Gefahr sie schwebten, und nutzten die natürlichen Gegebenheiten des Landes zu ihrer Verteidigung. Doch obwohl die Sehnen ihrer Bogen ausleierten und das Leder von Rüstung und Kleidung verrottete, drängten die Briten weiter. Bei einer Schlacht nahe den Ruinen von Lactodorum stellten sie die Eslinga-Sachsen und errangen ihren ersten Sieg. Artor ließ ihre Anführer Eide schwören und nahm Geiseln, dann sandte er sie ostwärts nach Durolipons, um das Sumpfland gegen ihre früheren Verbündeten zu verteidigen. Zwei weitere Geplänkel im Schlamm, die kaum den Namen Schlacht verdienten, konnten die Briten ebenfalls als Siege verbuchen, da es die Angeln waren, die sich zurückzogen, nachdem die Kämpfe zu Ende waren.
Artor führte seine Armee entlang der alten Legionärsstraße neben dem Fluss Dubglas. Am Tag des Pfingstfestes konnten die königlichen Streitkräfte den Rauch der Kochfeuer der Angeln in Lindum sehen, und zwar über die Sümpfe im Nordwesten hinweg, wo der Dubglas, der sich durch die Hügelländer wand, über seine Ufer getreten war und das Land in einen See verwandelt hatte. Selbst im Hochsommer fand man im Gebiet der Lindenses überwiegend Wasserweiden und Sumpfland. In einem feuchten Frühling glich das Land einem Binnensee, aus dem die verstreuten höher gelegenen Flecken wie Inseln auftauchten. Eine Stadt zu belagern, die inmitten feindlicher Gebiete lag und von Sumpfland umgeben war, verhieß wenig erfreuliche Aussichten, zumal sich die Versorgung stets schwierig gestaltete. Aber vielleicht wusste Icel, der wenig Erfahrung mit Städten und Belagerungen hatte, nicht um Artors Schwierigkeiten.
Zwei Tage nach Pfingsten sandte der König einen seiner gefangenen sächsischen Häuptlinge mit einer Botschaft zum Feind. Wenn die Angeln bereit wären, eine Entscheidungsschlacht zu führen, würden die Briten sich deren Ausgang beugen. Im Falle ihres Sieges forderten sie alle Gebiete der Lindenses zurück. Sollten die Gegner siegen, bräche Artor den Feldzug ab und überließe Icel die Gebiete, die er bereits erobert hatte.
Nachdem die Gesandtschaft aufgebrochen war, befahl Artor seiner Armee, das Lager aufzuschlagen. Die Köche bereiteten die erste warme Mahlzeit seit vierzehn Tagen zu, während die Krieger angewiesen wurden, Waffen und Ausrüstung instand zu setzen und bereit zu halten.
Drei Tage verweilten sie im Lager und warteten auf eine Antwort. Dann ließen sie den Gepäckzug auf höher gelegenem Grund zurück und marschierten auf Lindum zu.
»Sei doch dankbar, Mann – es könnte ja auch immer noch regnen!« Feine Tropfen glitzerten in Gwalchmais Bart, als er grinste. Die Wolken hingen nach wie vor tief, aber es war wärmer geworden, und aus dem Boden stieg überschüssige Feuchtigkeit in Form von Nebelschwaden, die zwischen den Bäumen trieben.
»Und wie nennst du das hier? Flüssiger Sonnenschein?«, knurrte Bediver und verlagerte unbehaglich sein Gewicht im Sattel. Durch das Reiten in nassen Hosen waren seine Schenkel wund gerieben, zudem tropfte ihm die Nase. Dennoch konnte er sich glücklicher wähnen als einige andere, denn der Durchfall, die Plage jeder Armee, begann, ihre Reihen zu lichten.
»Also, in meinem Land würde man das als einen schönen Tag bezeichnen!«
Bediver schüttelte den Kopf und wünschte sich, sie wären einen Tag länger im Lager geblieben. Doch selbst eine ganze Woche hätte an dem schlechtem Wetter nichts ändern können, während die Angeln in Lindum Vorräte horteten und Verstärkung erhielten. Hier verlief der Dubglas zu ihrer Rechten, entlang der Straße. Aber bald, erinnerte er sich, würde er einen Bogen nach Westen beschreiben, wo er durch das sumpfige Tal floss. Die Römer hatten dort eine Furt angelegt; so verlief die Straße weiter gerade über einen schmalen, höher gelegenen Grat, der zur Stadt führte.
»Bald werden wir den Fluss überqueren, dann geht es direkt nach Lindum!«, meinte Gwyhir und spähte voraus. Der Nebel war dichter geworden. Nur das Klappern der Hufe auf Stein verriet ihnen, dass sie nicht von der Straße abgekommen waren.
»Hoffentlich hat das Hochwasser die Furt nicht unterspült«, brummte Bediver. Artors Gefährten ritten an der Spitze der Kolonne, und der König selbst blieb in der Mitte, um die Männer aufzumuntern. Irgendwo voraus waren Kundschafter unterwegs. Er hoffte, dass sie sich in dem dichten Nebel nicht verirrten. Zu seiner triefenden Nase geseilten sich Kopfschmerzen, und auch sein Rücken und die Schultern peinigten ihn.
»Nein. Hast du vergessen, dass vergangene Nacht einige Kundschafter vorausgeritten sind; sie brachten die Nachricht, die Furt sei noch heil«, entgegnete Gwyhir. Wie sein Bruder erwies er sich bei Wetter, über das sich jeder andere beklagte, geradezu unangenehm fröhlich.
»An Icels Stelle würde ich die Furt mit Pfählen spicken oder die Steine herausreißen. Schließlich weiß er, dass wir sie passieren müssen.«
»Was ist?« Gwalchmai zügelte sein Ross und spähte nach vorn. Bediver mühte sich, etwas zu sehen und wünschte, er wäre größer. Er fühlte einen Hauch feuchter Luft auf seiner Wange, und der graue Nebelschleier vor ihnen lichtete sich ein wenig.
»Der Nebel löst sich auf«, setzte er an. Unstetes Licht drang durch die Schwaden. Er erstarrte, als der Wind heftiger blies, den Nebel vor ihnen aufriss und den Blick auf die Straße enthüllte. Dort gleißte die Morgensonne auf den scharfen Spitzen einer ganzen Armee von Speeren. Mit jedem Augenblick wurde die Größe der Streitmacht, der sie sich gegenüber sahen, deutlicher. Ein britisches Horn blies Alarm.
Bediver stieß in einem langen Seufzer den Atem aus. »Anscheinend überbringt uns Icel seine Antwort nun doch noch.«
Hufe klapperten, und Artor zügelte neben ihnen sein großes, schwarzes Ross.
»Jetzt weiß ich, weshalb unsere Kundschafter nicht zurückgekehrt sind.« Bedächtig ließ er den Blick über den Feind wandern, wog dessen Stärke und Aufstellung ab. Die Angeln hatten auf der gegenüber liegenden Seite der Furt Stellung bezogen, auf dem letzten breiten Streifen festem Grund, ehe das Land sich verengte. »Sie haben ihren Standort klug gewählt. Der Boden ist zu weich für unsere schwere Reiterei; wir können sie nicht über die Flanken angreifen. Icel will uns zu einem Kampf Mann gegen Mann zwingen – wir müssen einen Weg finden, unsere Position zu verbessern.«
Der Tonfall des Königs klang so nüchtern, als dachte er über ein Brettspiel nach. War er tatsächlich so ruhig?
»Dann setzt doch die Bogenschützen ein, um ihre Reihen zu lichten«, schlug Gwalchmai vor. »Viele von ihnen tragen keine Rüstung.«
»Noch nicht.« Artor überlegte. »Lasst es uns erst mit einer Unterredung versuchen.«
»Glaubt Ihr, das wird etwas nützen?«, fragte Gwyhir.
»Nein, aber ich muss besser abschätzen, wie viele es sind. Außerdem sollten wir den Zustand der Furt überprüfen.«
»Ich gehe«, erbot sich Gwyhir.
»Nein, du nicht! Dir fehlt die Erfahrung«, entgegnete sein Bruder. Der König schüttelte den Kopf.
»Keiner von euch wird gehen. Deine Stärke ist dein Schwertarm, Gwalchmai.« Artor schmunzelte. »Hier ist Redekunst und Schmeichelei von Nöten, Icel soll nicht durchschauen, dass ich Aufschub suche.« Er blickte zu Bediver, der einen Seufzer ausstieß.
»Ich verstehe. Lasst mich Euren weißen Mantel mit den goldenen Stickereien tragen, und ich werde Herrn Icel auf wahrhaft königliche – ach, was sage ich: kaiserliche – Weise hofieren.«
Es war erstaunlich, dachte Bediver, während er durch die Furt ritt, dass das Wasser hoch aufspritzte, wie die unmittelbare Gefahr eines Speers in den Eingeweiden andere Schmerzen verdrängte. Er fühlte die Qualen kaum noch, mit denen er den Tag begonnen hatte. Wenigstens war die Furt nicht zerstört worden. Vielleicht, dachte er, während er sich umsah, hatten die Angeln diese Vorsichtsmaßnahme als überflüssig erachtet. Sie vertrauten wohl auf die Stärke ihrer Streitmacht und hatten in Gruppen um ihre Häuptlinge Aufstellung genommen. Icel saß in ihrer Mitte auf seinem weißen Hengst. Er war ein großer Mann mit hellem Lippenbart und trug ein Kettenhemd und einen mit Götter- und Heldenfiguren aus Gold verzierten Spangenhelm.
Es fiel Bediver nicht schwer, dem Mann mit dem kalten, grauen Blick Respekt entgegenzubringen. Im Vergleich zum Römischen Reich mochte Icels Heimat wohl klein und ärmlich sein, aber seine Vorfahren väterlicherseits waren Könige, und sie entstammten dem Geschlecht des Gottes Woden, und diese Abstammung war älter, als Artor oder der Kaiser in Constantinopolis für sich beanspruchen konnten.
»Der König der Briten hat tapfere Krieger, aber sie sind vom Regen nass und erschöpft. Meine Männer sind frisch und stark«, erklärte der König der Angeln, nachdem Bediver Artors Bedingungen genannt hatte. »Wie will er von uns fordern, dass wir uns ergeben? Dies ist nun unser Land, und wir werden es verteidigen. Achthundert Speere stehen bereit, um meinen Worten Nachdruck zu verleihen.« Er deutete auf seine Streitmacht. »Wir haben viel von Artors Kriegskunst gehört, und uns dürstet danach, gegen ihn zu kämpfen. Geh und sag ihm das.«
Während Bediver zurück zu den britischen Linien ritt, fiel ihm ein, dass es auch die Eslingas und die Mittelsachsen nach Kampf gelüstet und Artor sie dennoch besiegt hatte, aber Icel hatte die Wahrheit gesagt; neben der barbarischen Pracht der Krieger rings um den König der Angeln wirkten seine eigenen Leute wie ein geschundener, schlammverschmierter Abklatsch einer Armee.
Doch wenngleich Bedivers Unterredung sich als fruchtlos erwies, hatte Artor die Zeit gut genützt. Die Briten waren bewaffnet und bereit, die schwere Reiterei in der Mitte, die Bogenschützen an den Flügeln. Der König galoppierte die Reihen entlang. Sein roter Umhang hob sich hell von den Flanken des schwarzen Rosses ab, seine Rüstung schimmerte matt in der Sonne. Er lauschte Bedivers Bericht mit einem Lächeln, das sich nicht in seinen Augen widerspiegelte.
Dann wirbelte er das Pferd herum und zügelte es vor der vordersten Reihe.
»Männer Britanniens!« Er hob seine Stimme, damit alle ihn hörten. »Ihr habt einen mühevollen Marsch hinter euch. Doch nun ist Lindum in Sicht, und die Angeln haben sich herausgewagt, um uns willkommen zu heißen!« Er wartete bis sich das Gelächter der Krieger gelegt hatte. »Dreimal haben wir uns ihrem Volk gestellt und den Sieg davongetragen. Doch Icels Krieger sind unsresgleichen noch nie begegnet. Wir sind die Erben Roms und die Kinder dieses Landes. Zieht Kraft aus dieser geheiligten Erde, und wir werden die Oberhand behalten. Noch eine Schlacht, Männer, dann haben wir sie gebrochen. Der Weg nach Lindum liegt vor uns – gewinnt diesen Kampf, und wir schlafen heute Nacht in weichen Betten unter Dächern, die den Regen abhalten!«
Nach den vergangenen Wochen, dachte Bediver, klang das Versprechen, in trockenen Betten zu schlafen, verheißungsvoller als die Aussicht auf Gold oder Edelsteine. Mit einem Ruck zog er den Kinnriemen seines Helmes fest und überlegte sehnsüchtig, ob die Bäder von Lindum noch benutzbar sein mochten. Artor hatte Recht. Für die Aussicht eines heißen Bades am Ende des Tages war er bereit zu morden.
Artor hob die Hand; der harsche Ruf der Hörner hallte durch die Luft. Der Feind rannte los, um die Entfernung zu verringern, damit nicht genug Raum für den Angriff zu Pferde blieb. Ruckend setzten sich die berittenen Krieger in Bewegung, und die Fußsoldaten marschierten los. Bediver blickte nach vorne über den Kopf seines Pferdes; dort bot sich ihm ein funkelndes Meer von Speerspitzen, das mit jedem Schritt näher kam.
Der Himmel verfinsterte sich, als die Bogenschützen ihre Pfeile sausen ließen. Die Reiter preschten und das Wasser der Furt spritzte hoch. Rechterhand, wo der Untergrund tückisch war, ging ein Pferd zu Boden, aber die anderen hielten sich auf den Beinen und mühten sich am anderen Ufer die Böschung empor. Ein Angel, der weiter als seine Kameraden gelaufen war, schleuderte einen Speer, der an Artors Schulter vorbeisauste und die Flanke eines Pferdes hinter ihm aufriss. Das Tier wieherte schrill auf und strauchelte, doch sein Reiter trieb es weiter. Gwalchmai löste einen Wurfspeer aus der Halteschlinge, warf ihn, und der Gegner fiel.
Das erste Blut für uns, dachte Bediver, doch mittlerweile füllten die Fratzen der Angreifer sein Sichtfeld. Er trieb die Fersen in die Seiten seines Pferdes, um den Schwung zu erlangen, den sie brauchen würden, um die Linie der Angeln zu durchbrechen. Weitere Speere schwirrten durch die Luft; er hörte Schreie. Eine Lanze nach der anderen löste er aus der Halteschlinge und schleuderte sie. Schließlich prallten sie mit der ersten Gruppe der feindlichen Krieger zusammen. Kurz kam der Angriff ins Stocken, dann drängten sie weiter.
Ein Speer stieß zu ihm empor. Bediver schwang den Schild herum, um ihn abzuwehren, und zog das Schwert aus der Scheide. Nun kam es allein auf die Klinge an; um die Reiter scharte sich der Feind, und die Wucht des Vorstoßes wurde erneut gebremst. Artor rief ihnen zu, sich neu zu formieren und den Feind von hinten anzugreifen. Licht gleißte auf Bedivers Schwert. In diesem Augenblick hörte er Gebrüll an den Flanken. Überrascht blinzelte er, als sich Gestalten gleich Geistern aus den nebelumwölkten Wassern erhoben. Dann zerriss ein vertrauter Kriegsschrei das Kampfgetöse, und er lachte auf, als er Cunorix und seine wilden Iren gewahrte, die sich aus dem Sumpfland lösten und über den Feind herfielen.
Abermals schrie Artor einen Befehl, und Bedivers Ross hetzte den anderen hinterher. Er hob seinen Schwertarm, und gellend stürzte er sich wieder ins Getümmel.
Das kastanienbraune Pferd zuckte nervös die Ohren und hob den Kopf; Oesc hielt inne und lauschte. Kurz darauf vernahmen auch seine weniger empfindlichen Ohren das Blöken von Schafen. Mit einem langen Seufzer stieß er den Atem aus. Erst jetzt gestand er sich ein, befürchtet zu haben, er könnte irgendwie nach Niflhel geraten sein und würde nie wieder zurück nach Mittelerde finden. Durch die sich lichtenden Nebelschleier musterte ihn ein Mutterschaf mit dem hohlen, missbilligenden Blick, wie er ihn nur von Hausschafen kannte. Dann witterte der Hirtenhund seinen Geruch und stürmte kläffend auf ihn zu.
»Ruhig, Junge, ruhig – ich hab nichts Böses im Sinn.«
Der Hund, ein stämmiges, schwarz-weißes Tier mit buschigem Schwanz, schien alles andere als überzeugt zu sein. Knurrend kam er näher, und Oesc sah sich nach dem Hirten um.
Er versuchte, den Hund zu vertreiben, als er auf dem Hügel eine Bewegung wahrnahm. Sogleich schaute er auf, sah in der Luft etwas auf sich zuschwirren und riss den Arm hoch. Ein Knacken ertönte. Er wirbelte herum, dann keuchte er auf, als ihm Schmerz gleich loderndem Feuer durch den Arm schoss. Jemand rannte auf ihn zu, eine Schleuder in der einen Hand, einen Stock in der anderen. Oesc wich zurück, verfing sich mit dem Fuß in einer Wurzel und stürzte.
Surrend peitschte der Stock dort durch die Luft, wo zuvor noch sein Kopf gewesen war. Er rollte sich beiseite, als die Waffe herabsauste, und griff nach seinem Angreifer.
Seine heile Hand schloss sich um einen schlanken Knöchel, und er zog. Der Stock segelte durch die Luft, und die beiden rangen miteinander, rollten durch das feuchte Gras.
Sein Feind erwies sich als drahtig wie eine Wildkatze, aber Oesc war ein geübter Kämpfer, und trotz seines tauben Armes setzten sich seine Größe und Kraft alsbald durch. Erst als er den Arm seines Gegners im Haltegriff und die um sich tretenden Beine zwischen den eigenen eingeklemmt hatte, erkannte er, dass sein Angreifer ein Mädchen war.
Eine Weile mussten beide nach Luft ringen. Oesc starrte in ein herzförmiges Antlitz, vor Zorn gerötet und von einem wirren Schopf nussbraunen Haars umgeben. Ihre Augen waren braun und golden gesprenkelt – wie Bernstein, dachte er, während er sie musterte, oder Honigmet.
»Einen reizenden Empfang bereitet ihr hier in den Hügelländern einem Fremden«, keuchte er schließlich.
»Ich dachte, du wärst ein Räuber.« Ihr Blick heftete sich auf die feinen Stickereien am Kragen seines Hemdes und auf den goldenen Armreif. »In der letzten Woche haben sie zwei Schafe gestohlen. Ich dachte, sie wären zurückgekommen.« Das Mädchen spannte die Muskeln an und versuchte, sich zu befreien, und Oesc wurde jäh bewusst, dass es in der Tat ein weiblicher Körper war, den er mit dem seinen zu Boden drückte.
»Hammelfleisch will ich nicht von dir«, flüsterte er und küsste sie, zart berührten seine Lippen die ihren, und sie hielt vor Überraschung ganz still, dann wurde sein Kuss hungrig, bis sie sich unter ihm zu sträuben begann, und er seine Lippen von ihren löste, um nach Luft zu schnappen, während das Herz in seiner Brust hämmerte.
»Wie kannst du es wagen!« Sie bekam eine Hand frei und versuchte, ihm einen Schlag zu versetzen. Rasch drückte er sie mit dem Körper nieder, da sein linker Arm noch immer taub war.
»Du schuldest mir Wergeld – ich glaube, du hast mir den Arm gebrochen«, setzte er an und fühlte, wie sie erstarrte.
»Du bist ein Sachse!«
Oesc starrte sie an und begriff, dass sie Britisch miteinander gesprochen hatten.
»Ein Myrging, um genau zu sein; zudem dein Herr«, sagte er schließlich.
»Dann bist du also doch ein Räuber! Mein Großvater war der Herrscher dieses Landes!«
»Du bist mit Fürst Gorangonus verwandt? Dann sind wir ebenbürtig, denn mein Großvater hat ihm Cantium weggenommen.« Er schmunzelte, während ihr Antlitz abermals vor Zorn rot anlief. Sein Körper drängte ihn, sie zu nehmen, doch dies war keine Leibeigene, mit der man sich in den Hügeln vergnügte, auch wenn sie im Augenblick eher einer Trollmaid glich als einer Tochter aus königlichem Hause.
»Hengests Balg.« Von ihren Lippen klang es wie ein Fluch.
»Hengests Erbe«, berichtigte er sie mit sanfter Stimme. »Und Cantiums König.«
»Wie kannst du König sein, wenn du jenseits des Meeres geboren wurdest?« Sie hatte aufgehört, sich zu wehren; Gram löschte das Feuer in ihren Augen.
»Das galt auch für die Römer, als sie hierher kamen – « Er ließ sie los, richtete sich auf und zuckte zusammen, als sein Arm durch die Bewegung schmerzte. »Und sie waren es auch, die deines Vaters Väter auf jenen Thron setzten.«
»Schon möglich, aber es waren meiner Mutter Mütter, die ihnen das Recht verliehen, zu herrschen. Deshalb bin ich zurückgekehrt.« Sie deutete auf die nebelverhangenen Weiten der Hügelländer. »Menschen meines Blutes haben hier schon gelebt, ehe die Römer, ja, ehe die Cantiaci kamen. Dieses Land gehört mir!«
Einen Augenblick vermeinte Oesc wieder die feuchte Kühle des Schreins am Meduwege zu spüren, und er erinnerte sich, wie er dort die göttliche Macht empfunden hatte. In gewisser Weise war ihre Forderung gerechtfertigt. Männer herrschten durch das Recht der Eroberung, die höchste Macht jedoch ging von der Göttin und den Priesterinnen aus, die ihr dienten. Dennoch erschien es ihm klüger, das jetzt nicht einzugestehen oder darauf hinzuweisen, dass sie ohne die Macht, ihr Recht zu verteidigen, ebenso gut das ungestüme Kind sein mochte, als das sie sich nun zeigte.
»Wie lautet dein Name, Enkelin des Gorangonus?« Er zuckte zusammen, als eine unbedachte Bewegung ihm Schmerzen im Arm bereitete, es war derselbe Arm, den er sich damals in Londinium gebrochen hatte.
»Man nennt mich Rigana; denn meine Mutter meinte, ich sollte den Namen einer Königin tragen, auch wenn ich meine Tage damit verbringe, in den Hügeln Schafe zu hüten.«
»Na schön«, sagte Oesc. »Ich will dich behandeln wie ein König eine Königin. Gewähr mir Zuflucht. Verbinde meinen Arm und kümmere dich um mein lahmendes Pferd, und wenn meine Leute kommen, um mich zu suchen, soll dir Gold gewiss sein.«
Mit einer einzigen, geschmeidigen Bewegung war sie auf den Beinen und schaute auf ihn hinab.
»So behandelt man keine Königin, sondern eine Herbergswirtin. Als Königin gewähre ich dir Zuflucht, denn du bist der Bittsteller. Aber der Knabe, der uns hilft, wird deine Leute suchen, so schnell er kann, denn ich will deinen Anblick und deinen Gestank keine Stunde länger in meinem Haus ertragen, als es die Gastfreundschaft gebietet.«
Endlich wieder sauber, warm und trocken, musterte Bediver die gefangenen Fürsten der Angeln. Noch jetzt schauderte er, wenn er daran zurückdachte, wie knapp der Ausgang der Schlacht gewesen war. Ein paar Mal im Verlauf jenes schrecklichen Vormittags war er sicher gewesen, dass sie verlieren würden. Doch so oft er lange genug innehalten konnte, um nach Luft zu schnappen und an Kapitulation zu denken, hatte er gesehen, dass Artor immer noch focht, worauf auch er wieder die Kraft erhielt weiterzukämpfen. Er schämte sich seiner grimmigen Genugtuung keineswegs – nun war er wie ein Fürst gekleidet, und die Angeln verwundet und schmutzig. Trotz allem schien diese Wende ihres Glücks ihren Stolz nicht gebrochen zu haben.
»Sieh dir nur Icel an!«, rief Gwalchmai. »Hockt gemütlich da, als hielte er diese Burg immer noch! Man sollte meinen, er würde sich wenigstens ein klein wenig besorgt zeigen. Hat er denn noch nie von der Nacht der langen Messer gehört?«
»Er vertraut auf Artors Ehre; außerdem war jene Grausamkeit das Werk von Hengests Sachsen. Uns mögen sie alle als dieselben Barbaren erscheinen, aber für Icel unterscheidet sein Volk sich von den anderen Stämmen ebenso wie beispielsweise deine Votadini von den Pikten.«
»Hm. Nun, ich will gar nicht leugnen, dass die Pikten gelegentlich zu uns kommen, wenn sie Ehemänner für ihre Prinzessinnen suchen. Aber ihre Söhne werden von ihren Onkeln aufgezogen, und Muttermilch ist stärker als Vaterblut.«
Bediver hob die Hand, damit sie verstummten. Artor stand in der Tür, zog die Blicke der Männer auf sich und ließ ihre Zungen innehalten. Auch er hatte die Bäder Lindums genutzt und trug eine römische Tunika aus safranfarbenem Leinen, mit Bändern aus purpurner Seide, die über die Schultern bis zum Saum fielen, und Litzen aus Gold, auf die Adler gestickt waren. Der Umhang, den er trug, war golden eingefasst und von so tiefroter Farbe, dass er beinahe purpurn wirkte, und seine Stirn zierte ein römisches Stirnband. Gai, der hinter ihm stand, war in eine Toga gewandet. Gwalchmai stieß schmunzelnd einen leisen Pfiff aus.
»Ist das der Kaiser höchstpersönlich, der uns einen Besuch abstattet? Ich hoffe, Icel ist beeindruckt.«
Icels graue Augen hatten Artor mit einem würdigenden Blick bedacht, doch sein Gesicht zeigte keinerlei Regung. Dieses Gewand hatte die schlammige Reise von Londinium gewiss nicht mitgemacht. Bediver, der sich fragte, welcher reiche Händler es zur Verfügung gestellt hatte, musste an sich halten, um der eigenen Züge Herr zu bleiben. Icel hatte versucht, sie als König zu beeindrucken, als Herrscher eines mächtigen Volkes, doch Artor begegnete ihm als Erbe Roms.
Betont würdevoll nahm Artor auf dem geschnitzten Stuhl auf dem Podest Platz, während Bediver und Gwalchmai sich hinter ihm zu Gai gesellten. Icel und zweien seiner überlebenden Häuptlinge, immer noch in die schmutzigen Hemden gekleidet, die sie unter den Kettenhemden getragen hatten, hatte man niedrige Bänke auf dem Boden zugewiesen.
»Ihr habt gut gekämpft«, sprach Artor, »aber Eure Götter haben Euch in meine Hände gegeben.«
»Woden hat uns betrogen«, murmelte einer der Häuptlinge. »Neun Hengste haben wir ihm geopfert, und dennoch verwehrte er uns den Sieg.«
»Aber viele Eurer Krieger haben nun einen Platz an seiner Tafel«, erwiderte Artor, der einiges über die germanische Religion gelernt hatte, während Oesc sein Gefangener war.
Icel bedachte ihn mit einem frostigen Lächeln. »Woden kümmert sich um seine eigenen Angelegenheiten. Meine Sorge gilt den Lebenden. Was habt Ihr mit jenen im Sinn, die Eure Gefangenen sind?«
»Tötet sie«, brummte Cador, »so wie sie unsere Männer abgeschlachtet haben.«
Die meisten Überlebenden der Schlacht gehörten Icels Hausgarde an, die einen Wall aus Leibern rings um den König gebildet hatte. Wäre Icel gefallen, hätten sie bis zum Tod weitergekämpft, denn allein sein Befehl hätte sie dazu bewegen können, die Waffen niederzulegen. Er beugte sich dicht zu Gwalchmai. »Er fragt gar nicht nach seinem Schicksal.«
Gwalchmai schnaubte verächtlich. »Er weiß, dass der Hochkönig es sich nicht leisten kann, ihn gehen zu lassen.«
Doch Artor stützte sich auf die mit Akanthusblättern beschnitzte Armlehne des Stuhls, senkte das Kinn auf die Hand und wirkte sehr ernst.
»Was soll ich denn Eurer Ansicht nach tun?«
Die Frage brachte Icel letztlich aus der Fassung. »Was soll das heißen?«
»Ihr seid der König dieser Männer – wonach hat Euer Volk an diesen Ufern gesucht?«
»Nach Land! Nach Land, das während der Winterregen nicht überschwemmt wird!«
Artor zog eine Augenbraue hoch, deutete mit einem Kopfnicken auf das überschwemmte Ödland vor der Stadt, und jemand lachte. Icel aber schüttelte nur den Kopf.
»O ja, auch dieses Land wird überschwemmt, aber das Wasser verschwindet wieder und lässt es umso fruchtbarer zurück. Wir können graben, Dämme bauen und gute Felder schaffen. Der Fluss ist nicht so gierig wie das Meer.«
»Die Römer kannten diese Kunst nicht.«
Abermals zuckten Icels Lippen. »Die Römer haben gebaut wie die Riesen von einst, große Werke des Stolzes und der Macht, welche der Erde ihren Willen aufzwangen. Unsere Bauern sind damit zufrieden, mit Weitenruten und Schlamm zu arbeiten, und unser aller Mutter gut zuzureden, um sie milde zu stimmen.«
Artors Blick strich bedächtig über die verblassten Fresken der alten Basilika, die abgetretenen Mosaike des Fußbodens, und er seufzte.
»Die Römer waren in der Tat mächtig, aber sie sind fort, und das Land bleibt«, meinte er schließlich. »Und abgesehen von Eurem Volk gibt es niemanden mehr, um diese Erde zu bestellen.«
Bei den Worten leuchtete etwas in Icels Augen auf, doch seine Züge verrieten keine Regung. Cadors Miene begann sich gefährlich zu verfinstern.
»Viele Männer meines Blutes sind gestorben«, fuhr Artor fort, »aber auch ich bin den Lebenden verpflichtet. Dieses Land als Öde und seine Ufer verwaist zurückzulassen dient niemandem. Dennoch bin ich Hochkönig, und jeder, der hier weilen will, muss sich meinem Willen unterwerfen.« Mit gerunzelter Stirn musterte er Icel. »Wenn ich Euch das Leben schenke, werdet Ihr und Euer Volk dann schwören, diese Ufer zu halten und in meinem Namen zu verteidigen? So wie die Römer den Franken, Burgunden und Wisigoten Gebiete gaben, gebe ich Euch die Länder der Lindenses; Lindum selbst werde ich mit meinen eigenen Leuten bemannen.«
So wie der Vor-Tigernus einst Hengest Land gab, dachte Bediver grimmig, und seht nur, wozu das geführt hat! Aber Hengests Männer waren ein zerlumpter Haufen Söldner und herrenloser Krieger gewesen, kein Volk. Letzten Endes bot Artor dem König der Angeln dasselbe, was er auch Oesc geboten hatte, und dieser Bund schien sich zu bewähren.
Kurz trat Stille ein. »Welche Zusagen fordert Ihr?«, fragte Icel schließlich.
»Ihr sollt schwören, niemals wieder die Waffen gegen mich oder meine Erben zu erheben, dieses Land gegen alle anderen zu verteidigen und mir auf Abruf ein Heer von Kriegern bereitzustellen. Ihr werdet einen jährlichen Tribut zahlen, dessen Höhe von der Größe Eurer Ernte abhängt. In Streitfällen, die Menschen außerhalb Eures Volkes betreffen, werden diese gemäß meinen Gesetzen geschlichtet. Außerdem verlange ich, dass Ihr sämtliche erbeuteten Güter und Schätze herausgebt, dass ein Sohn jeder Eurer Adelsfamilien als Geisel zu mir gesandt wird, um unter dem Jungvolk meines Haushalts aufzuwachsen, und dass alle Krieger, die nicht Eurem Stamm angehören, meine Gefangenen bleiben.«
Aufbrausend fuhr Cador hoch, und Gwalchmai baute sich zwischen ihm und dem Podest auf. »Herr, das könnt Ihr nicht tun! Er ist ein Sachse.«
»Ein Angel«, berichtigte Artor ihn kühl, »und ich bin euer König.«
»Nicht, wenn Ihr uns verratet!«, rief Cador aus, und seine Hände zuckten, als streckte er sie nach jemandes Kehle aus. Doch inzwischen hatten sich Gwyhir und Aggarban neben ihren Bruder gestellt, und die drei Söhne Morgauses bildeten eine beeindruckende Barriere. »Diesen Tag werdet Ihr noch bereuen!« Vor Wut schäumend, wirbelte Cador herum und stapfte aus dem Raum. Gwalchmai schickte sich an, ihm zu folgen, doch Artor winkte ihn zurück.
Es dauerte eine Weile, ehe die Stimmen im Saal wieder verstummten. Aber obwohl es auf beiden Seiten Männer gab, die wie Cador offensichtlich lieber weitergekämpft hätten, schien es ein gerechtes Angebot. Tatsächlich war es mehr als großzügig, insbesondere in Anbetracht der zweiten Möglichkeit, nämlich ohne Schwert in der Hand wie ein Lamm geschlachtet zu werden. Icel musste auf eine Vereinbarung dieser Art gehofft haben, auch wenn er es nicht einzugestehen wagte.
Die Augen nach wie vor auf Artor geheftet, erhob er sich. »Ich bin der Herr meines Volkes, und ich vertrete mein Volk vor den Göttern. Doch für alles, was dieses Land und die Briten betrifft, leiste ich Euch meinen Eid.«
Artor gab einer der Wachen ein Zeichen. »Löse seine Fesseln.« Er blickte zu Icel. »So wie Ihr mir vertraut, will ich Euch vertrauen, um Britanniens willen.«
Kurz nach Sonnenuntergang, etwa drei Wochen, nachdem Oesc von seinem verhängnisvollen Jagdausflug zurückgekehrt war, schlugen die Hunde auf seinem Hof ein wütendes Gebell an. Oesc, der getrunken hatte, um den Schmerz in seinem Arm zu lindern und um nicht ständig an Rigana zu denken, setzte sich auf, während Wulfhere sich erhob und nach dem Speer griff, der an der Tür lehnte.
»Wer betritt die Halle von König Oesc?«
»Jemand, der ihn auf dem Sattelknauf befördert hat, als er noch ein kleiner Junge war«, knurrte eine raue Stimme. »Und ich bin nicht, von Feinden bedrängt, durch halb Britannien hierher gekommen, um in Hengests Halle abgewiesen zu werden!« Der Neuankömmling nutzte Wulfheres Verblüffung und drängte sich an ihm vorbei ins Licht des Feuers. Zwei weitere Männer folgten ihm und sahen sich gehetzt um.
Oesc beugte sich vor und versuchte, durch den Dreck, das geronnene Blut und das wirre, mit grauen Strähnen durchzogene Haar zu blicken.
»Ist das Baldulf?«, fragte er, stieg vom Thron und breitete die Arme aus. »Es muss so sein! Du stinkst zu erbärmlich, um etwas anderes als ein Sterblicher zu sein! Alter Freund, was ist geschehen, das dich an meine Tür treibt wie einen – « Nach Worten suchend, schüttelte er den Kopf.
»Wie einen Flüchtling?« Baldulf sank auf eine Bank, ergriff das Horn voll Bier, das ihm eine Leibeigene anbot, und stürzte den Trunk hinunter. »Genau das bin ich, Junge – ich flüchte von einem verlorenen Schlachtfeld und vor dem Zorn deines jungen Hochkönigs.«
»Du warst im Norden«, sinnierte Oesc. »Etwa bei Icel?«
Baldulf grunzte. »Ich lebte ungestört in meinem Tal, bis dieser schönrednerische Angel Botschaften aussandte, mit denen er Verbündete für seinen Feldzug gegen Lindum suchte. Eine Zeit lang ging alles gut, aber schließlich kam Artor und zwang Icel zur Schlacht. Junge, ich hatte Glück, jenen Tag zu überleben, und noch mehr Glück, nicht gefangen genommen zu werden. Die Angeln haben Artor den Treueid geschworen, aber die übrigen Gefangenen wurden getötet. Ich will mein Lebtag lang kein Sumpfland mehr sehen!« Er schauderte und hob das Horn, um sich nachschenken zu lassen.
»Ich werde dich ihm nicht ausliefern, falls es das ist, was du dich fragst«, sagte Oesc. »Aber ich kann dich nicht hier behalten.«
»Ich will auch nicht bleiben – verschaff mir ein Schiff, und schon kehre ich übers Wasser zurück in die Lande der Friesen.« Er trank einen weiteren Schluck und griff nach dem Brot, das man ihm gebracht hatte. »Womöglich sind nicht mehr genug Angeln übrig, um jene zu ersetzen, die Icel verloren hat, aber entlang der Küste gibt es immer noch Krieger, die vielleicht willens sind, ihr Glück in Britannien zu versuchen. Nur zwei meiner Männer haben überlebt.« Er deutete auf seine Gefolgsleute, die an einem Tisch neben der Tür zu essen bekamen. »Aber schon bald werde ich eine neue Schar zusammenstellen. Die Briten haben nicht zum letzten Mal von mir gehört!«
Oesc nickte nachdenklich. Baldulf zu lauschen war wie eine Reise in die Vergangenheit, zu jenen Tagen, in denen Hengest und Oescs Vater gleich Wölfen über Britannien herfielen. Nun waren die Dinge anders. Er verstand, weshalb Icel Artors Friedensangebot angenommen hatte. Jetzt war Britannien auch sein Land.
Nach einer Weile wurde ihm bewusst, dass Baldulf ihm eine Frage gestellt hatte.
»Mit dir kommen? Nein – alles, was ich will, ist hier.« Lächelnd schüttelte er den Kopf.
»Alles? Wie wär’s mit einer drallen Frau, die dir das Bett wärmt, und ein paar flachshaarigen Bälgern auf den Knien? Soll ich für dich nach der Tochter eines friesischen Häuptlings oder vielleicht einer fränkischen Prinzessin Ausschau halten?«
Oesc starrte ihn an; plötzlich bündelte sich all seine Trübsal in ein einziges Bedürfnis. »Ich brauche eine Königin«, meinte er schließlich. »Aber keine Frau von jenseits des Meeres. Ich muss in dieses Land einheiraten, wenn meine Erben es halten sollen.«
Er sah im Geiste Riganas Antlitz vor sich. Morgen, dachte er, würde er zu der Hütte in den Hügelländern reiten. Nach jener ersten Begegnung hatte er sie nie wieder gesehen, dennoch wusste er, dass sie gewiss seine Königin werden würde.