IV

Das Ostara-Opfer

A.D. 477

 

Im zweiten Jahr nach seiner Ernennung feierte der König von Britannien das Fest der Wiederauferstehung in Sorbiodunum an den Grenzen der Gebiete von Dumnonia. Die römische Stadt war während des ersten Sachsenaufstandes niedergebrannt und später nur zum Teil wieder aufgebaut worden. Merlin, der hinter Artors Hausgarde einherritt, hatte geglaubt, die mittlerweile verstrichenen Jahre hätten seine Erinnerungen verblassen lassen, doch stattdessen suchten ihn die Geister von Ambrosius und Uther nun gemeinsam mit jenen der Männer heim, die damals von Hengests Schergen gemeuchelt worden waren.

Die kleine Kirche wies nur leichte Brandschäden auf. Während Artor drinnen mit Docomaglos von Dumnonia und dessen Söhnen der Oster-Messe beiwohnte, wartete der Rest der Fürsten und namhaften Persönlichkeiten auf dem Gelände ringsum und labte die Seele am Weihrauchduft, der von drinnen herausdrang, und an den irdischeren Düften der Kochkessel, in denen das Festmahl vorbereitet wurde.

Merlin spürte die Kraft des Geheimnisses, das innerhalb jener weiß getünchten Wände gefeiert wurde, doch die Macht, die er fühlte, stammte nicht aus der Kirche, sondern strömte durch sie hindurch und zog ihn unwiderstehlich nordwärts. Am Tor der Hügelfestung hielt er inne und starrte über die Ebene. Im Norden befand sich der Tanz der Riesen. Zwar konnte er ihn nicht sehen, doch er spürte seine Gegenwart. Während das christliche Ritual seinem Höhepunkt entgegenstrebte, wuchs die Macht entlang jener Strecke zwischen dem Tanz der Riesen und ihm, bis er einen Pfad aus Licht sehen konnte. Wandelte Uthers Geist auf jenem Pfad von seinem Grab am Steinkreis zu der Kirche, in der sein Sohn betend kniete?

Der Druide hob grüßend die Hände, als das Licht aufflammte und danach zu verblassen begann. Während es verlosch, wurde ihm das labile Gleichgewicht zwischen Licht und Finsternis bewusst, insbesondere nun, da die Welt sich in freudiger Erwartung des erstehenden Blühens und Gedeihens befand, das der nahende Sommer verhieß. In den alten Tagen hatten die Menschen stets danach getrachtet, jene Kräfte durch ein Opfer günstig zu stimmen. Die christlichen Priester behaupteten, der Tod ihres Gottes wäre ein ausreichendes Opfer für alle Zeiten, und aus Sicht der göttlichen Mächte mochte dem wohl so sein. Dennoch schien ihm, dass es gelegentlich an den Menschen war, ein Opfer darzubringen, so wie es Abraham in den Legenden der Christen getan hatte.

 

Licht brach durch die miteinander verwobenen Zweige und erhellte die Züge der britischen Fürsten. Über ein Gestell aus Balken waren Zweige gebunden worden, um für die weiteren Gäste einen Windschutz zu errichten, da es in Sorbiodunum kein Gebäude gab, das allen Platz zu bieten vermochte. Das Feuer, das in der Mitte brannte, schien mehr Rauch als Hitze hervorzubringen. Was in Merlins Augen ebenso auf die Gespräche zutraf.

Artor saß dicht am Feuer, Merlin hinter ihm. Aus alter Gewohnheit verschleierte der Druide seine Gegenwart. Die britischen Häuptlinge, die sich zunächst argwöhnisch zeigten, was seine Absichten betraf, hatten sich an seine schweigende Anwesenheit gewöhnt. Sein Einfluss auf den Knaben gefiel ihnen nicht, aber sie ignorierten ihn weitgehend.

»Letztes Jahr sind sie zu Hunderten gekommen, ebenso das Jahr davor!«, rief Cadrod aus, der sich den Weg von Verulamium hierher durch zwei Hinterhalte hatte erkämpfen müssen. »Germanien bringt Männer hervor wie ein Pferdekadaver Maden. Wer weiß, wie viele eintreffen werden, sobald die Zeit für die Schifffahrt wieder beginnt? Mittlerweile gibt es hier so viele Angeln, dass sie ihren König Icel herbeigeholt haben, mitsamt seiner Gemahlin und seinen Söhnen, während ihr – « anklagend deutete sein Zeigefinger auf die Herrscher Dumnonias »- wie Zugvögel über das Meer nach Gallien pendelt, wo ihr euch heimelige Nester vorbereitet, in die ihr fliehen könnt, wenn uns die Sachsen durch ihre bloße Zahl ins Meer drängen!«

Docomaglos, der die Herrschaft über Dumnonia geerbt hatte, nachdem sein Bruder Gorlosius gestorben war, prustete empört, während seine Söhne Cador und Gerontius unwohl dreinblickten. »Meine Heimat ist in Isca Dumnoniorum, und ich werde sie bis an mein Lebensende verteidigen!«

»Das mag wohl sein«, fuhr Cadrod unbeirrt fort, »aber wollt Ihr leugnen, dass wohl jeder Eurer Fürsten einen Vetter oder Bruder hat, der nur darauf wartet, ihn jenseits des schmalen Meeresstreifens willkommen zu heißen? Ihr müsst schon verzeihen, wenn diejenigen von uns, die über keine solche Zuflucht verfügen, unverfroren behaupten, Euer Wagnis und das unsere sei nicht dasselbe!«

»Meine Herren, meine Herren!« Schlichtend hob Eldol von Glevum die Hand. »Wir hören diese Anschuldigungen nun seit den Tagen, als der Vor-Tigernus mit Aurelianus rang. Die Männer aus dem Osten beteuern ihre Leiden, die aus dem Westen ihre Treue. Wären wir damals alle bereit gewesen, einander zu helfen, müssten wir uns dieser Bedrohung heute vielleicht gar nicht stellen…«

Unbehagliche Stille trat ein. Unvermittelt erhob sich Artor, dessen Augen nach innen gekehrt gewirkt hatten, und blickte in die Runde. Im vergangenen Jahr war er ein paar Zoll gewachsen, und allmählich lernte er, mit seinen langen Gliedern umzugehen.

»Mir scheint, meine Herren, dass Eldol die Wahrheit spricht, und da dem so ist, sollten wir besser darüber beratschlagen, wie wir der Bedrohung begegnen, anstatt unsere Kraft darauf zu vergeuden, einander zu beschuldigen!«

Einen Augenblick starrten alle, als wäre soeben einem der Pfähle ein Mund gewachsen, durch den er nun zu ihnen sprach. Dann sah Merlin, wie die Mienen sich veränderten, als sie sich erinnerten, dass es ihre Entscheidung gewesen war, diesen Jungen zu ihrem König zu küren. An dieser Stelle mochte man sich fragen, ob es ihnen tatsächlich ernst damit gewesen war oder ob sie – um es mit den Worten jenes Bischofs Augustinus auszudrücken, dessen neuartige Einfälle jeden beunruhigten – zwar zu Gott gebetet hatten, ihnen einen König zu geben, »aber erst später«.

»Mein König, es ist unverkennbar, dass wir einen Feldzug in der Landesmitte beginnen müssen«, antwortete Cadrod schließlich, »um diesen unbedeutenden anglischen König zu zerstören, ehe seine Macht fest verankert ist.«

»Aus Eurer Sicht mag das wohl unverkennbar sein«, warf Madoc ein, der seit vielen Jahren über die Länder der Durotriges rings um Durovernum herrschte, »aber wenn ich nach Osten schaue, sehe ich in Venta Belgarum jenen Teufelsbraten Ceredic!« Sein Tonfall blieb milde, und Cadrod lehnte sich stirnrunzelnd wieder zurück.

»Auch er schafft immer mehr Menschen aus Germanien herbei«, erklärte Cador, »und zwar mit ihren Familien. Folglich ist unbestreitbar, dass diesen Wölfen der Sinn nicht nur nach Beute steht. Sie wollen sich in diesem Land festsetzen.«

»Leonorus Maglos gilt schon seit Ambrosius’ Zeiten als Verräter«, antwortete Eldol, »aber ihn kümmern nur die Länder der Belgae.«

»Er ist ein alter Mann«, bemerkte Docomaglos’ zweiter Sohn, Gerontius. »Mittlerweile führt Ceredic an seiner statt in Venta das Wort, und Ceredic denkt wie ein Sachse, denn britisch ist an ihm einzig der Name.«

Artor nickte.

Das letzte Jahr hatte Gerontius die Männer befehligt, welche die Hausgarde des Königs bildeten, hatte an seinem Tisch gegessen und neben seiner Tür geschlafen, mit ihm gejagt, Brettspiele gespielt und ihn in der Kunst des Schwertes unterwiesen. Es war unvermeidlich, dass der Junge ihn letzten Endes lieben oder hassen würde, und Gerontius war so gutherzig und gerecht wie er groß, dunkel und stark war. Folglich war es kein Wunder, dass der junge König ihm mit Bewunderung in den Augen lauschte.

Cador, der die Gelegenheit spürte, beugte sich vor. »Die Kunde, die uns aus Venta erreicht, besagt, dass Ceredic vorhat, sein Reich nach Norden auszudehnen. Wollt Ihr gegen die Angeln kämpfen, während die Juten und Friesen uns bedrängen? Icel hat seine Macht längst noch nicht gefestigt, denn ehe er seine Häuptlinge gegen uns führen kann, muss er erst die unter ihnen zur Ordnung rufen, die es gewöhnt sind, ihr eigener Herr zu sein.«

Einer oder zwei der Anwesenden zeigten sich ob des Gesagten beschämt, denn was er von den Angeln erzählte, traf zweifellos auch auf die Briten zu.

Doch Cador fuhr unbeirrt fort: »Ceredics Männer haben sich nur ihm verschworen. Euer Einwand, weshalb wir gegen Icel kämpfen sollten, gilt ebenso für Ceredic. Lasst uns diese schwelende Glut an unserer Flanke austreten, ehe sie zur Feuersbrunst entfacht wird!«

Daraufhin entflammten angeregte Streitgespräche. Artor ließ sie ein paar Minuten gewähren, ehe er die Hand hob, und den Versammelten wieder Stille gebot.

In den zwei Jahren seiner Herrschaft hatte er gelernt, einem Rat vorzusitzen, auch wenn er noch nicht immer das Selbstvertrauen besaß, ihm seinen Willen aufzuzwingen. Schweigend richtete Merlin seine Aura auf den Jungen und ließ einen Teil seiner Energie auf ihn übergehen. Für die anderen schien sich lediglich Artors Präsenz verstärkt zu haben, was dabei half, ihre Aufmerksamkeit zu bündeln, bis alle verstummten. Anfangs hatte der fünfzehn Jahre alte König derlei Vorschub ständig benötigt, mittlerweile jedoch wuchs er in seine Macht ebenso hinein wie in die Rüstung seines Vaters.

»Ich glaube, wir sind uns einig, dass wir wohl gegen irgendjemanden kämpfen müssen – « Artors Lächeln widerspiegelte sich in den Mienen einiger der jüngeren Männer. »Und zur Wahl scheinen Icel und Ceredic zu stehen. Beide sind gefährlich. Sagt mir, was wir für den Kampf zur Verfügung haben; vielleicht hilft uns das, zu entscheiden.«

Willst du wissen, wie das Fohlen läuft, dann sieh dir seine Herkunft an, dachte Merlin, der Ansätze von Uthers umgänglichem Stil erkannte. Es klang erfindungsreich, doch aus Artors Worten sprach eindeutig Gerontius; denn betrachtete man das Problem genauer, wurde offensichtlich, woher die Mittel kommen mussten, wenn die Briten einen Feldzug im Frühling planten.

»Gegen Ende dieses Monats werden meine Leute mit der Frühlingssaat fertig«, sagte Docomaglos. »Ich kann dreitausend Mann vor Ceredics Türschwelle stehen haben, ehe er auch nur merkt, dass wir uns in Bewegung setzen. Wir können hart und schnell zuschlagen und ihn gegen Pfingsten ins Meer treiben.«

»Für mich klingt das vernünftig«, meinte Artor. »Cadrod hat Recht, Icel ist ein Problem, aber ich glaube, wir können uns seiner mit mehr Selbstvertrauen annehmen, wenn wir Ceredics Speere nicht mehr zwischen den Schulterblättern spüren.«

Merlin unterdrückte ein Lächeln. »… im Hinterteil spüren…«, hätte Uther wohl gesagt. Aber abgesehen von der Wortwahl schien der Junge unverkennbar seines Vaters Gabe geerbt zu haben, Männer für sich einzunehmen. Die Fürsten aus dem Norden vergaßen nicht nur ihre Einwände, gegen Ende des Rates versprachen sie sogar, Männer zu entsenden.

 

Der Lärm von Schwertübungen wies Merlin den Weg zum König. Nach dem Abendessen waren die meisten Fürsten an ihre Lagerfeuer zurückgekehrt, um sich behaglich auszustrecken, zu reden, zu trinken und zu beobachten, wie das Tageslicht vom Himmel schwand. Als der Druide sich aufmachte, um nach Artor zu suchen, stellte er fest, dass die meisten jüngeren Männer verschwunden waren.

Er brauchte keine Magie, um sie zu finden. Am Rande der Stadt, wo der Fluss beschaulich durch die grünen Weiden floss, rangen zwei Gestalten miteinander, Schatten gegen Schatten, während sich das letzte Sonnenlicht auf ihren schwingenden Schwertern spiegelte. Nach dem ersten Schrecken erkannte er, dass sie sich langsam, bedächtig, anmutig wie in einem Traum bewegten. Dennoch war es gefährlich. Er holte Luft, um ihnen Einhalt zu gebieten, dann blies er sie wieder aus. Er konnte den Jungen nicht ewig beschützen; Artor war beinahe ein Mann.

Dennoch war es die Stimme eines Jungen, die lachend aufbegehrte: »Aber wie soll ich Euch denn treffen, Gerontius, wenn ich Euch kaum sehe?« Tänzelnd wich er außer Reichweite zurück und lehnte sich keuchend auf sein Schwert.

»Wenn der Feind einen nächtlichen Angriff startet, dann seht Ihr auch nichts, ebenso wenig im Staub des Schlachtfelds oder mit einer Kopfwunde, wenn Euch Blut in die Augen rinnt.« Gerontius richtete sich auf. Seine Stimme klang kühl und nüchtern.

Eine dritte Gestalt, der Stimme nach Gai, meldete sich zu Wort: »Wenigstens muss man bei einer Schlacht nicht darauf achten, den Feind nicht zu verletzen.«

»Sofern man erkennen kann, wer der Feind ist«, gab Artor zu bedenken. »Hat die Schlacht erst begonnen, Gerontius, woher weiß man es dann?«

»Wenn ein Speer auf deinen Bauch gerichtet ist, dann ist es ein Feind!«, meinte einer der anderen.

»Wenn dich jemand auf Sächsisch anbrüllt.«

»Wenn jemand der eigenen Schlachtreihe gegenüber steht.«

»Artor hat Recht«, mischte Gerontius sich ins Gespräch. »In den Wirren einer Schlacht kann es mitunter schwierig sein, Freund von Feind zu unterscheiden – insbesondere dieser Tage, da unsere Krieger und die Sachsen ähnliches Rüstzeug tragen. Was ich mit dieser Übung zu erreichen versuche, ist, euch beizubringen, euren Gegner mit anderen Sinnen als den Augen oder den Ohren wahrzunehmen.«

»Ah – Merlin hat mir so etwas schon einmal gezeigt«, meinte Artor. »Er sagte, man muss den Gegner spüren, mit ihm eins werden. Aber ich bin nicht gut genug, um es mit der Klinge zu wagen, deshalb…« Plötzlich bückte er sich, hob etwas aus dem Gras auf und warf es.

Eine rasche Bewegung folgte, dann ein dumpfer Laut, als Gerontius’ Schwert das heransausende Geschoss traf und in tausend Stücke bersten ließ.

»Wicht!«, rief er über das Gelächter seiner Schüler. »Wenn das ein Kuhfladen war, lasse ich Euch diese Klinge putzen!«

»Nein«, entgegnete Artor, der prustend wieder zu Atem kam. »Nur ein Erdklumpen.«

»Na schön.« Gerontius versuchte, seine Stimme streng klingen zu lassen. »Und jetzt ist es wirklich dunkel, also müssen wir diese Übung wohl beenden. Morgen früh, ehe der Rat zusammentritt, sollten wir Zeit für mehr haben.«

»Nicht noch mehr Besprechungen!«, übertönte Gais Seufzer die gemurmelten Unterhaltungen, während sie begannen, ihr Zeug einzusammeln.

»Glaubst du etwa, mehrere tausend Mann samt Ausrüstung begeben sich von Zauberhand an Ort und Stelle, so wie es heißt, Merlin hätte die Steine am Tanz der Riesen herbeigezaubert? Wir haben noch eine Menge Planung vor uns…«

Als die Gruppe zurück zu den Gebäuden aufbrach, gesellte Merlin sich zu den Männern. Artor hatte bereits genug gelernt, um seine Anwesenheit zu spüren. Gerontius zuckte und griff nach dem Schwert, als der dunkle Schemen am Ellbogen des Königs auftauchte, Artor hingegen seufzte nur.

»Euer Unterricht ist für heute beendet, aber es ist immer noch Zeit für ein wenig Unterricht von mir«, klärte Merlin den Krieger auf. »Bringt die anderen zurück ins Lager. Ich muss dem König etwas zeigen.«

»Nicht ohne Schutzwache«, warf Gerontius ein.

»Zweifelt Ihr an meiner Fähigkeit, ihn zu beschützen?« Merlin holte Luft und ließ die Macht in sich anschwellen, bis sogar der Krieger in der Lage sein musste, die Aura zu erkennen.

»Zweifelt Ihr daran, dass ich Euch aufspüren und Euch jeden Knochen im Leib brechen werde, wenn Ihr versagt – ob Hexer oder nicht?«

»Hört auf damit!«, rief Artor aus. »Ich fühle mich wie ein Knochen, um den zwei Hunde raufen. Geht nur, Gerontius. Wir sind gewiss bald zurück.«

»Ja, Herr.« Gerontius’ Stimme klang brüsk und zögernd, doch er gehorchte.

»Wir sind doch bald zurück, oder?«, fragte Artor, nachdem er gegangen war. »Ich habe heute Abend hart gearbeitet und bin müde.«

»Nein. Aber wir nehmen Pferde, also könnt Ihr zumindest sitzen.«

Artor hielt unvermittelt inne. »Pferde? Wohin reiten wir denn um diese Stunde?«

Vertraust du mir nicht?, dachte Merlin, aber Vertrauen und Vernunft gaben jämmerliche Verbündete ab. Plötzlich erinnerte er sich an etwas, das ihm die sächsische Hexe über ihren Gott erzählt hatte: dass er mitunter trügerisch wirkte, die Menschen zu ihrem eigenen Besten oder einem noch höheren Zwecke verriet. Vielleicht war er doch ein wenig wie Woden. Wenn du lernst, mir in kleinen Dingen zu vertrauen, die ich zu erklären vermag, dann wirst du vielleicht auch gehorchen, wenn es an der Zeit ist, mir zu folgen, ohne zu wissen warum…

»Wir reiten zum Tanz der Riesen. Er liegt sechs Meilen entfernt. Wenn wir jetzt aufbrechen, können wir dort sein, ehe der Mond vollends aufgegangen ist, und ich weiß nicht, wann wir diesen Teil des Landes wieder besuchen werden.«

Eine lange Stille setzte ein. »Mein Vater liegt dort begraben…«, meinte Artor schließlich. »Nun gut. Ich komme mit Euch.«

 

Die stehenden Steine warfen lange Schatten und standen düster im Mondlicht. Schweigend ritten Artor und Merlin um den Kreis. Vor ihnen erstreckte sich die Ebene bis zu dem in der Ferne verschwimmenden Horizont; einzig die Reihe der Grabhügel durchbrach die in Mondlicht getauchten Weiten.

»Wer hat diese Steine errichtet? Wozu dienen sie?«, wollte Artor wissen, während er das Monument unbehaglich betrachtete.

Sein Vater hat mir damals dieselbe Frage gestellt, erinnerte sich Merlin und begann, ihm von den uralten Stämmen zu erzählen und wie sie die Sterne beobachtet hatten.

»Die Ebene erscheint so leer«, flüsterte Artor, nachdem er geendet hatte, »als wären wir die einzigen lebenden Wesen auf der Welt.«

Merlin schaute sich um und erblickte mit der Sicht seines Geistes die magischen Schutzfeuer, die auf den Grabhügeln tanzten.

»Die einzigen lebenden Wesen vielleicht – aber an diesem Ort wimmelt es vor den Geistern jener, die vor uns gegangen sind. Ich habe Euch hergebracht, damit Ihr genau das lernt: Alles vergeht, aber nichts ist verloren.«

Artor schluckte. »Wo ist das Grab meines Vaters?«

Merlin deutete auf den letzten Grabhügel, der neben jenem der Fürsten angelegt worden war, die in der Nacht der langen Messer ermordet wurden.

»Dort liegt er, neben Ambrosius, seinem Bruder.«

»Ich habe ihn nie kennen gelernt… Ich frage mich, könnte ich ihn nun treffen, welche Ratschläge hätte er wohl für mich?«

»Es heißt, wenn ein Mann die Nacht an einem geheiligten Grabhügel verbringt, ist er am nächsten Morgen verrückt, tot oder ein Dichter. Wir müssen vor dem Morgengrauen zurück im Lager sein, aber wenn Ihr wollt, könnt Ihr eine Weile hier sitzen.«

»Ist es gefährlich?« Erfreut stellte der Druide fest, dass er aus Artors Stimme keine Furcht, sondern gesunde Vorsicht vernahm.

»Die Gefahren bringt Ihr selbst mit«, erwiderte er. »Zorn für Zorn, Furcht für Furcht. Erinnert Euch daran, was ich Euch gelehrt habe, und alles wird gut.«

Und wenn nicht, kann ich mich gleich in meinen Wald im Norden zurückziehen, dachte Merlin trocken, denn hier wird mein Leben keinen Denarius mehr wert sein! Doch er fürchtete nicht um das körperliche Wohl des Jungen. Sollte Artor bei dieser Prüfung versagen, wäre alles verloren, wofür Merlin gearbeitet und gelitten hatte. Und für den Druiden barg dieser Ort eigene Gefahren; es wäre nur allzu leicht, dem Knoten der Mächte, die hier aufeinander trafen, zu nahe zu kommen und in eine andere Welt gesogen zu werden.

Und so begab der junge König sich an seinen Platz auf dem Grabhügel, der seines Vaters Gebeine beherbergte, während Merlin, sein Lehrer, sich ein Stückchen abseits jener Linie der Macht, die vom Grabwall zum Steinkreis verlief, auf einem Felsblock niederließ. Von dort aus beobachtete er Artor, während der Mond gemächlich gen Westen wanderte und die Sterne der Morgendämmerung entgegenfunkelten.

Als der Druide sein Mündel in der grauen Stunde vor dem Sonnenaufgang von dem Grabhügel herabrief, damit sie zurück nach Sorbiodunum reiten konnten, wirkte das Antlitz des Jungen ausgezehrt; die Augen des Königs schienen die Welt bestenfalls verschwommen wahrzunehmen. Erst als sie beinahe zurück im Lager waren und das erste Tageslicht die Erde aus ihrem Schlummer weckte, seufzte Artor, und der ausdruckslose Blick begann aus seinen Augen zu weichen.

»Hat Euer Vater zu Euch gesprochen?«

»Wisst Ihr das denn nicht?« In der Stimme des Jungen schwang eine Mischung aus Verblüffung und einer Art Bitterkeit mit.

»So wie ich seid auch Ihr ein Kind der Prophezeiung, unsere Wahl aber treffen wir selbst. Und dies war Euer Geheimnis«, erklärte Merlin freundlich. Ich muss lernen, schalt er sich, ihn loszulassen.

»Ja… ich glaube, er hat zu mir gesprochen«, antwortete Artor.

Aber er wollte nicht preisgeben, was der Geist seines Vaters ihm anvertraut hatte.

 

Oesc erahnte die verschwommene Bewegung vor dem blauen Himmel mehr, als er sie sah, duckte sich und riss den Holzschild hoch. Der Knüppel traf ihn mit einer Wucht, die ihn um ein Haar zu Boden geschleudert hätte. Mit vor Schmerzen pochendem Schildarm taumelte er rücklings.

»Du hast den Hieb gut abgewehrt, aber du bist aus dem Gleichgewicht geraten«, erklärte Byrhtwold, senkte den Knüppel und lehnte sich darauf.

»Das hat wehgetan.« Oesc ließ den Schild vom Arm gleiten und rieb sich die Schulter.

»Gewiss. Aber ohne den Schild hätte dir ein solcher Schlag den Arm gebrochen.«

»Hätte ich eine Waffe, könnte ich zurückschlagen«, beschwerte sich Oesc. »Du tust, als wäre ich immer noch zwölf Winter alt!«

»Vielleicht, aber wenn du in der Schlacht die Klinge verlierst, rettet dich einzig dein Schild, bis du dir eine andere Waffe greifen kannst«, gab der alte Mann zurück. »Du hältst dich für einen Krieger, weil du schon einmal bei einer Schlacht dabei warst. Ich glaube, du hast Gewohnheiten, die du ablegen musst. Also fangen wir ganz am Anfang an. Sobald du es schaffst, mich nur mit dem Schild abzuhalten, darfst du mit der Klinge üben. In der Zwischenzeit solltest du weiterhin deinen Schwertarm stärken.«

»Indem ich Holz hacke?«, fragte Oesc seufzend. »Das ist die Arbeit eines Leibeigenen; ich habe es nur getan, um meinen Arm zu kräftigen.«

Byrhtwold schmunzelte. »Aber es ist eine gute Übung. Und wenn du die Fähigkeiten der Menschen nicht beherrschst, die dir dienen, wie willst du sie dann dazu bringen, ihre Arbeit zu tun?«

Oesc begriff, dass es sinnlos war, weiter aufzubegehren, und nickte. Byrhtwold reichte ihm den Knüppel.

»Morgen früh üben wir weiter.« Byrhtwold wandte sich ab, dann hielt er inne und fügte mit sanfterer Stimme hinzu: »Hab Geduld junge. Schon bald wirst du etwas anderes als Holz hacken. Ceredic will, dass du die Männer begleitest, die dein Großvater nach Venta Belgarum sendet. Du ziehst in den Krieg.«

Oescs Gedanken waren in Aufruhr, als der alte Krieger ihn allein ließ. Der Morgen zeigte sich sonnig, aber große, flaumige, an Wolle erinnernde Wolken trieben von Westen herbei und zauberten Schattenmuster auf die Mauer des alten Theaters. Es beherrschte das, was von der Stadt übrig war, wie eine einsame, alte Eiche, nachdem ein Sturm alle kleineren Bäume ringsum entwurzelt hatte. Zweifellos würde es vor dem Abend noch regnen.

Als sein Vater ihn zum ersten Mal nach Cantuware mitnahm, hielt er die noch stehenden Gebäude in Durovernum für das Werk von Jötuns. Dann hatte er Eboracum und Verulamium kennen gelernt, Städte, die ungeachtet ihrer Kriegsnarben immer noch erhaben wirkten.

Venta aber war nie zerstört worden. Venta hatte die Sachsen als rechtmäßige Erben des römischen Kaiserreichs willkommen geheißen, so wie Gallien nun die Franken willkommen hieß und Iberien die Wisigoten. Sogar aus Durovernum wurde in der Sprache der Menschen allmählich Cantuwaraburh. Wir sind die Zukunft, dachte er, und wenn er mit Ceredic marschierte, würde vielleicht auch sein Name einen Platz in jener Zukunft finden.

Ceredic versammelte seine Verbündeten auf den Feldern vor der alten Seefestung Portus Adurni, die ein weiterer Germane, Admiral Carausius, vor langer Zeit errichtet hatte. Dort begingen sie das Ostara-Fest. Es war eine Stammesfeier alter, germanischer Tradition und sollte die Menschen an ihre gemeinsame Herkunft erinnern. Die Tiere in den Pferchen regten sich unruhig, als wären sie sich ihrer Rolle bei dem Ritual gewahr, doch der Rest des Lagers knisterte vor freudiger Erwartung.

Kundschafter hatten die Gerüchte bestätigt. Die britischen Fürsten waren auf dem Vormarsch, angeführt von Docomaglos von Dumnonia, dessen Söhnen und dem Jungen, den sie zu ihrem König erkoren hatten. Leonorus Maglos war aus Venta geflüchtet, und Ceredic hatte keine Lust, die Begeisterung seiner Verbündeten auf die Probe zu stellen, indem er sie einer Belagerung aussetzte. Er hielt es für besser, dem Feind in offener Schlacht zu begegnen, auf der Flutebene gegenüber der Insel Vecta, wo der Icene ins Meer mündete.

Inmitten der Felder befand sich ein ansehnlicher Eichenhain. Hier hatten einst Römer einen Opferstein für Merkur errichtet. Als die Christen Einzug hielten, wurde er aufgegeben, und Weinranken überwucherten ihn, bis Ceredic Anspruch auf den Ort erhob und daneben einen Altar aus aufeinander geschichteten Steinen baute.

Oesc hielt den Strick des weißen Ochsen, den Hengest als Opfer gesandt hatte. Auf dem Feld sah er die Streitmacht Cantuwares – Bauern, die auf Geheiß ihres Königs ihre Felder verlassen hatten, sowie die Söldner aus Hengests Hausgarde, die gekommen waren, um seinen Erben zu beschützen. Der Ochse stampfte und rieb den Schädel an seiner Seite, dabei brachte er Oesc aus dem Gleichgewicht und hinterließ einen Flaum weißer Haare auf der scharlachroten Wolle seines Hemdes. Ein paar der Primelblüten aus dem Kranz um die Hörner des Ochsen fielen ab, dann neigte er das Haupt und leckte von dem Getreide, das man für ihn ausgestreut hatte. Oescs Anspannung löste sich ein wenig. Es war heiliges Korn, vermischt mit geweihten Kräutern und von den Priestern gesegnet; dass der Ochse davon fraß, bewies, dass er seine Rolle als Opfer anerkannte.

Oesc sah Haedwig bei den anderen Gottesdienern stehen, die einberufen worden waren, um die Rituale zu segnen: dem steinalten Godwulf, der einst am Hofe des Vitalinus gedient hatte, und zwei Witegas, die mit der letzten Schiffsladung Krieger aus Germanien herbeigeschafft worden waren. Aus der Emsigkeit, mit der sie das Rind untersuchten, schloss er, dass es einige Zeit zurücklag, seit sie zuletzt genug Vieh gehabt hatten, um ihrer Kunst zu frönen.

Auf dem Platz zwischen den Tieren und den Leuten gaben drei Gaukler ihre Vorstellung, während ein weiterer auf einer kleinen Handtrommel einen fröhlichen Rhythmus klopfte. Als der Tag sich dem Mittag zu neigte, begannen die Wolken, sich zu teilen, und die auf die Kleider der Spielleute genähten Metallstücke blitzten und glitzerten in der Sonne. Dann brach die Wolkendecke vollends auf, und von innerhalb des geheiligten Hains ertönte ein Hornruf.

Die Häuptlinge, welche die neun weißen Pferde hielten, setzten sich mit den Tieren in Bewegung, gefolgt von den Ochsen. Als das Tier neben ihm lostrabte, riss Oesc am Strick seines Ochsen und reihte sich in den Tross ein. Den Geräuschen nach zu schließen, folgten irgendwo hinter ihm die Schweine; er beneidete die Männer, die sie unter Kontrolle halten mussten, nicht.

In langsamem Marsch zogen die Menschen und Tiere sich im Sonnensinn um den Hain. Unmittelbar vor ihm ging Aelles Sohn Cymen mit einem weiteren Ochsen, der noch größer als sein eigener war. Während sie an der Menge ringsum vorbeizogen, lösten sich Männer der Streitkräfte daraus und schmückten die Tiere mit zusätzlichen Girlanden oder tätschelten einfach nur deren glatte Haut, während sie ihre Gebete murmelten. »Lass mich tapfer kämpfen!« oder »Gib, dass ich viele Feinde töte!« und manchmal »Mögen die Götter mich wohlbehalten nach Hause zurückkehren lassen.«

Als sie die zweite Runde begannen, wurden die Tiere nacheinander in den Hain geführt. Da der Blutgeruch stärker wurde, zeigten sie sich zunehmend widerspenstig, aber als Oesc an der Reihe war, trabte der Ochse brav den ausgetretenen Pfad entlang.

Von den Bäumen hingen bereits die Schädel und Häute der früheren Opfer. Erst jetzt hielt der Ochse mit sich blähenden Nüstern inne und weigerte sich weiterzulaufen, so sehr der Junge auch am Strick zerrte. Während Oesc sich mit dem Tier abmühte, kam leise singend Haedwig mit einem Strauß Eschenblätter herbei. Oesc erkannte Ger, die Rune der Ernte, und Sigel, jene des Sieges. Der Gesang beruhigte den Ochsen und er verharrte reglos, während die Wicce sich um ihn bewegte und mit dem Strauß über seinen Kopf, den Rücken und die Flanken strich.

Nach ihr kam Ceredic mit einem Messer in der Hand. Er schnitt eine Haarsträhne vom krausen Stirnfell des Tieres, trat zurück und hielt sie empor.

»Woden, diesen für dich geheiligten Ochsen opfern wir dir. Nimm ihn an, Vater des Krieges, und gewähre uns den Sieg!«

Die Luft um den Altar knisterte mit der Energie des Blutes, das bereits vergossen worden war. Während der Feldherr sprach, flüsterte der Wind durch die Blätter und wehte Oesc die Strähnen aus der Stirn, und als Ceredic die Finger öffnete, wirbelte er die weißen Haare hinweg.

Haedwigs Finger schlossen sich um Oescs Hand, die den Strick hielt, und der Ochse folgte ihnen zum Altar, wo der Schlächter bereits wartete. Er war ein riesiger, muskelbepackter Mann, und er hielt einen Hammer in Händen. Als der Ochse den Rand der Blutvertiefung erreichte, holte er mit dem Werkzeug aus. Ein lauter, dumpfer Knall ertönte, als der Hammer zuschlug, und der Ochse sank auf die Knie.

Einen Augenblick starrte Oesc das Tier nur an. Dann besann er sich, den Dolch zu ziehen; Haedwig führte seine Hand an die Halsschlagader des Ochsen, und er stieß zu und zog die Klinge hindurch.

Das Tier zuckte zusammen, doch binnen weniger Lidschläge ließ der Strom des Blutes den inneren Druck sinken, und der Atem rasselte in lang gezogenen Stößen aus der durchtrennten Luftröhre. Wie alle anderen hatte Oesc jeden Herbst beim Schlachten geholfen und bei der Jagd Hasen oder Wild den Gnadenstoß versetzt. Der Tod war stets eine ernste Angelegenheit, doch er hatte nie zuvor erfahren, dass der Tod auch heilig war.

»Sprich jetzt dein Gebet«, forderte ihn die weise Frau auf, während sie eine Kupferschale unter den Ochsen hielt, in die das Blut troff.

»Woden, empfange diesen Geist, und erfülle uns mit deiner Seele! Vater des Sieges, geleite meine Männer zurück nach Hause zu ihren Feldern und mich zur Halle meines Großvaters!«

Die Augen des Ochsen wirkten bereits glasig, und Oesc spürte, wie unter seinen Händen das Leben aus dem Fleisch rann gleich Weizen aus einem undichten Sack. Doch auch nachdem der Sack leer war, gab es den Weizen noch, und ihn beschlich das Gefühl, dass des Ochsens Leben nicht ausgelöscht, sondern hinweggesogen worden war.

Dein Fleisch wird uns Macht verleihen!, dachte er. Möge mein eigenes Blut ein ebenso gutes Opfer sein, wenn die Zeit dafür reif ist!

Mittlerweile spritzte das Blut stoßweise hervor. Haedwig ergriff Oescs Arm und zog den Jungen auf die Beine, und während die letzten Tropfen in die Schale tropften, schlangen Männer Seile um die Füße des Ochsen, um ihn zum Häuten und Ausnehmen für das bevorstehende Fest fortzuschleifen. Die Wicce tauchte den Blätterstrauß in das Blut und besprenkelte Oesc, dann reichte sie dem Knaben den Strauß und die Schale.

Nach wie vor benommen, bahnte Oesc sich den Weg aus dem Hain, um die Männer zu segnen, die er zum Sieg zu führen hoffte.

 

Drei Tage später trafen die Armeen sich unter einem weinenden Himmel zur Schlacht. Die Sachsen bildeten ihren Schildwall am Ufer eines der Flüsse, die zum Sund hinabflossen; sie stemmten die Füße in den schlammigen Boden und beobachteten, wie die britische Reiterei über die Ebene auf sie zuwogte. Anstatt eine durchgehende Linie zu schaffen, hatte Ceredic jedem Trupp befohlen, sich in Keilformation aufzustellen, damit mehr Speere zum Einsatz gelangen konnten. Es war eine Sägezahnreihe, mit der sie die Briten in Stücke reißen würden, versprach er ihnen, als er das Flussufer auf und ab ritt.

Nun stand der Befehlshaber bei seinen Kriegern in der Mitte des Geschehens, während sein weißes Ross von einem Leibeigenen hinter die Front gebracht wurde. Wenn Oesc den Kopf drehte, konnte er den vergoldeten Keiler sehen, der Ceredics Helm zierte. Auf der anderen Seite wartete Aelle mitsamt seinen Söhnen. Oescs Helm war rund, mit Nasen- und Ohrenflügeln sowie Kettenlaschen im Nacken und an den Seiten. Er schwitzte unter Hemd und Kettenhemd, aber die meisten seiner Männer würden einzig mit einer eisengefassten Lederkappe als Schutz kämpfen und ihren Leib nur mit dem Schild verteidigen.

Jenseits der Riedfelder erstreckte sich graues Wasser bis zu einem Streifen dunkleren Graus; dort lag die Insel. Über der Armee schwebten Möwen durch die Luft und kreischten wie Wallküren auf der Suche nach Gefallenen. Schon bald würden sie reiche Auswahl haben. Die Briten, die in dichter Formation herantrabten, näherten sich rasch. Ihre Schilde waren auf römische Art bemalt, und jede Truppe besaß ihre eigene Ausrüstung. Oesc konnte das Funkeln der Lanzenspitzen sehen, als sie sich näherten. Der Schweiß ließ seine Hand über den Schaft des eigenen Speeres rutschen. Er lehnte sich gegen den Schild, wischte die Handfläche am Saum seines Hemds ab und ergriff die Wurfwaffe wieder. Haedwig besaß einen Speer, dachte er unvermittelt, der ebenso mächtig war wie Artors legendäres Schwert. Warum, fragte er sich, hatte Hengest ihr nicht befohlen, diese Waffe in der Schlacht einzusetzen? Er würde ihn fragen, wenn er nach Hause kam.

Falls er nach Hause kam…

Mittlerweile galoppierte die britische Reiterei und näherte sich mit erschreckender Geschwindigkeit. Gewiss würde der Fluss sie bremsen, dachte er, und dann verwandelten die Hufe der Pferde das Wasser auch schon in glitzernde Tropfenschauer. Gleich einer sich auftürmenden Welle stürmten sie das Ufer herauf, die Lanzenspitzen senkten sich in tödlichem Einklang.

Oesc stemmte die Füße in den Schlamm, hob den linken Arm und spürte, wie sein Schild von jenem Byrhtwolds auf der einen und von jenem Eadrics auf der anderen Seite gestützt wurde; dann brachte er mit dem rechten Arm den Speer in Anschlag. Pferde mit wirren Augen kamen immer näher heran, bis sie sein Sichtfeld vollends füllten; die verzerrten Fratzen ihrer Reiter prangten über den feindlichen Schilden. Er spürte, wie sich seiner Kehle ein gellender Schrei entrang, der im Getöse des sächsischen Schlachtrufes unterging.

Ein heftiger Ruck erschütterte den Schildwall. Unwillkürlich schwang Oesc den Arm vor, die Hand schleuderte den Speer. Hie und da zeigte sich ein Riss in der heranbrandenden Flut der Reiter, doch jener erste Speerhagel war zu wenig, um sie aufzuhalten. Oesc duckte sich hinter den Schild und mühte sich, ihn zwischen den anderen zu halten, als ein angreifender Reiter in die Linie der Sachsen stürmte.

Der Schildwall wogte zurück, und Oesc wurde kurz von den Beinen gehoben, fiel jedoch nicht. Das feindliche Pferd, durchbohrt von spitzen Schildbuckeln, bäumte sich schreiend auf. Eine Lanze stieß auf ihn herab und strich oberhalb seiner Schulter vorbei. Oesc gelang es, sein Schwert freizubekommen, und als er den gepanzerten Leib erspähte, stach er damit nach oben. Einen Augenblick hatte er das Gefühl, das gesamte Gewicht eines Mannes und eines Pferdes zu stützen, dann fiel der Feind zurück, und er konnte wieder Luft holen.

An mehreren Stellen hatten die britischen Reiter den Schildzaun durchbrochen und hieben mit Lanze und Schwert zwischen den Sachsen um sich. Andere waren zu beiden Seiten ausgeschwärmt, im Versuch, die Formation zu umgehen. Inmitten des Tumults erblickte Oesc ein Drachenbanner, das wohl Artor gehören musste. Es wurde von einem großen Mann mit dunklem Haar getragen. Dann ragte plötzlich ein Pferd vor ihm auf; ein Schwert traf klirrend auf seinen Schildbuckel, und er wich zurück. Danach war er lange Zeit zu beschäftigt, um an irgendetwas zu denken.

 

Auf einer Woge des Wehklagens kehrte nach und nach das Bewusstsein zurück. Warum weinen sie? Bin ich tot?, fragte sich Oesc. Aber die Toten spürten keinen Schmerz, und als er gänzlich das Bewusstsein erlangte, stellte er fest, dass er rasende Kopfschmerzen hatte und sich überall wund anfühlte. Eine Weile lag er still und versuchte, sich zu erinnern.

Ein Bild aus seinem Gedächtnis zeigte ihm Byrhtwold, der mit einem aus der Brust ragenden Speer ausgestreckt vor ihm lag. Danach hatte ihn ein wahrer Schlachtwahn befallen. Deshalb fühlte er sich nun wohl so entsetzlich. Gewiss trauern sie um Byrhtwold, dachte er und spürte heiße Tränen auf den eigenen Wangen. Er ist gestorben, weil er mich gerettet hat.

Oesc schlug die Augen auf. Seine verschwommene Sicht offenbarte ihm einen nächtlichen Himmel und die Schemen von Männern, die zwischen ihm und den Feuern umherliefen. Dann versuchte er, sich aufzusetzen und stellte fest, dass seine Hände und Füße gefesselt waren.

Heißer Schreck schoss durch seinen Körper und schärfte seine Sinne. Die Stimmen, die er hörte, erklangen in britischer Sprache, und auch die Gesichter und die Gewandung der Männer rings um ihn waren britisch. Er war vom Feind gefangen genommen worden.

Oesc beherrschte ihre Sprache ausreichend, um die Worte zu verstehen –

 

Der Herr Gerontius, der Feinde Not,

Der ließ die Pferde steigen, weiß und rot.

Nach Krieg und Kampfgeschrei ist bitter der Tod…

 

Wenigstens, dachte er voll grimmiger Genugtuung, hatten die Sachsen einen Helden unter ihren Feinden zur Strecke gebracht. Die Briten jubelten nicht, und doch war er ein Gefangener, dessen Kettenhemd ihn als wertvolle Beute auswies, für die man Lösegeld fordern konnte. Wer hatte die Schlacht gewonnen?

Er holte tief Luft und versuchte, sich den Fesseln zu entwinden, doch die Anstrengung jagte ihm einen grellen Schmerz durch den Kopf, der ihm neuerlich das Bewusstsein nahm.

Als Oesc wieder die Augen öffnete, war es früher Morgen. Seine anderen Wunden hatten sich auf qualvolle Weise verkrustet, die Kopfschmerzen aber waren zu einem dumpfen Pochen verblasst.

»Ja, das ist er«, hörte er eine sächsische Stimme in der Nähe. »Octhas Balg. Ich habe ihn in Venta gesehen.«

Oesc biss sich auf die Lippe, um nicht aufzustöhnen und rollte sich zur Seite. Die Augen gegen das Sonnenlicht zusammengekniffen, schaute er zu seinen Häschern empor. Der Sachse war nur ein bedeutungsloser Bauer. Blinzelnd versuchte er, die Züge der beiden anderen Männer auszumachen.

»Lasst mich ihn töten!«, forderte einer der beiden, ein Mann von etwa dreißig Jahren mit lockigem, dunklem Haar. »Das Blut meines Bruders schreit nach Vergeltung.«

»Glaubt Ihr, ich trauere nicht um ihn?«, entgegnete sein Gefährte. Oesc konnte ihn nicht richtig erkennen, aber er klang jung, die Stimme heiser vor unterdrückten Tränen. »Er hat mich kämpfen gelehrt! Gestern hat er mir ein Dutzend Mal das Leben gerettet; er war mein Freund…«

»Wir alle trauern um Gerontius, aber der da ist als Geisel wertvoller für uns«, meldete sich ein älterer Mann zu Wort.

»Wieso? Er ist kein Blutsverwandter von Ceredic.«

»Stimmt, aber er ist Hengests Enkel, und solange wir ihn haben, wird Cantium dafür bürgen, dass Ceredic sich wohlverhält.«

Lange Zeit war es still. Obwohl seine Kopfschmerzen erneut fast unerträglich geworden waren, mühte Oesc sich auf die Beine, da er keinesfalls wie ein gefesselter Leibeigener zu Füßen seiner Feinde liegen bleiben wollte.

»Schneidet seine Fesseln durch«, befahl die junge Stimme.

Der ältere Mann sägte mit dem Messer an dem Strick, zerrte Oesc auf die Beine und stützte ihn, bis die Benommenheit wich und er allein zu stehen vermochte.

Artor… dachte Oesc, als er die prunkvolle Stickerei auf dem blutbefleckten Hemd und die goldene Kette unter dem dünnen Flaum braunen Bartes erblickte. Er selbst war ein wenig größer, als sein Gegenüber, aber von Gestalt waren sie sich recht ähnlich.

»Verstehst du mich?«, fragte Artor und wartete, bis sein Gefangener nickte. »Wir haben die Schlacht nicht gewonnen, ebenso wenig aber habt ihr sie gewonnen. Du kommst mit uns, entweder in Eisenketten an einen Karren gebunden oder als freier Reiter, durch einen Eid vor deinen Göttern an das Versprechen gebunden, nicht zu fliehen. Die Entscheidung liegt bei dir.«

Dein Vater hat meinen getötet, dachte Oesc. Am Gürtel des Königs steckte ein Dolch. Wenn er ihn zu fassen bekommen und zustoßen könnte, wäre Octha gerächt. Doch im Augenblick bedurfte er schon all seiner Kraft, um nur zu stehen. Abermals schaute er Artor in die Augen, und diesmal konnte er den Blick nicht abwenden.

Er sah Kummer in jenen Augen, und eine Erschöpfung, die beinahe seiner eigenen gleichzukommen schien, und noch etwas, das er nicht verstand. Seltsamerweise erinnerte er sich in jenem Lidschlag an das Vertrauen in den Augen des Ochsen, den er zur Opferung geführt hatte. Er hatte gehört, dass die Christen von Eriu es das weiße Martyrium nannten, wenn sie aus ihrem Land verbannt wurden. Er schluckte und wusste, dass er sich selbst verdammte.

»Ich schwöre es – in Wodens Namen. Ich bin das Opfer.«