V

Der Kopf des Raben

A.D. 480

 

Während Ceredic im Süden seine Wunden leckte und Icel in der Landesmitte an Stärke gewann, herrschte Frieden in Britannien. Sogar die Pikten und Skoten verhielten sich ruhig, und Artors Berater fanden, die Zeit wäre reif dafür, dass der König die Stadt seines Vaters, Londinium, in Besitz nähme. Mit ihm zogen seine Hausgarde und seine Bediensteten, zudem Eldol von Glevum und Cadrod von Verulamium, die seine wichtigsten Berater geworden waren. Und Oesc, sein sächsischer Gefangener, der traurig und teilnahmslos am Ende des Trosses ritt.

Oescs Herz schmerzte, wenn er an seinen Großvater dachte, der in jener von Schatten erfüllten Halle auf ihn wartete. Haedwig kümmerte sich zwar sorgsam um die Gesundheit des alten Mannes, aber wer würde nun an den langen Abenden mit ihm Brettspiele spielen oder ihm Wild beschaffen, wenn das Pökelfleisch des Winters allmählich eintönig schmeckte?

Und mehr als er sich je vorgestellt hätte, vermisste er Cantuware. Wenn er des Nachts die Augen schloss, sah er die Sinkflüge der Wasservögel ins Sumpfland oder wie der Wind mit sanften Fingern das gedeihende Korn streichelte. Er sah Sonnenlicht in grünen und goldenen Schauern durch den Wald des Forstes brechen und mit gnadenloser Klarheit auf den hohen Rücken der Hügelländer funkeln.

Im Nachhinein betrachtet, vermeinte er, es wäre jener Tag im Tempel bei Aegeles Furt gewesen, der diesen Unterschied bewirkt hatte. Manchmal verfluchte er Haedwig dafür, dass sie ihn dorthin gebracht hatte, manchmal aber fand er in der Erinnerung Trost. Er war nun in Cantuware so fest verwurzelt, als wäre er dort geboren, und fern jener Heimat würde er niemals glücklich werden, auch nicht als freier Mann.

Er wurde nicht schlecht behandelt. Der größte Teil des alten Statthalterpalastes war leidlich instand gesetzt und bewohnbar gemacht worden, und er bot genug Platz für Artors gesamten Haushalt. Merlins Gemächer befanden sich in einem alten Turm, wo er sich jedoch selten aufhielt, da er oft in anderen Teilen Britanniens unterwegs war – um Botschaften zu überbringen, meinten einige, während andere tuschelten, er zöge los, um sich mit Dämonen zu treffen.

Oesc gewöhnte sich an geschnitzte Säulen, Marmorfassaden und kalte geflieste Böden. Er selbst wohnte in einer weiß getünchten Kammer mit einem Fenster mit Läden, von dem aus er den Fluss überblicken konnte. Nur manchmal, wenn er durch einen verwaisten Gang oder einen Hof schlenderte, in dem ein vertrockneter Springbrunnen den Himmel anklagte, dachte er daran zurück, wie er sich einst gefühlt hatte, wenn er die Rüstung seines Vaters anlegte. Es war, als wären er und all die anderen hier bloß Kinder, die Könige spielten und bald würden die Erwachsenen, die diese Hallen errichtet hatten, ihren Besitz zurückfordern. Wenn er Artor beobachtete, wie er voller Prunk auf dem Podium der Basilika saß, fragte er sich gelegentlich, ob der Hochkönig ebenso empfand.

Doch die Legionen waren Vergangenheit. Odoacer, ein Kriegsherr der Sachsen, dessen Vater einer von Attilas Generälen gewesen war, herrschte nunmehr in Italia, und im Gegensatz zu den Barbarengenerälen vor ihm, weigerte er sich, einen Römer als namentlichen Kaiser zu küren. Das Kaiserreich des Westens war Geschichte, und nur in Britannien und den Teilen Galliens, wo Johannes Riothamus jene britischen Krieger um sich geschart hatte, deren Familien nach der Nacht der langen Messer von der Insel geflohen waren, lebte die Erinnerung daran fort.

 

An einem Nachmittag im Oktober stand Oesc mit dem übrigen Gefolge in der Basilika und sah zu, wie Artor eine Gesandtschaft aus Gallien empfing. Man hatte ihn recht weit vorne platziert, neben Cunorix, dem Sohn eines irischen Häuptlings, der in Demetia Unruhen angezettelt hatte. Alle Geiseln werden gemeinsam zur Schau gestellt, dachte Oesc verbittert, wie die Hunde des Hochkönigs, die hechelnd auf dem Mosaikboden lagen, oder der Falke, der auf seinem Gestänge neben dem Thron hockte.

Da er wenig anderes zu tun hatte, war in Oesc ein gewisses Interesse daran erwacht, zu beobachten, wie der junge König in seine Macht hineinwuchs. Mittlerweile war Artor beinahe zwanzig, und der kurz gestutzte Bart eines Mannes zierte sein ausdrucksstarkes Kinn. Er hatte für den Anlass eine Dalmatika aus scharlachroter Seide angelegt, mit zwei Stickmusterstreifen entlang der Schultern und an beiden Seiten bis zum Saum hinab. Um seinen Hals glitzerte die goldene Kette eines keltischen Fürsten, auf dem Stirnband aber prangte byzantinisches Email.

Oesc, der sich daran gewöhnt hatte, seinen Häscher in dessen Lieblingshemd aus verblichener, grüner Wolle am Feuer ausgestreckt zu sehen, unterdrückte ein Lächeln. Doch der dunkelhaarige Junge, der dem gallischen Gesandten folgte, betrachtete voller Ehrfurcht die Marmorfassaden an den Wänden, die vergoldeten Reliefsparren der hohen Decke und am ehrfürchtigsten die prangende Gestalt auf dem Thron. Für ihn war Artor tatsächlich der Kaiser.

Eldol trat vor und las aus einer Schriftrolle. »Johannes Rutilius, Comes Lugdunensis, überbringt Grüße von Johannes Riothamus, Dux der Briten nördlich des Flusses Liger, an Artor, Vor-Tigernus von Großbritannien.«

»Lass ihn näher treten –«

Der dunkelhaarige Mann mit dem Knaben verneigte sich.

»Mein König, ich überbringe die besten Wünsche meines Herrn Riothamus für Euer Wohl und das Eures Reiches.« Seinem Britisch haftete ein eigenartiger Akzent an, aber mittlerweile konnte Oesc diese Sprache recht gut verstehen.

Jemand in der Menge hinter Oesc schnaubte verächtlich. »Wird auch langsam Zeit – haben die abgewartet, ob der Junge die Krone behalten würde?«

»Mein Herr bietet Euch einen Handelsvertrag und ein Bündnis an. Die Franken bereiten uns an unseren Grenzen in Gallien denselben Kummer wie Euch hier die Sachsen. In der Heiligen Stadt haben es sich Barbaren gemütlich gemacht, und der Kaiser weilt weit entfernt in Konstantinopel. Ihr und Riothamus, Herr, seid die Erben des westlichen Kaiserreichs, und ein Miteinander wäre beiden Seiten von Nutzen.«

»Wie Ihr richtig sagt«, unterbrach ihn Eldol, »kämpfen wir immer noch gegen die Sachsen. Welche Hilfe kann Riothamus uns bieten?«

»Ach was«, knurrte einer der älteren Männer. »Wir brauchen keine Hilfe von Männern, die aus Britannien geflohen sind, als die Sachsen sich zum ersten Mal in Blut und Feuer gegen uns erhoben haben.«

Artor bedachte sie beide mit kritischem Blick. »Ich glaube, Gallien braucht all seine Männer für die eigene Verteidigung; zudem können unsere Krieger uns durchaus beschützen«, warf er rasch ein.

»Aber die Kais von Londinium sind oft verwaist«, fügte Cadrod hinzu. »Der Handel gedeiht schlecht, seit die sächsischen Wölfe in der Meerenge wüten. Einst hat Britannien geholfen, das Kaiserreich zu ernähren. Schickt uns Handelsschiffe und Kriegsgaleeren, um sie zu bewachen, dann senden wir Euch Korn aus der fruchtbaren Landesmitte, die wir nach wie vor halten.«

Die rote Farbe, die Johannes ins Gesicht geschossen war, wich zurück. »Um eben dies vorzuschlagen, bin ich gekommen, wenngleich ich eine Klausel hinzufügen möchte, dass jeder der beiden Herrscher den anderen um Hilfe anrufen kann, sollten die Zeiten sich ändern.«

»Das erscheint mir ein brauchbarer Vorschlag«, verkündete Artor, während seine Berater noch Luft zum Antworten holten.

»Als Zeichen unserer Aufrichtigkeit habe ich Euch meinen Sohn mitgebracht, das Kind meiner Frau, der Schwester von Riothamus. Er soll Euch in Eurem Haushalt dienen.« Damit legte er die Hand auf die Schulter des Knaben und schob ihn auf den Thron zu.

»Wie ist dein Name? «, erkundigte sich Artor, beugte sich mit den Ellbogen auf den Knien vor, und das erste echte Lächeln an jenem Nachmittag zeigte sich auf seinem Gesicht.

»Bediver, Herr.« Der Junge sprach leise, aber durchaus deutlich – er musste wohl an fürstliche Höfe gewöhnt sein, dachte Oesc.

»Dann sollst du mein Mundschenk sein. Möchtest du das, Bediver?«

»Das möchte ich sehr gerne.«

Bedivers Augen leuchteten. Oesc seufzte. Es ließ sich nicht leugnen, dass der britische König Ausstrahlung besaß. All die jungen Männer waren fast verliebt in ihn. Nur ich nicht, dachte er mit düsterer Miene.

»Dann kannst du dich dort drüben hinstellen, und heute Abend, wenn wir zu Ehren deines Vaters feiern, wirst du an meiner Tafel dienen.« Artor deutete in Richtung der Geiseln.

Während die Hofgeschäfte ihren weiteren Lauf nahmen, wandte Bediver sich an seine neuen Gefährten.

»Wer seid ihr?«

»Wir sind die Geiseln des Königs. Dieser schwarzköpfige Bursche da ist Cunorix, ein Ire aus Demetia, und ich bin Oesc aus Cantium.« Nun würde der Knabe begreifen, als was er, ungeachtet der edlen Worte, tatsächlich zählte.

»Behagt es euch nicht?«, fragte Bediver, wodurch er überraschende Beobachtungsgabe bewies. »Es heißt, der große Aetius war Geisel der Hunnen, und Attila selbst soll eine Zeit lang Geisel in Rom gewesen sein. So lernen wir etwas über andere Völker und deren Länder.«

Damit das zu etwas nütze ist, dachte Oesc mürrisch, muss man wieder nach Hause zurückkehren. Aber er schwieg.

 

Eines Abends kurz nach Mittsommer, als alle Fenster geöffnet waren, um auch den geringsten kühlen Lufthauch hereinzulassen, der vom Fluss heraufwehen mochte, kehrte Artor mit forschen Schritten, das Gesicht einem Donnerwetter gleich und mit Gai an seiner Seite, von einem Treffen des Rates zurück.

Oesc und Cunorix, die abwechselnd mit Bediver Mühle gespielt hatten, erhoben sich, als der König in der Tür erschien. Zu versuchen, drei Spielsteine in eine Reihe des Diagramms zu bekommen, war ein Spiel für Kinder, dennoch mochte es Oesc, weil das Muster ihn an ein germanisches Schutzsigel erinnerte, das man »Schreckenshelm« nannte. Hastig griff er nach den Spielsteinen, als das Spielbrett erzitterte, dann richtete er sich auf.

»Ich habe den Großteil eines erstickend heißen Tages damit zugebracht, alten Männern beim Streiten zuzuhören«, erklärte Artor. »Die mögen vielleicht kein Blut mehr in den Adern haben, aber meines braucht dringend eine Abkühlung. Ich gehe zum Fluss hinunter schwimmen – möchte irgendjemand mitkommen?«

»Ich!«, rief Bediver und stieß das Spielbrett an, als er daran vorbeihastete. Diesmal rettete es Cunorix und legte es auf das Bett. Er schaute zu Oesc, dann nickte er.

»Wir kommen auch mit.«

Als sie die Treppen hinab zum Flussufer aufbrachen, beschlich Oesc der Eindruck, dass Artor, umgeben von alten Männern, die allesamt glaubten, sie wüssten es besser als er, in gewisser Weise ebenfalls ein Gefangener war. Die Vorstellung, dass er sich an seine eigenen Gefangenen wenden musste, um Gesellschaft zu haben, hatte etwas Trauriges. Es bereitete Oesc Unbehagen, Artor zu bemitleiden, weshalb er den Gedanken rasch verdrängte, doch die Vorstellung wollte ihn nicht loslassen.

Der Palast befand sich nah am Fluss, dennoch mussten sie dem Pfad entlang des Ufers eine Weile folgen, bis sie zu einer Stelle gelangten, an der das Flussbett seicht und fest genug war, um hineinzuwaten. Einige Leute aus der Stadt mit tollenden Kindern platschten bereits vergnügt darin herum. Als sie herannahten, schaute jemand auf, sah, dass es sich um Fremde handelte und wandte sich wieder ab.

Mit leuchtenden Augen drehte Artor sich zu den anderen um und hob den Finger an die Lippen. Da wurde Oesc bewusst, dass sie, nur mit einfachen Hemden und Hosen bekleidet, ohne jedes Zeichen von Rang oder Krone, wie jede andere Gruppe junger Männer aussahen, die zum Schwimmen gingen. Er schlüpfte aus den Sandalen, zog das Hemd aus und legte es über einen Busch; gleich darauf folgte das Unterkleid. Wie alle Kinder aus dem Sumpfland hatte auch er als kleiner Junge schwimmen gelernt. Mit einem flachen, langen Kopfsprung, der ihn weit vom Ufer forttrug, tauchte er ins Wasser. Die Strömung war stärker als erwartet, zudem kalt. Er musste sich anstrengen, um zurück ins Seichte zu gelangen.

Artor streckte die Hand aus. Oesc ergriff sie, und es überraschte ihn, wie kraftvoll er ihn ans Ufer zog. Dann kam er wieder auf die Beine und verharrte keuchend.

»Wag dich nicht zu weit hinaus – sonst reißt dich die Strömung fort«, warnte ihn Oesc.

»Ich weiß… manchmal wünschte ich, es wäre so…«

Ein Augenblick gespannter Stille trat ein. Dann sah Artor, dass Oesc ihn anstarrte, schüttelte leicht den Kopf und lächelte. Gleich darauf spritzte er Bediver nass, und in der folgenden Wasserschlacht verlor sich jener Augenblick der Gemeinsamkeit.

Als aber das Licht des langen Sommertages letztlich zu schwinden begann, und sie zögernd wieder in die Kleider schlüpften, erinnerte Oesc sich an jenen Moment gegenseitigen Verständnisses.

Der Tag mochte sich wohl dem Ende zuneigen, doch sie waren jung, ebenso die Nacht. Vor einem Jahrhundert hatte Londinium als die Hauptstadt Britanniens gegolten, und neben jedem der nützlicheren Läden hatte es eine Weinschenke oder Taverne gegeben. Mit den Legionen waren die meisten davon verschwunden, doch seit der Hochkönig in der Stadt weilte, schienen sie wieder an jeder Straßenecke aus dem Boden zu sprießen.

Bediver, der zu jenen Knaben zählte, die nie ihren Hut vergaßen oder einen Schnürsenkel zerrissen, war der Einzige von ihnen, der seine Gürtelbörse mitgebracht hatte. Sie enthielt genug Münzen, um für sie alle in der ersten und zweiten Taverne ihres Streifzuges etwas zu trinken zu kaufen. Als sie zur dritten Weinschänke aufbrachen, hatte Cunorix etwas Geld beim Würfelspiel mit einem gallischen Seemann gewonnen. In der fünften erspielte Artor selbst beim Ringewerfen eine Runde für sie alle.

Mittlerweile waren sie alle in recht ausgelassener Stimmung. Oesc, ein kampferprobter Recke sächsischer Trinkgelage mit Bier und Met, stellte fest, dass er Wein nicht vertrug. Aber es spielte keine Rolle. Artor war ein feiner Kerl, Gai war ein feiner Kerl, und dasselbe galt für Cunorix und den Jungen. Die Dienstmägde, mit denen sie liebäugelten, waren allesamt wunderschön. Auch die Kutscher und Händler, mit denen sie tranken, waren nette Kerle, wenn man sie durch einen rosa Weinschleier betrachtete.

»Ich hab ‘ne Idee.« Oesc schlang einen Arm um Artors Schulter. »Wir nehmen dein Volk und mein Volk und lassen sie gemeinsam saufen. Soll’n sie doch Freunde werden!«

»Du bist betrunken, Oesc.« Artor hickste, dann lachte er. »Ich wohl auch. Klingt übrigens gut. Vielleicht haben so die Römer ihr Weltreich erschaffen!« Alle brachen in Gelächter aus.

Als ihnen das Geld letztlich ausging, war es schon sehr spät, und die Tavernen begannen zu schließen. Bediver war mit dem Kopf auf dem Tisch eingedöst, und Gai hievte ihn sich über die Schulter, als sie zur Tür hinauswankten. Die feuchte Nachtluft wirkte nach der alkoholschwangeren Wärme der Weinschenken erfrischend. Dennoch waren sie alle noch ein wenig wackelig auf den Beinen, als sie die ersten, leisen Schritte hinter sich hörten.

Oesc versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen, indem er ihn schüttelte, sah jedoch lediglich die Sterne wirbeln. Wenn dies ein Hinterhalt war, würde er betrunken kämpfen müssen oder gar nicht.

»Herr!« ertönte Gais Stimme aus der Finsternis, wobei er die förmliche Anrede zum ersten Mal an jenem Abend verwendete.

»Ich hab’s gehört. Trag den Jungen voraus.«

Wie, fragte Oesc sich, konnte er nur so gelassen wirken?

»Artor! Mein Platz ist hier!«

»Bring Bediver in Sicherheit. Das ist ein Befehl! Cunorix, Oesc, stellt euch Rücken an Rücken zu mir auf!«

»Ich hole Hilfe!«, beruhigte Gai sein Gewissen. Dann rannte er los, und beim Geräusch seiner Schritte lösten die Angreifer sich aus der Seitengasse.

Wenigstens, dachte Oesc, während er sich gegen die Schultern der anderen lehnte, kann ich so nicht umkippen.

»Wir haben all unser Geld versoffen«, sprach Artor klar und deutlich. »Ihr werdet für eure Mühen höchstens Schläge beziehen.«

»Der schwarzköpfige Bursche da hat eine Silberschnalle, und du trägst einen Ring. Für hungrige Männer verheißt so etwas Essen und Trinken.«

Mit zusammengekniffenen Augen spähte Oesc auf die herannahenden Schemen. Sie bewegten sich keineswegs wie hungrige Männer.

»Geht in den Palast, wenn ihr hungrig seid, dort wird man euch Essen geben. Wenn ihr uns hier angreift, verletzt ihr den vom König verhängten Frieden und werdet bestraft.«

Während Artor sprach, flüsterte Cunorix Oesc ins Ohr, er sollte sich vor dem Mann auf der rechten Seite vorsehen, der ein Messer hatte, während die anderen mit Knüppeln und Stöcken bewaffnet waren.

»Wieso sollte es den König kümmern, was auf den Straßen vor sich geht?«

»Glaubt mir, es kümmert ihn!«, erwiderte Artor. Sein Lachen verstummte, als die Angreifer losstürmten.

Die Räuber waren ihnen fünf zu drei überlegen, zudem nüchtern. Oesc holte tief Luft. »Woden!«, brüllte er, als der erste Schlag traf, und er hörte, wie Artor nach Brigantia rief. Der Wein hatte ihr Reaktionsvermögen beeinträchtigt, doch sie waren alle drei Krieger und hatten gelernt zu kämpfen, auch wenn die Gegner kaum zu sehen waren. Mit Fäusten und Füßen wehrten sie den ersten und zweiten Ansturm ab. Als der dritte begann, keuchten sie bereits heftig, aber der Schreck und die Anstrengung hatten den meisten Alkohol hinweggebrannt. Was noch übrig war, linderte die Schläge, die sie einstecken mussten.

Es folgten ein paar Augenblicke ungestümer Kampfhandlungen, danach eine Pause, während der alle schnaufend verharrten. Einer ihrer Gegner lag auf dem Boden, während ein anderer sich den Bauch hielt, wo Cunorix ihn getreten hatte. Oesc spürte, wie Artor sich aufrichtete.

»Nun, Freunde, ich glaube, wir haben die Reihen ein wenig gelichtet. Ich glaube, jetzt ist es an der Zeit, königlich nachzusetzen!« Ehe sie Einspruch erheben konnten, sprang Artor vorwärts, ergriff einen fallen gelassenen Knüppel und schwang ihn gegen den nächstbesten Gegner.

Cunorix brüllte etwas auf Irisch, senkte das Haupt und stürmte los, während Oesc sich des dritten Mannes annahm. Endlich konnte er ungehindert kämpfen! Der Zorn, den er Zeit seiner Gefangenschaft unterdrückt hatte, erfüllte ihn mit neuem Rausch. Er sah einen Prügel auf sich zusausen, hob den linken Arm, um den Kopf zu schützen und hörte ein Knacken, als die Waffe ihn traf. Die Wucht wirbelte ihn herum, mitten hinein in die Deckung seines Gegners, und seine Faust schoss auf die Kehle des anderen Mannes zu. Mit Übelkeit erregendem Knirschen gab etwas darin nach, und der Mann sackte gurgelnd zu Boden.

Auch Artor hatte seinen Gegner zu Fall gebracht, Cunorix rang noch mit dem seinen. Oesc holte Luft, um ihnen zuzurufen und keuchte auf, als die Taubheit in seinem Arm jäh einem stechenden Schmerz wich. Lauschend hob Artor die Hand.

Weitere Männer nahten. Doch was sie nun hörten, waren das Hallen von genagelten Sandalen und das Klirren von Harnischen, nicht die verstohlenen Schritte eines Straßenräubers. Gai war endlich mit der Stadtwache unterwegs.

 

Oescs gebrochener Arm heilte allmählich, während der Tadel, mit dem Artor von seinen Beratern nach der Rückkehr in den Palast überhäuft wurde, zweifellos tiefere Wunden hinterließ. Gerüchte besagten, auch Artors Mutter habe zu diesem Vorfall heftig Stellung bezogen, als sie zu einem ihrer regelmäßigen Besuche eintraf. Nur Merlin, der bald darauf von einer seiner Reisen zurückgekehrt war, schien Verständnis aufzubringen.

Um Oesc während seiner Genesung zu beschäftigen, wurde ein Priester namens Fastidius gesandt, der ihm die Sprache der Römer beibringen sollte. Die anderen an der Eskapade Beteiligten wurden ermutigt, mit ihm zu lernen, wenngleich unklar blieb, ob zur Strafe oder um ihm Gesellschaft zu leisten.

»Arma virumque cano…« Die Stimme des Mannes war wohlklingend, und er sprach ganz ohne Akzent; es war offensichtlich, dass er die Sprache liebte. Oesc bemerkte, dass sich sein Latein merklich von dem Lagerlatein unterschied, dessen sich viele der Soldaten bedienten. »Und was, mein Kind, bedeuten diese Worte?«

»Arma – das heißt Waffen«, antwortete Oesc. Dies klang wesentlich interessanter als die Grammatik, die ihnen der greise Mann zuvor beigebracht hatte. »Hat virumque irgendetwas mit Männern zu tun?«

Durch das offene Fenster hörte er die Geräusche von Männern und Pferden, außerdem, aus weiterer Ferne, leisen Donner. Die Hitzewelle war vorüber, Kühle lag in der Luft und das Versprechen von Regen.

»Ein Mann«, berichtigte ihn Fastidius. »Das Objekt des Verbs. Und das que hinten dran – was bedeutet das?« Sein wässriger Blick heftete sich auf Cunorix, der ihn anstarrte, als wäre soeben ein bewaffneter Unhold vor ihm aus der Erde geschossen. In Wahrheit, dachte Oesc, hätte er sich einem Krieger wohl mit weniger Furcht gestellt.

Artor erbarmte sich seiner. »Es bedeutet ›und‹, nicht wahr? ›Von Waffen und dem Mann singe ich…‹«

»Mhm«, brummte der Priester zustimmend. »Du hast die Sprache wohl schon früher gelernt.«

»Sie wurde im Haus von Gaius Turpilius gesprochen, der mich aufgezogen hat«, antwortete der König. »Aber im Lesen hatte ich nie viel Übung.«

»Nun, gewiss wollt Ihr in der Lage sein, Botschaften von fremdländischen Königen auch ohne Schriftgelehrte zu verstehen und sicherstellen können, dass in Eurem Namen verfasste Botschaften das ausdrücken, was Ihr sagen wollt.«

Oesc war nie der Gedanke gekommen, ein König könnte sein eigener Übersetzer sein, nun aber sah er ein, dass es durchaus nützlich sein mochte. Der Priester schien es auf jeden Fall zu glauben. Fastidius war ein greiser Mann, der seine Ausbildung in den goldenen Tagen vor dem Aufstand der Sachsen erhalten hatte, als sein Namensvetter, der Bischof, noch höflich belustigte Briefe über die Vorstellung schrieb, ein vernunftbegabter Mensch könnte Augustinus’ strenge Lehren anerkennen. Ihr Leiden unter den Sachsen machte es einfacher, an Vorherbestimmung zu glauben, doch der alte Priester gebarte sich nach wie vor so, als wäre die Reinheit des Lateins, das ein Mensch sprach, ebenso wichtig wie die Reinheit der Seele des Menschen.

Cunorix räusperte sich. »Aber was bedeutet das?«

Lächelnd und ohne auf die Schriftrolle zu schauen, begann Fastidius abermals zu zitieren: »Troiae qui primus ab oris Italiam fato profugus Lavinaque venit litora… Der zuerst vom Schicksal zur Flucht aus Troja Verdammte gelangte nach Italia und landete an den Ufern Laviniums. Es ist die Geschichte von Aeneas, der dem Untergang der großen Stadt Troja entkam und zum Gründer Roms wurde.«

»Ich habe von ihm gehört«, meinte Artor bedächtig. »Es heißt, die Ahnen der Briten kamen von dort, mit Brutus, seinem Urenkel.«

Oesc aber schien es, als ähnele Aeneas’ Geschichte sehr jener seines eigenen Volkes, das die Not, eine neue Heimat zu suchen, an fremde Ufer getrieben hatte. Er deutete auf die Schriftrolle.

»Wie ist dieser Aeneas nach Italia gelangt, und was ist ihm dort widerfahren?«

Fastidius lächelte. »Ich dachte mir schon, dass ihr die Geschichte mögen würdet. Sie erzählt von vielen Schlachten. Einige meiner Brüder würden wohl sagen, ihr solltet Texte der Heiligen Väter studieren. Aber ich habe den Eindruck, ihr macht bessere Fortschritte mit Geschichten, die euch interessieren; zudem schrieb Vergilius viel besseres Latein.«

»Sogar Gai könnte vielleicht etwas lernen, wenn es mit Schlachten zu tun hat – « Spielerisch stieß Artor seinen Stiefbruder an. »Bei unserem Hauspriester damals war er ein erbärmlicher Schüler.«

Tatsächlich schien es, als erzielten sie mit der Aeneis als Text bessere Fortschritte, während sie den Abenteuern des trojanischen Helden auf seiner Suche nach einer neuen Heimat in den Mittelmeerländern folgten. Und wenn die Mühe, lateinische Deklinationen zu entwirren, zu viel für ihre Geduld wurde, ließ Fastidius sich dazu überreden, sie mit Geschichten über britische Helden zu unterhalten; denn er stammte von der Insel Mona, wo die Erinnerungen weit zurückreichten.

Als der Herbst Einzug hielt, folgte der gesamte Hof dem Tamesis flussaufwärts in die Hügel, um ein paar Wochen zu jagen. Bei der Rückkehr waren sie von Sonne und Wind braun gebrannt, auf angenehme Weise erschöpft von den anstrengenden Ausritten und mit genug Wildbret beladen, um eine Zeit lang Abwechslung in den Speiseplan zu bringen. Es hatte gut getan, aus der Stadt hinauszukommen, doch in mancherlei Hinsicht wirkte sie danach umso erstickender, besonders als das Wetter umschwang und die frühen Winterregen einsetzten.

»Kennt Ihr irgendwelche Geschichten über Londinium?«, fragte Bediver eines Tages, während der bleierne Himmel ohne Unterlass weinte und durch jede Ritze feuchte Zugluft wehte.

Fastidius legte die Tafel beiseite, auf der er gerade Bedivers Liste lateinischer Verben überprüfte, und lächelte. »Ich habe euch bereits erzählt, wie Brutus die Stadt gründete und sie Troia Nova nannte, was auf Britisch Trinovantum hieß, wovon sich der Stamm der Trinovantes ableitet. Es heißt, sein Nachkomme Lud errichtete Mauern und Türme und benannte die Stadt nach sich selbst. Aber das war, kurz bevor der große Julius Caesar die Römer an diese Ufer führte. Die lateinische Geschichte berichtet, Londinium wäre lediglich ein kleiner Ort am Fluss gewesen, den die Römer aus Stein neu erbauten; folglich weiß ich nicht, was tatsächlich der Wahrheit entspricht.«

»Bauwerke sind nicht besonders aufregend«, meinte Cunorix. »Gibt es keine anderen Geschichten?«

Fastidius’ Brauen, so schlohweiß wie sein Haar und außerordentlich buschig, zogen sich zusammen. »Es gibt eine andere Geschichte, aber die endet hier und jetzt. Wenn ihr eure Tafeln nehmt und mir sämtliche Formen von placare, ›besänftigen‹, conloqui, ›verhandeln‹ und agere, ›einen Vertrag schließen‹ aufschreibt, erzähle ich euch eine Geschichte aus dem alten Land der Ordovices, und zwar über einen König von so großer Gestalt, dass ihm kein Gebäude Platz zu bieten vermochte.«

»Glaubt Ihr, wir sind so abgeneigt, Wörter des Friedens zu verwenden, dass Ihr uns bestechen müsst, damit wir sie lernen?«, fragte Artor lachend.

»Ich glaube, dass ihr alle junge Männer seid, die der Meinung sind, Ruhm könnte nur im Krieg erlangt werden…«

Bediver hatte bereits Griffel und Tafel in der Hand und kritzelte eifrig in das Wachs. Schmunzelnd begannen auch die anderen zu arbeiten.

Nachdem sie fertig und ihre Werke berichtigt waren, hielt Fastidius sein Versprechen.

»Vor langer Zeit lebte ein Herrscher der Briten namens Brannos, ein so großer König, dass die Menschen ihn den Gesegneten nannten, was schließlich Teil seines Namens wurde – auf Britisch Bendeigid Bran. Er vermählte seine Schwester Branwen mit dem König von Hibernia, doch einer ihrer Halbbrüder war wütend, weil man ihn nicht um Zustimmung gefragt hatte, und er entstellte die Pferde des hibernischen Königs, was als entsetzliche Beleidigung galt. Brannos bezahlte eine Wiedergutmachung, und das Mädchen reiste mit dem neuen Gemahl übers Meer. Aber die Hibernier zürnten immer noch ob der Beleidigung und zwangen den König alsbald, seine Frau zu bestrafen, indem er sie zu einer Bediensteten seines Hofes machte. Doch Branwen besaß selbst ein wenig Magie, und so bildete sie einen Star aus, damit er die Kunde von ihrem Leid ihrem Bruder in Britannien überbrachte.«

Niemand schaute zu Cunorix, der hochrot angelaufen war. Artor bedeutete dem greisen Fastidius fortzufahren.

»Also zogen die Fürsten Britanniens in den Krieg – die Krieger in Schiffen, Bendeigid Brannos, indem er über das Wasser watete –, und es folgten gewaltige Schlachten und weiterer Verrat, bis die Hibernier letzten Endes besiegt wurden. Aber von den Briten überlebten nur sieben Männer und der König, den eine vergiftete Lanze an der Ferse verwundet hatte. Als Brannos erkannte, dass jenes Gift ihn bezwingen würde, erteilte er bestimmte Befehle. Und dann trennten sie, wie von ihm befohlen, ihm den Kopf vom Rumpf und nahmen ihn mit zurück nach Britannien.«

»Wie lauteten seine Befehle?«, wollte Artor wissen.

»Was ist aus Branwen geworden? «, hakte Bediver nach. Cunorix blickte nur finster drein.

»Die Prinzessin, eingedenk dessen, dass ihretwegen zwei bedeutende Völker ausgelöscht wurden, starb an Kummer. Die sieben Gefährten aber feierten sieben Jahre in einer Behausung, um ihren Gram zu vergessen, dann sieben weitere in einer anderen Behausung, um den Vögeln der Anderswelt zu lauschen, und die ganze Zeit weilte Brannos’ Kopf unverwest bei ihnen. Und nachdem diese Zeit vorüber war, öffneten sie die nach Süden weisende Tür, und wie er es ihnen prophezeit hatte, erinnerten sie sich an alles.«

Wie Fastidius versprochen hatte, war es in der Tat eine seltsame Geschichte. Oesc hatte den Eindruck, dass sie für ihn und Cunorix eine tiefere Bedeutung hatte, denn ihre Völker lebten immer noch so wie die Briten, ehe die Römer kamen. Gai starrte aus dem Fenster, wie üblich gelangweilt, wenn es nicht ums Kämpfen ging, und Bediver lauschte gebannt wie ein Kind. Was aber hielt Artor von dieser Geschichte über einen uralten König?

Er war bereits größer als Oesc, der die meisten Männer überragte. Doch im vergangenen Jahr hatte Artors Körper an Masse zugelegt und erfüllte das Versprechen der stark gebauten Knochen. Das ist kein Junge mehr, der sich von greisen Männern bevormunden lässt, dachte Oesc. Ich frage mich, wann seine Berater erkennen, dass aus dem Bärenjungen ein Bär geworden ist.

Das kalte, durch das Fenster einfallende Licht erhellte eine Gesichtshälfte des Königs, während die andere im Schatten blieb. Die Lider waren halb geschlossen, um Artors Gedanken zu verbergen, die Züge um den Mund verkniffen. Sein Vater hat meinen getötet…. sagte Oesc sich vor, aber ein anderer Teil seines Wesens wünschte sich nur, Artor möge wieder lächeln.

Er räusperte sich. »Was haben sie dann gemacht?«

»Sie haben Brannos’ Befehle befolgt. Sie brachten den Kopf zum Weißen Berg, einem geheiligten Hügel am Fluss in Londinium, und begruben ihn dort mit dem Gesicht Richtung Gallien. Bendeigid Brannos hatte ihnen erklärt, solange sein Kopf dort verbliebe, werde auch sein Geist und seine Macht dort weilen, um Britannien vor Seuchen und Zerstörung zu beschützen.«

»Also kann ein König selbst im Tod noch über sein Volk wachen…«, sinnierte Artor. Seine Züge wirkten nach wie vor ernst, seine Augen hingegen erfüllte ein merkwürdiges Licht.

»Im alten Jütland ist es auch so«, erklärte Oesc. »Wenn die Herrschaft eines Königs dort von Frieden und reichen Ernten gekennzeichnet ist, errichtet man über seinen Gebeinen einen großen Grabhügel und versieht ihn mit Opfergaben, damit man sich seines Namens erinnert und er eins mit den Göttern wird.«

»Es sind die Gebeine der Heiligen und das Blut von Märtyrern, die christliche Länder beschützen!«, meldete Bediver sich zu Wort.

»Weder die Überreste von Heiligen noch ein abgetrennter Kopf scheinen das Kaiserreich vor den Heiden beschützt zu haben«, brummte Gai. »Ich vertraue lieber auf tapfere Herzen und starke Arme.«

»Vielleicht hing Brannos’ Schutz von einer anderen Art Macht ab«, meinte Fastidius beschwichtigend und griff wieder zu der Schriftrolle, die seine grammatischen Regeln enthielt.

Kalt und feucht zog der Winter sich in die Länge. Im Norden und in der Landesmitte war es eine unangenehme Jahreszeit, Stürme tobten, in denen sowohl Menschen als auch Vieh erfroren. In Londinium hingegen schien der Schneeregen sich nie in richtigen Schnee zu verwandeln. Die Bediensteten am Hof des Hochkönigs plagten sich mit der alten Heizanlage, aber auch nachdem man sie zum Laufen gebracht hatte, reichte die durch den Fußboden strömende Wärme nie ganz aus, um die kalten Luftzüge in Schach zu halten, die durch die Türritzen pfiffen. Oft vermisste Oesc die sächsischen Bauernhäuser. So finster und muffig sie sein mochten, wenigstens waren sie warm.

Aber bald wurden die Tage wieder länger, und gelegentlich zeigte sich sogar die Sonne. Am Himmel hallten die bitteren Schreie der Wildgänse auf ihrem Zug nach Norden wider. Boten brachen auf, um die Fürsten Britanniens zu einem Rat zusammenzurufen. In der Landesmitte schmolz der Schnee auf den Hügeln und in den Tälern, und die Tamesis begann anzuschwellen.

 

»Bin ich nun der König oder nicht?«

Oesc, der in der Hoffnung, bald wieder auf die Jagd gehen zu können, seinen Bogen ausbesserte, öffnete die Tür und spähte hinaus. Das musste Artors Stimme gewesen sein, aber er hatte sie noch nie so wütend gehört.

Nun vernahm er das Gemurmel anderer Stimmen, teils beschwichtigend, teils widersprechend.

»Schweigt still! Ihr redet mit mir, als wäre ich ein aufsässiges Kind!«

Es war Artor. Oesc legte den Bogen beiseite und marschierte hinaus, um zu sehen, was dort vor sich ging. Er stieß auf Gai, der an eine Säule gelehnt beobachtete, wie der König auf den Steinplatten des Hofes auf und ab schritt.

»Er war schon immer so, auch als wir noch Knaben waren«, erklärte Gai. »Er wird nicht oft wütend, aber wenn, dann ist es wirklich ernst. Einmal hat er mir die Nase gebrochen und mir blaue Flecke verpasst, die ich eine Woche nicht loswurde, weil er dachte, ich hätte ein Pferd schlecht behandelt. Damals war ich zwölf und er neun und ich einen Kopf größer als er.«

Oesc brauchte nicht weiter nachzufragen, ob das tatsächlich stimmte. Gai erwies sich bei den meisten Dingen als ungeschickt; ständig zerbrach er Waffen und er verschliss seine Pferde schneller als andere Männer.

»Er müsste jemandem den Schädel spalten oder aber sich eine Frau nehmen«, fügte Gai hinzu, »aber ich glaube kaum, dass er es tun wird.«

Oesc nickte. Er wusste, dass Gai mitunter die Dirnen aufsuchte, die den Soldaten dienten, und Cunorix bei den irischen Mägden Zärtlichkeit fand. Oesc selbst hatte stets gefürchtet, abgewiesen zu werden, weil er Sachse war. Welche Gründe Artor für seine Enthaltsamkeit haben mochte, wusste er nicht.

»Und was hat ihn jetzt so aufgebracht?«, erkundigte er sich.

»Die alten Männer des Rates. Sie wollten jemanden auf dem Thron hocken haben, der eine gute Figur macht, aber keinen König. Artor ist außer sich geraten, als sie dafür stimmten, sämtliche Kirchengebiete von der Besteuerung auszunehmen.«

»Will er Geld?«

»Nicht für sich selbst – für die Truppen am Wall. Dein Volk verhält sich zwar ruhig, aber die Pikten und Skoten verkörpern eine ständige Bedrohung, und die gesamte reguläre Armee, die Britannien noch besitzt, befindet sich dort droben. Die Landbesitzer schicken wenigstens Männer und Vorräte, nur die Kirche erwartet, ohne jede Gegenleistung beschützt zu werden.«

Mittlerweile hatten Artors zornige Schritte sich verlangsamt, die Röte begann allmählich, aus seinen Wangen zu weichen. »Begreifen sie es denn nicht? Dämme muss man errichten, ehe die Flut einsetzt. Wir brauchen eine Streitmacht, die Übergriffe abwenden kann, und so etwas kostet Geld.«

Wieder waren Laute der Beschwichtigung zu vernehmen.

»Ich glaube, Gott lauscht den Soldaten ebenso wie den Priestern. Ich hege keinen Groll gegen die Kirche, aber deren Angelegenheit sind Gebete, keine Politik, und nicht alle Menschen dieses Landes sind Christen. Außerdem ist das im Augenblick gar nicht das eigentliche Problem. Sie wollten sich meine Gründen ja nicht einmal anhören! Im Grunde genommen haben sie mich aufgefordert, raus zum Spielen zu gehen, und ich habe – ich konnte – ihnen nichts entgegnen!«

Oesc unterdrückte ein Lächeln. So erging es sächsischen Kriegsherren die meiste Zeit. Außer den Hauskarlen, die gelobten, ihren Häuptlingen bis zum Tode beizustehen, dienten Krieger freiwillig und empfanden keine Skrupel zu widersprechen. Manchmal verblüffte es ihn, dass es den Germanen gelungen war, überhaupt so viel zu erobern. Aber Hunger erwies sich als mächtiger Antrieb. Diese Briten waren zu sehr an ihre Sicherheit gewöhnt. Zwar hatten sie eine schmerzliche Lektion erhalten, diese jedoch unverkennbar längst vergessen. Wären sie bereit gewesen, die Truppen zu bezahlen, die sie beschützten, hätte Hengest niemals Land gefordert.

»Wenn du könntest – wenn sie dir zuhörten –, wie würdest du Ordnung in Britannien schaffen?«, fragte er Artor.

»Durch eine starke Regierung. Rom hatte deshalb so viel Erfolg, weil es im Mittelpunkt eine Kraft gab, die alle Provinzen zwang, einander zu helfen und zu verteidigen. Das Reich ist untergegangen, weil es zu groß und unübersichtlich wurde. Britannien mit seinen fest umrissenen Grenzen hingegen eignet sich hervorragend, um nach innen und außen eine Einheit zu bilden.«

»Du willst über die ganze Insel herrschen?«, fragte Bediver.

»Was ist mit den Pikten?«, wollte Gai wissen.

»Was mit den Sachsen?«, schlug Oesc in dieselbe Kerbe.

»Mir scheint«, erwiderte Artor bedächtig, »sobald Stämme oder Gebiete zu sehr an ihre eigenen Rechte, Rituale und Bedürfnisse denken, kämpfen sie gegen ihre Nachbarn und werden somit leichte Beute für jeden besser organisierten Feind. Julius Caesar hat die britischen Stämme besiegt, weil sie einfach nicht gemeinsam handeln konnten. Dein Großvater hat die halbe Insel überrannt, weil Vitalinus und Ambrosius kein Bündnis eingehen wollten, und er konnte die errungenen Gebiete nicht halten, weil die sächsischen Stämme keinen Oberkönig anerkannten. Ich weiß, dass gegnerische Kaiser einander bekämpft haben, aber für die meisten Menschen herrschte innerhalb des Kaiserreichs die meiste Zeit über Frieden.«

»Aber um welchen Preis?«, gab Cunorix zu bedenken. »Deine Römer haben ganze Völker umerzogen, so wie sie den Erdboden für ihre Festungen ebneten. Ist Friede es wert, dass man alles aufgibt, woran man glaubt?«

»Habe ich etwa behauptet, es wäre einfach?«, entgegnete Artor mit einem Anflug von Zerknirschtheit. »Ich wäre König der Römer und der Briten, der Menschen aus Eriu, die sich an diesen Ufern angesiedelt haben, der Pikten und sogar der Sachsen, würden sie mich anerkennen, und jeder würde mit seinen eigenen Bräuchen friedlich neben seinen Nachbarn leben.«

»Stiefbruder, du bist verrückt.« Mitleidig schüttelte Gai den Kopf. »Sogar der Herr Jesus vermochte keine Einigkeit unter allen zu bewirken.«

»Jesus selbst hat gesagt, sein Königreich sei nicht von dieser Welt, obwohl sich einige unserer Bischöfe scheinbar kaum noch daran erinnern. Wovon ich rede, bedarf eines irdischen Königs.«

»Jedenfalls scheinst du eingehend darüber nachgedacht zu haben«, meinte Bediver bewundernd.

Artor zuckte die Schultern. »Was habe ich sonst schon zu tun, während ich bei all diesen Treffen hocke? Ich weiß, dass der König stark genug sein muss, um die Grenzen zu verteidigen und die Menschen innerhalb jener Grenzen davon abzuhalten, einander umzubringen. Er sollte den Handel und das Gemeinwesen fördern. All das erfordert Steuern, die das Volk nicht bezahlen will. Er muss verhindern, dass Stammeshäuptlinge ihr Volk unterdrücken, muss ihnen aber gleichzeitig genug Freiheit lassen, damit sie ihn unterstützen. Vielleicht ist es tatsächlich unmöglich, aber wenn sie aufhörten, mich wie ein Kind zu behandeln, würde ich es wenigstens versuchen!«

»Du besitzt doch ein magisches Schwert. Verleiht dir das keine Befehlsgewalt?«, fragte Oesc.

»Das ist ein altes Wunder«, erwiderte Artor verbittert. »Ich brauche ein neues, um die Fürsten zu beeindrucken, oder vielleicht bin ich es, der ein Zeichen braucht, dass dies meine Bestimmung ist…«

Artor murmelte immer noch vor sich hin, als ein Arbeiter mit weit aufgerissenen Augen und schlammbedeckten Beinen in der Tür erschien.

»Herr, kommt schnell! Sie haben einen Kopf gefunden – einige sagen, es sei ein Dämon, andere meinen, ein Gott. Er war eingemauert, Herr, wie etwas ungemein Mächtiges. Sie wollen ihn in den Fluss werfen. Ich habe versucht, sie davon abzubringen, aber sie wollen nicht auf mich hören!«

»Ich weiß, wie dir zumute ist«, bemerkte der König. »Na schön, ich komme. Vielleicht sind wenigstens die Leute bereit, auf mich zu hören!«

 

»Man nennt ihn den Weißen Berg, Herr, obwohl es nur ein kleiner Hügel am Wasser ist –«

Oesc sah, wie Artor kurz zögerte, dann fiel ihm plötzlich ein, wo er den Namen schon gehört hatte. Er beschleunigte die Schritte, um die beiden einzuholen, während der Arbeiter munter weiterplapperte.

»Herr, der Fluss ist angeschwollen, und wir wollten ein paar Pflöcke in die Erde rammen, um die Böschung zu sichern. Dabei sind wir auf etwas Hartes gestoßen, obwohl wir natürlich nicht wussten, was es war, und Marcellus sagt noch: ›Das ist aber merkwürdig -‹, und dann ist der Boden einfach irgendwie weggerutscht, und wir haben diese großen Steinplatten gesehen, um die das Wasser spülte.«

Weiter vorne am Wasser hatte sich eine Gruppe von Leuten eingefunden. Jemand sah den König nahen, der noch die Prunkgewänder trug, die er für den Rat angelegt hatte, und stieß einen Schrei aus, und sogleich eilte die Menge Artor entgegen.

»Ich habe ihnen gesagt, sie sollen’s lassen, wie’s ist, aber Marcellus meinte, das wäre guter Stein zum Bauen und hat einen Haken die Spalte hinabgelassen, und dann haben sie gezogen, und die ganze Platte ist umgestürzt und dann –«

Doch mittlerweile waren sie am Fluss angelangt, und Artor gebot mit einer Geste Ruhe. Wie der Arbeiter gesagt hatte, handelte es sich lediglich um einen kleinen Hügel, den jedoch drei schöne Eichen krönten. Einige Raben hockten darauf, und als sie sich näherten, flogen weitere herbei und umkreisten krächzend den Hügel. Oesc verspürte ein unbehagliches Prickeln, und als er Artors ernsten Blick gewahrte, wusste er, dass auch er den Hauch der Anderswelt wahrnahm. Gai stand mit verschränkten Armen da und funkelte düster in die Menge.

Die Leute wichen vor ihnen zurück. Am Rande des Wassers klaffte ein Loch im Hügel. Die umgestürzte Steinplatte hatte eine kleine, rechteckige Kammer mit Wänden und einem Dach aus Stein enthüllt. Dies war kein römisches Mauerwerk. Die Größe der Steine erinnerte Oesc an die Werke der Riesen, die er gesehen hatte. Wasser hatte den Steinboden überschwemmt und umspülte den Steinblock in der Mitte der Kammer. Darauf stand etwas, das dem zu Stein erstarrten Kopf eines Mannes gewaltiger Größe ähnelte. Ausdruckslose, mandelförmige Augen starrten ihnen von beiderseits einer langen, geraden Nase entgegen; eine Masse wirren Haars umrahmte das Gesicht.

Artor betrachtete den Kopf eine Weile, dann bückte er sich, um in die Kammer zu spähen. »Sieh mal, Gai«, rief er. »Das ist nicht aus Stein, sondern getöpfert.«

»Nicht anfassen!«, setzte Gai an, aber Artor betrat die Kammer bereits.

»Unsinn«, entgegnete er über die Schulter. »Wenn wir es hier lassen, wird es zerstört.« Alle hielten den Atem an, als der König den Tonkopf mit beiden Armen ergriff und sich umdrehte, um ihn nach draußen zu tragen.

Als er ihn ins Sonnenlicht brachte, war alles still um ihn. »Bendeigid Bran…«, raunte jemand, und aus dem Geflüster wurde ein ehrfürchtiges Gemurmel.

Bei genauerer Betrachtung erinnerten Oesc die Züge ein wenig an jene Merlins, doch obwohl der Druide eine ebenso wilde braune Mähne besaß, hatte er in dessen Antlitz noch nie einen Ausdruck solcher Erhabenheit entdeckt. Er hatte nicht lange Zeit, die beiden zu vergleichen. Als das Sonnenlicht auf den Tonkopf schien, zeigte sich ein feines Netz von Rissen auf der Oberfläche.

Artor sank im Schlamm auf die Knie und drückte den Kopf behutsam an die Brust, doch binnen weniger Lidschläge zerbröckelte der Ton. Nachdem er abgefallen war, sahen sie, dass jenes Gefäß weder Asche noch Schätze enthalten hatte, sondern einen menschlichen Schädel. Nur kurz starrten sie auf die großen, leeren Augenhöhlen und die mächtigen Kiefer, dann begann auch der Schädel zu zerbröckeln. Ton und Knochen bröselten zwischen Artors Fingern ins Wasser, wo die Strömung sie sogleich hinwegwirbelte.

Die Raben schwirrten krächzend von den Bäumen herab, aber über ihr misstönendes Gekreische ertönte der Schrei einer Frau.

»Der Rabe Britanniens ist fort! Brannos der Gesegnete hat uns verlassen; wir sind verloren!« Sogleich schlich sich ein bedrohlicher Hauch Hysterie in den Tumult der Menge.

Artor schaute auf seine von Ton und Knochen weißen Hände hinab, dann stand er auf. Der Ausdruck in seinem Gesicht ließ Oesc innerlich erstarren, denn in jenem Augenblick barg seine Miene denselben Ausdruck, den er in den Zügen der Büste gesehen hatte. Mit einer einzigen, mühelosen Bewegung sprang Artor aufs Gras hinauf.

»Menschen Britanniens, verzweifelt nicht.« Die Stimme des Königs erklang nicht laut, dennoch weithin vernehmbar. »Der uralte König hat euch viele Jahre beschützt, nun aber ist seine Aufgabe erfüllt. Seine Überreste wurden befreit, auf dass sie im Meer, seinem Vater, ewige Ruhe finden, sein Geist aber bleibt bei mir.« Er streckte den Arm aus, woraufhin der größte der Raben aus der Luft herabkreiste und sich darauf niederließ.

»Seht. Die Raben erkennen mein Recht an! Nun bin ich es, der Brannos sein wird; ich übernehme seine Pflicht. Bis ans Ende meines Lebens und darüber hinaus werde ich euer Beschützer sein!«

»Ihr seid nur ein Mensch, und eines Tages werden Eure Gebeine zu Staub verfallen!«, ertönte eine heisere Stimme aus der Menge.

Artor wandte sich um, woraufhin die Menge verstummte. »Belasst diesen Ort als Heiligtum, als Zuflucht für die Raben, denn ich sage Euch, solange die Raben auf diesem Hügel weilen, wird mein Geist über Britannien wachen!«

»Artor Brannos!«, erscholl ein Ruf. »Artor der Gesegnete! Artor! Artor!«, stimmte die Menge mit ein.

Mittlerweile drängten die Leute sich um Artor und erbaten seinen Segen, die Berührung seiner Hand. Oesc beobachtete die Szene mit Verwunderung und Mitleid im Herzen. Sein Gelübde, das er am Schrein abgelegt hatte, galt nur für die Dauer eines Lebens. Er hatte das Gefühl, dass dieses spontan verkündete Versprechen des Königs eine weit größere Verpflichtung darstellte als jeder Eid, den Artor anlässlich seiner Krönung geleistet haben mochte.

Letztlich löste die Menge sich auf, und der König konnte in den Palast zurückkehren. Die Raben flogen zurück zu den Eichen, aber es dauerte lange, ehe jener fremde Blick aus Artors Augen wich.

»Es war nur ein Schädel«, meinte Gai ausgesprochen kleinlaut, als sie durch die Tore schritten. »Und Brannos war nur eine Legende.«

Oesc nickte. Das mochte durchaus stimmen, doch der Augenblick, in dem der Schädel – wem auch immer er gehört hatte – zu sehen war, hatte ihm gereicht, um zu erkennen, dass er größer war als der eines gewöhnlichen Menschen.