III

Heilige Erde

A.D. 475

 

Jeden Herbst, wenn die Zeit der Feldzüge endete und die Ernte eingebracht wurde, pflegte Hengest durch das Gebiet zu reisen, das der Vor-Tigernus ihm überlassen hatte. Zu jener Jahreszeit, in der die Streitigkeiten des Sommers noch frisch im Gedächtnis hafteten, hörte der König sich Klagen an und verkündete Urteile, um zu vermeiden, dass in den dunklen Tagen des Winters Unzufriedenheit schwelte und sich in blutigen Sippenfehden entlud, die den Frieden des Landes störten. Im zweiten Jahr nach Verulamium nahm Hengest seinen Enkel Oesc mit auf die Reise, auf dass er das Land und dessen Gesetze kennen lernte.

In jenem Herbst setzten die ersten Winterstürme früh ein und durchtränkten die Stoppelfelder. Darauf aber folgte eine frohe Zeit des Friedens, und der König und seine Begleiter ritten durch eine prächtige Herbstlandschaft. Das satte Bernsteinfarben der Blätter wetteiferte mit dem leuchtenden Purpur der Ebereschen und Stechpalmen, und die vielfältigsten Rot-Töne der Weinranken rundeten das Bild.

Zunächst führte sie ihr Weg nach Süden an die Küste, wo die römische Festung Lemanis immer noch die sächsischen Ufer beherrschte. Sie reisten in kurzen Abschnitten, denn mehr ließ das Alter des Königs nicht zu. Jeden Morgen, wenn er fluchend die steifen Glieder streckte, meinte er, dass er Oesc die Reise im nächsten Jahr auf jeden Fall allein machen lassen würde. Bis zum Abend hin jedoch lächelte er stets wieder, und der kalte Knoten der Anspannung in Oescs Bauch löste sich.

Von Lemanis zogen sie entlang der Küste den Weg zurück gen Norden und Osten nach Dubrae, wo die hohen Kalkstein-Klippen über die See blickten. Ihr nächster Halt erfolgte in Rutupiae, wo Vortimer, der Sohn des Vor-Tigernus, Hengest einst aufs Meer hinausgetrieben hatte. Mittlerweile war die Festung verfallen; einzig der große Triumphbogen kündete noch vom vergangenen Ruhme Roms. Hier waren die fruchtbaren Länder nahe der Küste dicht besiedelt. Bei den Fällen, die dem Gericht vorgetragen wurden, handelte es sich überwiegend um Grenzstreitigkeiten oder Beschwerden wegen verirrten Viehs.

Abermals kamen sie durch Durovernum, dann reisten sie weiter gen Osten auf dem geraden Band der Römerstraße, die nach Londinium führte. Zu ihrer Linken stieg das Land in sanften Hängen zu den nördlichen Hügelländern hin an. Zahlreiche verfallene Villen und neue, sächsische Gehöfte prägten die Landschaft. Zu ihrer Rechten erstreckten sich die grünen Felder hinab zur Mündung des Tamesis, die im Sonnenlicht funkelte. Entlang der Straße standen die Häuser und Ruinen am dichtesten, und als sie sich Durobrivae näherten, jener römischen Stadt, welche die Furt über den Fluss Meduwege und die westliche Hälfte von Cantuware hütete, war das Land noch stärker besiedelt.

 

»Die Briten haben einen Hochkönig!« Schwitzend und mit hochrotem Gesicht, brüllte Hrofe Guthereson die Worte, noch ehe er seinen König begrüßte. Er war ihnen mit seiner berittenen Wache entgegengeeilt, um sie in die Stadt zu geleiten, aber seine Neuigkeiten ließen die gesamte Reisegesellschaft mitten auf der Straße innehalten.

»Wen?«, herrschte Hengest ihn an. »Hat Leudonus die Fürsten im Süden letztlich dazu gebracht, ihn anzuerkennen?«

»Nein.« Mit funkelnden Augen schüttelte Hrofe den Kopf. »Es ist ein fünfzehn Jahre alter Knabe! Uther hatte einen Sohn!«

Fünfzehn!, dachte Oesc. Er ist so alt wie ich… Es erschien ihm seltsam, zu erfahren, dass die Schlacht, in der er den Vater verlor, einem anderen Jungen ein ebensolches Schicksal beschert hatte.

»Einen rechtmäßigen Sohn?«, wollte Byrhtwold wissen.

Hrofe zuckte die Schultern. »Das ist noch unklar, aber Königin Igraine behauptet, er sei ihr vom König empfangenes Kind.«

»Ich besinne mich, Gerede über einen Säugling gehört zu haben«, brummte Hengest stirnrunzelnd. »Aber ich dachte, er wäre gestorben…« Langsam setzten sie sich wieder in Bewegung.

»Es heißt, er wäre aus Sicherheitsgründen in den Westen geschickt worden, und zwar so heimlich, dass selbst die Familie, die ihn aufzog, nicht wusste, wer er war.«

Hengest lächelte bitter. »Nun, vermutlich hatten sie ihre Gründe. Wenn man eine Bärenfamilie loswerden will, greift man am besten ihre Höhle an.«

»Tja, der Knabe ist fürwahr ein Bärenjunges«, meinte Hrofe. »Arktos ist sein Name oder Artor.«

Artor… In Oescs Ohren hallte der Name wider wie das Klirren von Stahl.

»Und man hat ihn auf das Wort der Königin hin anerkannt?«, fragte Hengest zweifelnd. »Ich kenne die britischen Fürsten; die würden kaum übereinkommen, dass die Sonne im Westen untergeht, ehe sie nicht neun Tage darüber gestritten haben.«

Mittlerweile näherten sie sich den Mauern der Stadt.

»Es war nicht das Wort der Königin, das sie überzeugt hat«, bestätigte Hrofe Hengests Zweifel und gab sich dabei wie jemand, der das Beste für den Schluss aufgehoben hat. »Der Grund war, dass der Junge das Schwert zu beherrschen vermochte!«

Das Schwert, das Octha getötet hat… Oescs betroffener Blick traf jenen seines Großvaters, und er sah, wie Hengests Züge sich verfinsterten.

»Ich hatte gehofft, Uther hätte diese verfluchte Waffe mit ins Grab genommen.«

»O nein…« Schmerzend fröhlich plapperte Hrofe unaufhörlich weiter.

Oesc konnte es nicht länger ertragen; er grub die Fersen in die Flanken der Stute und drängte sich am König vorbei durch den schattigen Bogen des Osttores hinein nach Durobrivae.

 

Im Schatten eines Baldachins hielt Hengest auf dem Marktplatz fünf lange Tage Gericht. Oesc saß unruhig neben ihm, lauschte halbherzig den Streitfällen und träumte stattdessen von den Jagden, die er versäumte, während das schöne Wetter andauerte. Auch sein anderer Großvater hatte stets viel Zeit damit zugebracht, Menschen zuzuhören, die sich über andere beschwerten. Warum, fragte er sich verärgert, sollte jemand König sein wollen? Doch wahrscheinlich mussten sogar die Gutsherren Streitigkeiten unter ihren Leuten schlichten. Die Menschen, über die der König richtete, waren lediglich mächtiger, das war alles.

»Und wie würdest du in diesem Fall entscheiden, Oesc?«, fragte Hengest ihn plötzlich.

Blinzelnd versuchte der Junge, sich zu erinnern, was der Mann vor ihnen gerade gesagt hatte. Er war ein großer, hellhaariger Bursche, in dessen Stirn und um dessen Mund sich die Furchen beständig schlechter Laune gegraben hatten.

»Er behauptet«, wiederholte der König, »sein Nachbar habe absichtlich seinen Feuerholzwald niedergebrannt und um ein Haar auch sein Haus vernichtet.«

»So ist es nicht!«, rief der Beschuldigte mit finsterer Miene aus. »Ich wollte nur die Stoppeln von meinen Feldern brennen!«

»Aber du hast meinen Wald niedergefackelt!«

»Ist es denn meine Schuld, wenn Thunor den Wind dreht? Gib doch den Göttern die Schuld, nicht mir!«

Oesc schaute skeptisch von einem zum anderen, während er versuchte, sich des Gesetzes zu besinnen. »War es ein großer Wald? «, erkundigte er sich schließlich. Hengest begann zu lächeln, und der Junge fuhr selbstsicherer fort. »Standen darin viele große Bäume?«

»Ein ausgesprochen feiner Wald«, erklärte der Kläger, »mit wunderschönen Eichen!«

»Stimmt nicht! Stimmt nicht! Es gab einen großen Baum und ringsum nichts als Haselsträucher!« Der Beschuldigte deutete auf einen älteren Mann in der ersten Reihe der Menge. »Sag’s ihnen! Du kennst den Ort. Sag ihnen, was dort war!«

Oesc erhob sich, mittlerweile hatte er sich an die entsprechende Tradition erinnert. Er warf einen flüchtigen Blick auf seinen Großvater, der ihm ermutigend zunickte, dann hob er die Hand und wartete, bis Ruhe einkehrte.

»Es ist das Gesetz unseres Volkes, dass für Taten, nicht für Gedanken Wiedergutmachung zu leisten ist. Es spielt keine Rolle, weshalb du das Feuer entfacht hast«, erklärte er dem angeklagten Mann. »Wenn du so leichtsinnig warst, deine Stoppeln an einem windigen Tag zu verbrennen und dadurch dem Eigentum eines anderen Schaden zugefügt hast, dann musst du dafür bezahlen. Die Strafe für Schaden an einem Wald beträgt dreißig Shilling, zudem fünf Shilling für jeden großen Baum und fünf Pence für jeden kleineren.«

»Wenn es um die Bäume des Waldes geht, steht mein Wort gegen das seine…«, brummte der Mann mürrisch.

»Dein Wort und das deiner Zeugen«, pflichtete der Junge ihm bei. »Jeder von euch soll die auswählen, die bereit sind, eure Behauptungen unter Eid zu bestätigen, danach wird die Strafe gemäß der Entscheidung eurer Gefährten festgelegt.«

»Das ist ungerecht!«, rief der Kläger, die Menschen in der Menge aber nickten und murmelten. Das Streben des hellhaarigen Mannes nach Genugtuung hatte ihm eindeutig nicht das Wohlwollen seiner Nachbarn eingebracht, denn nur zwei Männer kamen ihm zu Hilfe, wohingegen der Beklagte unter etwa einem Dutzend wählen konnte.

»Habe ich es richtig gemacht?«, wollte Oesc wissen, nachdem die Eide geleistet und die Strafe bezahlt waren.

»Du hast es sehr gut gemacht«, antwortete der König. »Dieser Mann ist ein Unruhestifter, den ich schon früher vor Gericht hatte. Ein vernünftigerer Mensch hätte die Angelegenheit wohl mit seinem Nachbarn unter sich geregelt, ohne uns damit zu behelligen. Aber er bekommt nun seine Vergütung und fühlt sich hoffentlich nicht genötigt, weitere Gerechtigkeit zu erlangen, indem er das Haus des anderen Mannes anzündet.«

»Ich weiß, es ist Gesetz, dass der verantwortlich gemacht wird, der ein Feuer entfacht. Trotzdem erscheint es ungerecht, wenn er dabei nichts Böses im Sinn hatte«, meinte Oesc nachdenklich.

»Glaubst du, unsere Gesetze wurden um der Gerechtigkeit willen geschaffen? Nein, mein Sohn, ich bin schon zufrieden, wenn meine Entscheidungen unsere heißblütigen Stammesleute davon abhalten, einander umzubringen. Das Schicksal beschert jedem Mann das Los, das er verdient, nicht ich.«

Oesc war froh, als sie Durobrivae verließen und weiterreisten. Nun zogen sie südwärts die baumbewachsenen Hänge hinauf, dort wo das Tal des Flusses Meduwege sich durch die nördlichen Hügelländer zog. Von Zeit zu Zeit teilten sich die Bäume und gaben den Blick auf den Fluss darunter frei, der die Wasser aus dem Forst führte, jenem riesigen Wald, welcher den Mittelteil Cantuwares bedeckte.

Als der Tag zu Ende ging, führte sie die Straße in das Tal hinunter, und Oesc erblickte die rotgedeckten Dächer einer Gruppe römischer Gebäude, die auf einer rundlichen Kuppe standen, und dahinter, inmitten der Weiden am Fluss, das Rieddach eines sächsischen Gehöfts. Als sie näher kamen, erkannte er die Bauwerke auf der Kuppe als Tempel und dass der Hof auf den Grundmauern eines römischen Landhauses errichtet worden war. Hier verbreiterte sich der Meduwege und verlief glucksend über die Steine einer Furt.

»Wer wohnt hier?«, fragte er, als sie in den Hof geritten waren.

»Ein Angel namens Aegele, der mit einem der ersten drei Schiffe kam, die mit mir das Meer überquerten. Bei der Schlacht von Rutupiae verlor er ein Bein, und ich habe ihn hier angesiedelt«, erwiderte sein Großvater.

»Und wer lebt dort oben?« Oesc deutete auf ein kleines, rechteckiges Gebäude mit Spitzgiebel und einer überdachten Veranda an allen vier Seiten. Einige Schindeln waren lose, und an manchen Stellen blätterte der weiße Putz von den Steinwänden ab, aber erst kürzlich hatte jemand den Pfad geharkt.

»Ah – das ist der andere Grund, weshalb wir hier Halt machen. Ich bin nicht der Einzige, der an diesem Ort einen Freund finden wird.«

Erst am nächsten Morgen, als sie gemeinsam den Tempelhügel erklommen, sollte Oesc herausfinden, was Hengest damit gemeint hatte.

Sie hörte die beiden den Pfad heraufkommen: die Schritte des alten Mannes schwer und zögernd auf dem Schotter und die Schritte des Jungen leicht und flink. Seine hellen, stürmischen Fragen verstummten jäh, als sie im Schatten des Vordachs innehielten. Ein Luftstoß ließ die Flammen der Lampen aufflackern, und die geschnitzten Augen der hölzernen Gestalten auf dem Altar wirkten mit einem Mal belebt, und ihre Schatten an der Wand wurden länger. Der Knabe blieb in der Tür stehen. Sie schob das Kopftuch zurück und lächelte, und nachdem seine Augen sich an die Düsternis gewöhnt hatten, sah er sie dort sitzen.

»Haedwig!« Die Freude in seinem Gesicht war wie ein weiteres Licht im Raum. »Wie kommst du denn hierher?«

»Wo die Götter sind, da bin auch ich.« Sie wies auf die Bank, die entlang der Wand stand, und der Junge setzte sich. Hengest ließ sich auf der gegenüberliegenden Bank nieder, verharrte mit den von dicken Venen durchzogenen Händen auf dem Griff seines Stocks und beobachtete die beiden. »Ich bin hin und her gereist, habe die heiligen Orte dieses Landes aufgesucht.«

Daran erinnert, wo sie sich befanden, wanderten Oescs Augen unsicher durch die kleine Kammer. Er ist groß geworden, seit ich ihn zuletzt gesehen habe, dachte Haedwig. Mit seinen fünfzehn Jahren wirkte er langgliedrig wie ein Fohlen, die knochigen Schultern aber ließen schon künftige Stärke ahnen, und Charakter zeichnete die Kieferpartie, wo sich der erste Flaum des jungen Mannes zeigte.

»Und wem hat man hier gehuldigt?«

»Das sind die Abbilder der Gottheiten.« Sie deutete auf den Altar.

Das flache hüfthohe Heiligtum, dessen Ränder gerundet und mit Rillen verziert waren, bildete den Baldachin für ein Flachrelief, das eine sitzende Göttin in einem weitärmeligen, in Falten fallenden Gewand und drei stehende Gestalten in Mänteln mit Kapuzen zeigte. Die Göttin hielt etwas in der Hand, womöglich eine Spindel. Unter den Figuren war eine lateinische Inschrift gewesen, doch der Stein war zu verwittert, um die Worte noch zu entziffern.

»Aber wer ist das?«, hakte er nach.

»Auf jeden Fall keine römischen Götter, obwohl sie auf römische Weise dargestellt sind«, antwortete Haedwig bedächtig. »Dies ist ein alter Ort; hier kreuzt der Pfad, der entlang der Hügelländer verläuft, den Fluss. Es gab diesen Ort schon, ehe die Römer, vielleicht sogar ehe die Briten kamen. Ich habe schon einmal die ganze Nacht draußen auf einem Erdwall neben dem Pfad gesessen und jenen gelauscht, deren Gebeine hier begraben liegen.«

Sie schauderte leicht, als sie sich an die Stimmen in der windgepeitschten Dunkelheit erinnerte. Weil ihr Knie nach jener nächtlichen Sitzung steif geworden war, humpelte sie immer noch, doch sie bereute es nicht. Die Römer, vermutete sie, hatten sich nie die Mühe gemacht zu lauschen, sondern die einheimischen Gottheiten einfach mit ihren eigenen Namen bedacht, sie in neue Tempel verbannt und den alten Mächten des Hügels keinerlei Beachtung geschenkt. Sie glaubte, es hatte die uralten Götter gefreut, dass ihnen endlich wieder jemand Aufmerksamkeit gewährte.

»Warum?«

»Um etwas über die Geister dieses Landes zu lernen, damit wir sie ehren und ihren Segen erlangen können. Ich habe an dem Erdwall ein Opfer zurückgelassen, ehe ich ihn verließ. Auch du musst etwas zurücklassen, wenn du im Forst jagen gehst.«

Oesc ergriff eine der Lampen aus einer Nische, hockte sich nieder und hielt die Flamme dicht an das Relief, um besser zu sehen.

»Glaubst du, die Frau könnte Frige sein, und die Götter mit den Kapuzen Woden, Willa und Weoh?«

»Nach und nach ersetzt in diesem Land unsere Sprache die der Römer. Ich glaube kaum, dass es die Götter stört, wenn wir ihnen unsere Namen geben«, erwiderte Haedwig und hörte in ihrem Kopf ein leises, billigendes Lachen.

Schweig still, Alter, forderte sie den Gott auf. Mir scheint, du besitzt ohnehin schon zu viele Namen! Lechzt du nach weiteren?

»Aber sind sie das auch wirklich?«

Haedwig schüttelte den Kopf. »Kind, es gibt keinen Namen, den die Zunge eines Menschen aussprechen könnte und der alles bezeichnet. An vielen Orten nennen die Briten ihre Herrin Brigantia. Was mit dem anderen ist, weiß ich nicht. Vielleicht genügen den Göttern die Namen, die wir ihnen geben. Sagen wir einfach, dass es die sind, die sie hier für uns tragen.«

»Ich habe den Jungen hergebracht«, meldete Hengest sich zu Wort, »damit wir unsere Gaben überreichen können.«

Die weise Frau nickte und erhob sich. Sie ergriff die zweite Lampe, ging um den Altar herum und hielt das Licht hoch. Der Schein schimmerte warm auf den verwitterten, grauen Steinen des Brunnenrandes und glitzerte auf dem Wasser darin. Da dieser Ort von Steinmauern umgeben war, wirkte er gänzlich anders als der Teich in den Sümpfen der Myrging-Länder, und doch war die Macht des Wassers beinahe dieselbe.

»Der Schrein wurde um diese Quelle herum errichtet. Aus ihr sprudeln die Wasser, die den Fluss nähren, sie kommen vom Forst und aus den Hügelländern. Sie bergen das Lebensblut der Herrin dieses Landes.«

Mittlerweile hatte auch Hengest sich erhoben. Nun holte er aus seiner Gürtelbörse drei goldene Münzen hervor, die das abgegriffene Bildnis eines längst verstorbenen Kaisers zeigten. Behutsam beugte er sich über den Brunnen.

»Göttin… Frige…«, sprach er mit leiser Stimme. »Ich habe dieses Land mit dem Schwert erobert. Aber die Menschen, die ich hergebracht habe, um hier zu leben, werden es in Liebe und Gerechtigkeit hüten und bestellen. Mein ganzes Leben lang war ich ein Mann des Blutes, nun aber habe ich keine Kraft mehr, den Menschen meinen Willen aufzuzwingen. Lass dieses Land mein Volk ernähren…« Seine Stimme zitterte. »Und lass es mich in Frieden dem Sohn meines Sohnes hinterlassen.«

Während er sprach, erfüllte eine unbestimmte Schwere die Luft im Tempel, als wäre etwas Uraltes und Mächtiges erwacht. Dann platschten die Münzen ins Wasser, und die Spannung zerriss.

Es dauerte eine Weile, ehe der König sich aufrichtete. Schließlich setzte er sich wieder. Seine alten Augen wanderten von Haedwig zu dem Jungen.

Die weise Frau spürte einen Anflug von Mitleid für diesen greisen Krieger, den nunmehr die Kraft verließ; der seine Gefährten überdauert hatte und nun, am Ende seines Lebens, in einem neuen Land nach Rechtfertigung für seine Taten suchte. Kurz wanderte ihre Erinnerung zurück zu Oescs anderem Großvater, Eadguth dem Myrging-König, der seinem Land so verbunden gewesen war, dass er, gleich einer alten Eiche, nicht aus seiner Heimaterde entwurzelt werden konnte.

»Nun ist der Erbe an der Reihe, sein Gelübde abzulegen und seine Opfergabe zu entrichten«, sprach sie laut.

Oesc stellte die Lampe, die er gehalten hatte, auf den Rand des Brunnens, kniete sich daneben und starrte in das Wasser. Die Strömung, die bedächtig aus den Tiefen heraufwallte, brach den Widerschein in einen Goldregen, als brächten Hengests Münzen bereits reichen Lohn.

Zögernd löste er die Silberbrosche, die seinen Umhang zusammenhielt, das einzig Wertvolle, das er bei sich trug. Abermals veränderte sich die Stimmung; diesmal erfüllte sie sich mit einer Art klingender Spannung, die Haedwig die Nackenhaare aufrichtete. Auch Oesc spürte es. Er warf ihr einen beunruhigten Blick zu, ehe er sich wieder dem Brunnen zuwandte.

»Herrin der Quelle, dies ist für dich.« Beim letzten Wort kippte seine Stimme; Oesc schluckte, errötete und warf rasch die Brosche in den Brunnen. »Lass mich des Vertrauens meines Großvaters würdig werden. Ich biete dir meinen Leib und meine Seele, wenn du mir dieses Land als Heimat für meine Kinder und mein Volk überlässt. Und bitte, Herrin, lass mich eines Tages deinen wahren Namen erfahren!«

Die Spannung steigerte sich zu einem hörbaren Summen, das an Grillen an einem Sommertag erinnerte, obschon die Blätter sich bereits verfärbten und die Luft draußen die klare Kühle des Herbstes trug. Das Summen wurde lauter, bis es beinahe schmerzte, dann verebbte es langsam und ließ einen allumfassenden Frieden und die Gewissheit zurück, das alles gut werden würde.

 

Von Aegeles Furt wand die Straße sich südwärts durch den Forst und wurde zu einem Trampelpfad, als sie sich der Südküste näherte. Dort, nahe den alten römischen Eisenwerken, wo sich ein sanfter Hügelkamm zum Meer hinunter senkte, hatte der Jute Haesta seine Sippe angesiedelt. Drunten an der Küste bot die Seefestung Anderida einen sicheren Hafen; bei gutem Wind und mit einem Steuermann, der die Untiefen entlang der Küste kannte, konnten sie in höchstens einem Tag mit dem Boot nach Lemanis zurückkehren. Haestas Gehöft, dessen üppige Felder sanft zum Meer hin abfielen, befand sich an der Grenze zwischen den Ländern zweier Herrscher. Im Osten galt Aelle schon beinahe so lange als Herr seiner Sachsen, wie Hengest Cantuware hielt, wenngleich er um dreißig Jahre jünger war.

Haesta war selbst zur Küste herabgekommen, um seine Gäste an der Landestelle willkommen zu heißen. Als sie sich seiner Halle näherten, traten weitere Männer ins Freie: ein stämmiger, muskelbepackter Mann mit grauem Haar, der die Königskette trug, von dem sie sagten, dass er Aelle sei, und hinter ihm ein großer, junger Mann mit rotem Haar. Das Kind, das Letzterer auf den Schultern trug, starrte die Neuankömmlinge mit leuchtenden, forschenden Augen an.

»Wie ich sehe, hat er Ceredic mitgebracht«, meinte Byrhtwold. »Und das muss Ceredics kleiner Sohn sein. Das ist ein Mann, den es im Auge zu behalten gilt, Junge. Wenn er nur halb so gut kämpft, wie er redet, wird auch er eines nahen Tages ein König werden.«

Oesc nickte und begriff, dass dies einer der Männer war, mit denen er sich – in Freundschaft oder auch nicht – würde auseinandersetzen müssen, sobald seine Stunde als Herrscher schlug. Hengests Versuch, die Herrschaft über alle Menschen zu erlangen, die aus Germanien gekommen waren, war fehlgeschlagen, und Aelle schien mit seinem Gebiet entlang der Küste zufrieden zu sein. Sächsische Siedlungen gab es in großer Zahl, aber sie lagen weit verstreut, und jede hatte ihren eigenen Häuptling – dort lebten Menschen, die sich nie dem Joch Roms unterworfen hatten und erst recht keinen Grund sahen, sich vor einem der ihren zu verbeugen.

Octha hätte vielleicht vermocht, sie zu einen, dachte Oesc voller Ingrimm, wäre das Glück in der Schlacht ihm weiter hold gewesen. Doch nein, nicht das Glück hatte ihm ein Bein gestellt, sondern die Magie von Uthers Schwert. Ich könnte es vollbringen, dachte er, und wenn ich es tue, wird Artor mein Gegner. Dann stiegen sie ab, und Haesta führte sie in den freundlichen Schutz seiner Halle; dort roch es nach würzigen Speisen und beißendem Holzrauch.

In jener Nacht trieben frische Wolken von der See heran. Drei Tage verbannten Regen und Schneeregen die Sachsen in die Halle. Keiner jedoch nahm Anstoß daran. Haesta hatte gut auf das Fest vorbereiten und wochenlang brauen lassen, und so lange die Bierfässer nicht eintrockneten, würde sich niemand beschweren.

In einer Pause zwischen den Besprechungen saß Oesc neben dem langen Kamin und schnitzte Holzstücke in grobe Pferdegestalten und Zweige zu Reitern. Sobald eine Figur fertig war, reichte er sie dem Kind neben sich. Ceawlin hieß der Knabe mit dem roten Haar seines Vaters, ein Vermächtnis des britischen Großvaters, der Ceredic den Namen gegeben hatte.

»Das ist eine mächtige Armee«, meinte Ceredic und schaute zu seinem Sohn hinab. Ceawlin nickte, ergriff den Reiter, den Oesc soeben vollendet hatte und stellte ihn zu den anderen in die Reihe.

»Die mit der Rinde sind Römer, wegen der Rüstungen, und die geschälten sind Sachsen«, erklärte das Kind. Einige der Figuren fielen um, und Ceawlin stellte sie wieder auf.

»Wie ich sehe, stellst du die unberittenen Krieger in Keilformation auf«, bemerkte Ceredic.

»Das hat er mir gezeigt«, erwiderte Ceawlin und deutete auf Oesc.

»Mein Vater wählte diese Formation bei Verulamium.« Oesc schluckte, und sein Magen verkrampfte sich, als er an jenen Tag zurückdachte.

»Ach ja.« Ceredic löste die Aufmerksamkeit von dem Kind. »Wie ich höre, warst du bei der Schlacht zugegen.«

Oesc lief rot an. »Gegen den Befehl meines Vaters«, sagte er mit einem raschen Blick auf Ceawlin. »Aber ich habe seinen Kopf in Sicherheit gebracht, damit die Briten ihn nicht entehren konnten. Ich habe geschworen, ihn eines Tages zu rächen.«

»Vielleicht ziehen wir gemeinsam in die Schlacht. Vorerst jedoch zähle ich zu Aelles Gefolge, aber mein Vater herrscht in Venta, und er hat sich damals geweigert, Ambrosius anzuerkennen. Gewiss wird er sich nicht vor jenem Kind verneigen, das die Briten ihren Hochkönig nennen!«

»Du bist Brite?« Oesc starrte ihn an. Aber natürlich muss es so sein, dachte er, während er die milchige Keltenhaut und das helle Haar betrachtete.

»Mein Vater ist Brite.« Ceredics Lippen verzogen sich zu einem bittersüßen Lächeln. »Maglos hat meine Mutter zur zweiten Frau genommen, als er sich mit Aelle verbündete. Ich lernte beide Sprachen gleichermaßen, als ich aufwuchs. Mein Vater mag die Sachsen, weil sie tapfere Kämpfer sind, und wenn dieser neue Hochkönig versucht, die Länder um Venta zurückzuerobern, wird Maglos mehr Männer brauchen, um sie zu verteidigen. Deshalb schickte er mich zu Aelle.«

»Und hat Aelle genug Männer?«

»Nicht genug, daher dieses Treffen. Das Volk deines Großvaters hält Cantuware mittlerweile so lange, dass es dort ein paar jüngere Söhne gibt, die neue Besitztümer brauchen. Mein Vater hätte keinerlei Einwände, kämen sie auf die Insel Venta. Aber ich muss weitere Männer aus Germanien holen, um das Gebiet rings um Clausentum entlang der Mündung des Icene zu besiedeln. Von dort aus kann ich mir nordwärts einen Weg ins Herz Britanniens bahnen. Maglos glaubt, er könnte das Land mit Hilfe sächsischer Siedler verteidigen und es immer noch als britisch bezeichnen. Aber wenn ich über Venta herrsche, kann ich nach Norden ins Kernland der Briten vorstoßen!«

Während Oesc ihm lauschte, begriff er, wie es für Hengest und Horsa gewesen sein musste, als sie jung waren. Doch in Cantuwaraburh waren die Narben des Krieges geheilt und die verbrannten Häuser zu Baumaterial verwertet oder der Erde überlassen worden. Die dort verbliebenen Briten waren dankbar für den Schutz ihrer neuen Herren, und die Sachsen verwuchsen immer mehr mit ihrem neuen Land.

»Und was ist mit dir?«, fragte Ceredic, als hätte Oesc laut gedacht. »Wirst auch du gen Westen drängen? Du bist jung und musst dir erst einen Namen machen. Hegst du keine Absichten, Londinium einzunehmen?«

»Londinium und die britischen Länder ringsum trennen uns von den Angeln im Sumpfland, so wie Lindum sie vom Norden trennt. Wir wären stärker, wenn wir die Stadt einnehmen könnten«, entgegnete Oesc nachdenklich. »Aber sie war bedeutsamer, als es noch Handel mit dem Kaiserreich gab. An sich ist sie längst nicht mehr so nützlich.«

»Dann umgeh sie doch. Wenn ich nach Norden dränge und du nach Westen, können unsere Heere sich vereinigen, und wer sollte uns dann noch aufhalten?« Lachend warf er den Kopf zurück. Im flackernden Licht wirkte sein Haar so rot wie das Feuer.

»Welche Heere? Bist du Woden, dass du diesen Stöcken, mit denen dein Sohn spielt, Leben einzuhauchen und sie in Männer zu verwandeln vermagst? Lass uns warten, bis die Saat gepflanzt ist, ehe wir den Baum verkaufen!«, rief Oesc aus. »Wenn du deine Krieger aus Sachsen geholt hast und ich die Männer von Cantuware befehlige, können wir ja wieder darüber reden.«

»So ist es. So wird es sein.« Kopfschüttelnd hockte Ceredic sich nieder und half seinem Sohn, die verstreuten Figuren einzusammeln. »Meine Träume waren der Wirklichkeit schon immer einen Schritt voraus. Dennoch wird es geschehen. Unter den Sachsen gilt ein zweites Eheweib als gleichwertig, und meine Mutter stieg aus freien Stücken in Maglos’ Bett. Aber die christlichen Priester nennen sie eine sächsische Hure und mich einen Bastard. Ich musste um jedes Stückchen Essen und um jedes zustimmende Nicken kämpfen, doch die Söhne der christlichen Frau meines Vaters fielen im Kampf, während ich überlebte und mir eine Frau aus dem Volk meiner Mutter suchte. Maglos hat keine andere Wahl mehr, als darauf zu vertrauen, dass ich und meine sächsische Verwandtschaft ihn verteidigen. Ich habe bereits zu viel erreicht, um noch an meinem Schicksal als Eroberer zu zweifeln.«

Oesc glaubte ihm. Ceredic versprühte Ehrgeiz wie ein Ofen Wärme. Und was ist mein Schicksal?, fragte er sich. Doch noch während er den Gedanken zu Ende führte, flammte in ihm die Erinnerung an Lampenschein auf dunklem Wasser und einen Windstoß auf.

Mein Schicksal ist es, ein König zu sein…

 

Haedwig tauchte den Löffel in die Brühe, kostete sie und beschloss, noch ein wenig mehr Wasserhanfwurzeln und Malvensaft hinzuzufügen; das Gebräu war noch zu bitter, und der König würde sich weigern, es zu trinken. Während sie die Zutaten hinein träufelte, beugte sie sich über den Kessel und flüsterte:

 

»Wasserhanf, Wasserhanf, wundersamstes der Kräuter

du besitzt Macht gegen große und kleine Gebrechen,

gegen Gift und alle Entzündung,

gegen den bösen Feind, der durch die Lande streift…«

 

Vor ihrem geistigen Auge sah sie die Pflanze, von der die Wurzel stammte, die breiten Blätter mit Dornen gespickt, die fahlen, rosa Blüten Glocken gleich, die in der Brise schwangen. Manchmal nannte man die Pflanze auch Beinwell, doch sie besaß auch gewaltige Heilkraft bei inneren Krankheiten. Die Malve würde das Gebräu lindern und ihm den bitteren Geschmack nehmen.

Hengest war nie und nimmer bereit zuzugeben, dass er krank war, obschon der Husten, den er von seinem Besuch in Haestas Halle mit nach Hause gebracht hatte, den ganzen Winter angehalten hatte und sein Leib inzwischen ausgemergelt wirkte wie die über den Stöcken hängende Pferdehaut am Opferteich. Ihre aufwendigeren Heilverfahren waren wirkungslos, solange der Kranke sich einzugestehen weigerte, dass er ihrer bedurfte. So blieb ihr nur, sein Essen und Trinken so unauffällig wie möglich mit Heilkräften zu versehen und ihre Zaubersprüche über den Kesseln zu singen, während sie den Sud zubereitete.

Eadguth hatte sich im Greisenalter ziemlich ähnlich verhalten. Wieso, fragte sie sich, habe ich so viel Zeit meines Lebens damit verbracht, alte Männer zu umhegen? Doch der Gott, dem sie diente, zeigte sich häufig in der Maske greiser Männer, folglich war es vielleicht doch nicht so überraschend.

Und als Ausgleich für den alten Mann hatte sie Oesc, wenngleich der Junge dieser Tage die meiste Zeit draußen verbrachte, jagte, die Gegend erforschte oder sogar den Bauern bei der anfallenden Arbeit half. Nach seinem Gelübde an der heiligen Quelle war dies wohl unvermeidlich, vermutete sie. Die Göttin des Landes sprach aus jedem Baum, jedem Hügel zu ihm, und im Laufe der Zeit würde er lernen, sie zu verstehen.

Oesc suchte die weise Frau gelegentlich auf, um sie um Salben für schmerzende Muskeln zu bitten, manchmal auch darum, eine Wunde zu verbinden. Alles in allem jedoch war er ein gesunder junger Mann, wofür Haedwig den Göttern dankte.

Noch einmal rührte sie die Brühe um, dann schöpfte sie das Gebräu behutsam in eine geschnitzte Hainbuchenschüssel, deren Oberfläche eine dicke, im Lauf der Zeit angesammelte Patina geglättet hatte, und trug es über den Hof in die Halle. In den Jahren, seit Hengest sie zwischen zwei gut erhaltenen römischen Gebäuden errichtet hatte, waren an der Westseite Bäume gewachsen, die den Bau gegen das unkrautüberwucherte Ödland abschirmten. Die halb verbrannten Hütten, die dort gestanden hatten, waren inzwischen niedergerissen worden, um Baumaterial zu gewinnen. Es war nun ein friedlicher Ort. Das Sonnenlicht des Nachmittags schien durch die Äste; es schimmerte auf den jungen Blättern und malte ein Schattenmuster auf den Pfad.

Als sie den Pfad überquerte, fügten sich einige Schatten zu einer menschlichen Gestalt, zu einem hageren, in einen Mantel gehüllten Mann, der sich auf einen Stock stützte. Haedwig hielt inne; ihre Augen verengten sich zu Schlitzen. Höchster, dachte sie stumm, bist du es?

Als hätte er die Berührung ihres Geistes gespürt, richtete der Fremde sich auf und drehte sich ins Licht. Die weise Frau bemerkte die dunklen Augen unter den buschigen Brauen, den braunen Bart, durch den sich nur wenige silbrige Strähnen zogen, und sie stieß in einem langen Seufzer den Atem aus. Es war nicht der Gott. Doch ebenso wenig, dachte sie, als andere Sinne der Ausstrahlung gewahr wurden, die ihn umgab, war er gänzlich ein Mensch. Und mit diesem Wissen vermeinte sie ihm einen Namen zuweisen zu können.

»Merlin Witega, Heil Euch! Seid willkommen in dieser Halle!«

Als er dieserart begrüßt wurde, weiteten sich seine Augen vor Staunen, und eine Spannung, die auf ihm zu lasten schien, verflog.

»Mögt auch Ihr gesegnet sein, weise Frau. Ich habe gehört, im Hause des Königs weile eine Kräuterkundige, und mich dünkt, dass Ihr es seid.«

In Anerkennung des Lobes neigte Haedwig das Haupt. Es war ihr wohl bewusst, dass er die Gabe besaß, die Ausstrahlung ihrer eigenen Macht trotz des alten Kopftuchs und der Schürze, die sie trug, wahrzunehmen.

»Dann kommt mit mir. Der König ist zwar krank, aber es geht ihm gut genug, um mit Euch zu sprechen. Vielleicht schämt er sich in Eurer Anwesenheit, gegen dieses Gebräu zu protestieren.«

Seine breiten Nasenflügel blähten sich, doch Haedwig hielt es für unwahrscheinlich, dass er von dort, wo er stand, den Duft wahrnehmen konnte. Dann erkundigte er sich, ob der Husten des Königs schon lange andauerte, und ihr wurde bewusst, dass er die Kräuter tatsächlich erkannt hatte.

»Wir waren nicht sicher, ob Hengest überhaupt noch lebt.« Seine tiefe Stimme schien aus der Tiefe seines Bauches herauf zu grollen. »Ich habe ihn gekannt, als ich ein Knabe am Hof des Vor-Tigernus war.«

»Er ist alt, aber sein Verstand ist noch scharf und ungetrübt«, beantwortete Haedwig seine unausgesprochene Frage.

Ein verstehendes Lächeln teilte den wallenden Bart. »Dann wird er sich an mich erinnern. Aber es wäre besser, wenn ich für alle anderen lediglich einen Boten verkörpere«, meinte er, und Haedwig, die daran dachte, dass Oesc immer noch Merlin die Schuld an dem Zauber gab, der den Tod seines Vaters herbeigeführt hatte, musste ihm beipflichten. Dann schob er die Tür auf, und sie betraten gemeinsam die Halle.

 

Er ist ein alter Mann, redete Merlin sich ein, während sie an leeren Essbänken vorbei den Weg zum Thron gingen. Er kann dir nichts mehr anhaben. Doch irgendwo in seinem Inneren lebte immer noch ein Kind, das sich Hengests als einer überragenden Macht entsann, die ihn mühelos zu zerquetschen vermochte. Der Mann vor ihm aber erinnerte nur noch durch den adlergleichen Blick an den einstigen Kriegsführer des Vor-Tigernus. Wer hätte gedacht, dass der schreckliche Hengest so alt werden würde?

»Ob es mir gut geht?«, wiederholte Hengest die Frage. »In meinem Alter genügt es, am Leben zu sein. Zweifellos erscheinst du selbst Artor als steinalt.« Verkniffen lächelte er. »Ich habe all meine Feinde und die meisten meiner Freunde überdauert. Trotzdem werde ich weiteratmen, bis mein Enkel alt genug ist, um zu herrschen. Uthers Sohn schmückt sich zwar bereits mit dem Titel König, aber waren es seine Berater oder er, die dich hergeschickt haben?«

»Seine Berater«, gestand Merlin. »Dennoch ist der Junge kein Schwächling. Zu gegebener Zeit wird er ein mächtiger Anführer sein, im Frieden wie im Krieg.«

»Ich hoffe doch, du bist nicht gekommen, um zu verkünden, dass Artor Cantium von mir zurückfordert. Selbst die Hitzköpfe seines Rates müssten wissen, dass wir in dieser Erde bereits zu tiefe Wurzeln geschlagen haben.«

»Ebenso wenig bin ich gekommen, um zu fragen, ob Ihr Euch Artors Jugend zunutze machen wollt, um Londinium anzugreifen«, entgegnete Merlin höflich. »Was mein König und sein Rat Euch anbieten, ist ein Vertrag, der Euren Besitz dieser Länder bestätigt, und zwar als Gegenleistung für Eure Unterstützung gegen jedweden sächsischen König, der versucht, seine Gebiete auszuweiten.«

Hengest brach in harsches Gelächter aus, trank einen Schluck von der Brühe, verzog das Gesicht und stellte die Schüssel wieder ab. »Warum kommst du deshalb zu mir? Ich bin nicht der Oberkönig der Sachsen. Glaubst du etwa, sie würden auf mich hören?«

Sie mögen dir zwar nicht gehorchen, alter Wolf, aber sie hören dir zu, dachte Merlin, als der greise Mann fortfuhr. Was verschweigst du mir?

»Solange ich lebe, werden die Krieger von Cantuware nicht gegen euch ins Feld ziehen. Für die anderen kann ich keine Gewähr geben, ebenso wenig dafür, was mein Enkel tun wird, nachdem er das Äl auf meinem Begräbnis getrunken hat.«

Er schaute auf, und ein wärmeres Licht kroch in die alten Augen, doch Merlin hatte die Veränderung in der Luft bereits bemerkt, als jemand von draußen hereintrat. Er war noch jung, an der Schwelle vom Knaben zum Mann. Er war hochgewachsen und hatte helles Haar. In seinem Blick spürte Merlin etwas Wachsames, als hätte er bereits gelernt, der Welt nie zu vertrauen.

»Was hoffentlich noch lange dauern wird«, sagte der Junge, Hengests Worte aufnehmend, und setzte sich zu Füßen des Greises.

»Das ist Oesc, Octhas Sohn«, erklärte der König. Merlin aber war bereits die Haltung der Schultern des Jungen aufgefallen, die Ähnlichkeit mit Hengest in der Stirn und Kieferpartie. »Er ist es, der sich mit Artor wird auseinandersetzen müssen, nicht ich.«

»Ja…« Von plötzlich anstürmenden Bildern überrascht, schloss Merlin die Augen – Artor und Oesc Seite an Seite auf einem Hügel, über dem Raben kreisten, bei Festen und beim Jagen, und dann wieder, diesmal älter, im Begriff, einander inmitten des Blutes und der Schrecken eines Schlachtfeldes zu begegnen. Als Feinde oder Verbündete? Und sofern sie gegeneinander kämpften, wer würde den Sieg davontragen? Dieses Wissen blieb ihm verborgen.

Dann verblasste die Vision. Als er wieder aufschaute, redeten Oesc und sein Großvater noch miteinander, die Wicce aber, Haedwig, beobachtete ihn mit besorgter Miene.

»Wenn Ihr unerkannt bleiben wollt«, riet sie ihm, nachdem die Unterredung zu Ende war, »solltet Ihr nun mit mir kommen. Ich werde den Leibeigenen auftragen, Essen für uns beide zu bringen.«

Merlin nickte. Zwar entging ihm dadurch die Gelegenheit, in Erfahrung zu bringen, was die Männer an wissenswerten Gerüchten in der Halle miteinander zu bereden haben könnten, doch er hatte den Eindruck, die Antwort auf seine Frage ohnehin bereits zu kennen. Cantium würde sich ruhig verhalten, aber der Rat sollte von nun an besser ein waches Auge auf die Südsachsen und die Angeln haben. Diese weise Frau hingegen übte großen Einfluss sowohl auf den Greis als auch auf den Jungen aus. Er konnte es sich nicht leisten, das Geheimnis ihrer Person ungelüftet zu lassen.

Als er Haedwigs Haus betrat, spürte er ein Prickeln unter der Haut. Er lächelte ein wenig, als er die Schutzzauber, nunmehr in reiner Form, erkannte, die ihm zuvor in der Halle aufgefallen waren. Flammen züngelten auf, als die Hexe das Feuer schürte, während er sich mit der Neugier eines Zunftgenossen umsah. Seit seinen Studien bei den Weisen des Vor-Tigernus als junger Mann hatte er kaum noch mit anderen Zauberkundigen zu tun gehabt.

Seine Nasenflügel blähten sich ob der vielfältigen Gerüche, die um ihn waren – bald würzig, bald modrig, bald sauer –, und ob der Ströme der Macht, die damit einhergingen. Eine Hexe hatte er sie genannt, und die getrockneten Kräuter, die von den Sparren hingen, die ordentlich auf Ablagen geschichteten Säcke, Körbe und Bündel, bestätigten dies. Was sie sonst noch sein mochte, konnte er noch nicht sagen.

Haedwig schenkte Met aus einem römischen Krug in ein silbergefasstes Trinkhorn. »Keine Angst«, sagte sie, als er einen winzigen Augenblick zögerte, »ich bin nicht so dumm, den Met mit etwas anderem zu belegen als einem Segen auf die Hefe, auf dass sie gäre – selbst wenn ich dächte, so etwas würde Eurer Aufmerksamkeit entgehen.«

»Ich habe nicht an Euch gezweifelt«, entgegnete er steif.

Er trank und genoss die feurige Süße, dann gab er ihr das Trinkhorn zurück und setzte sich auf die Bank am Feuer.

Die Wicce trank ebenfalls und ließ sich ihm gegenüber nieder. Sie war eine Frau, die von der Mitte ihres Lebens bis ins hohe Alter ihr Aussehen wohl kaum verändern mochte, mit ausladenden Brüsten, breiten Hüften und silbrigen Strähnen im Haar – eine ganz und gar gewöhnliche Person, ohne jeden Anspruch auf Schönheit, bis man ihr in die Augen blickte.

Diese Augen hefteten sich nun auf die seinen, mit einem silbrigen Schimmer, der die Tiefen dahinter verschleierte wie Licht auf einem Teich.

»Ihr fragt Hengest, was er mit seinen Kriegern vorhat, als wären sie die einzigen Kriegsmächte dieses Landes. Von einem anderen Gesandten hätte ich das erwartet, nicht aber von Euch. Seid Ihr gekommen, um unsere Verteidigungseinrichtungen auszuspionieren, so wie damals in Verulamium, als Ihr Euch des Körpers dieses Vogels bedient habt?«

Merlin unterdrückte ein Schaudern, als er sich an jenen Tag erinnerte. Dann erreichte ihn der Sinn dessen, was sie gesagt hatte.

»Ihr wart das also mit den Raben, die sich mir in den Weg gestellt haben?«

»Kurze Zeit – bis es eine Schlacht zwischen Eurer Göttin und meinem Gott wurde. Ihr solltet wissen, dass Woden schon lange ein Freund der Göttin ist und danach trachtet, ihre Weisheit zu erlangen.«

»Und es besteht kein Grund«, antwortete er ernst, »dass sie seine Feindin bleibt. Sogar damals war nicht sie es, die ihn besiegte, sondern der Gott im Schwert.«

Haedwig sah ihn scharf an. »Was ist mit diesem Schwert? Wird es seinen neuen Meister ebenso töten wie Euren König?«

»Artor ist der vorherbestimmte Beherrscher der Klinge, der Verteidiger Britanniens. Wenn er es für eine gerechte Sache zieht, wird es ihm den Sieg bescheren.« Als er sich an jene besondere Schwingung der Macht erinnerte, die von dem Schwert ausging, wurde ihm jäh bewusst, dass er hier etwas Ähnliches spürte.

Er drehte sich um und wandte seine Aufmerksamkeit einem langen Gebilde in der Ecke zu, das in Ledertücher und Zaubersprüche gehüllt war. Nun, da er sein Bewusstsein darauf bündelte, verdrängte die Macht des Gegenstandes jede andere Magie im Raum.

Haedwig an seiner Seite war ausgesprochen still geworden. »Ich hätte wissen müssen, dass die Zauber, die es vor anderen Menschen verbergen, gegen Euch nutzlos sein würden…« Sie sprach langsam, so als lauschte sie gleichzeitig einer inneren Stimme. »Aber vielleicht war vorherbestimmt, dass Ihr es sehen sollt.«

Bedächtig schritt sie auf die Ecke zu und begann den Gegenstand aus den Hüllen zu wickeln. Dabei erkannte Merlin, dass es sich um einen Speer handelte.

Zunächst sah Merlin nur die äußere Form, den hölzernen, mit Runen verzierten Schaft und die Klinge aus milchigem Stein. Dann wirbelte die Macht des Speeres durch seine Sinne und überwältigte ihn mit einer Explosion von Offenbarungen; der Schaft glich einer Kette von Beschwörungen, die Klinge bohrte sich mit reinem, unverfälschtem Zauber mitten ins Herz. Seine veränderte Sicht ließ ihn die Waffe als von Licht umhüllt wahrnehmen, grell und strahlend wie das Wesen, das Merlin den Speer entgegenstreckte.

»Ergreift ihn am Schaft.« Inmitten seiner Verwirrung wurde ihm bewusst, dass Haedwig mit ihm sprach.

Mühevoll brachte er eine Antwort hervor. »Was geschieht, wenn ich es tue?«

»Ihr werdet den Gott kennen lernen.«

»Woden? Er ist keiner meiner Götter!«

»Das mögt Ihr wohl behaupten, dennoch verbreitet Ihr einen Teil seiner Weisheit in dieser Welt. Ihr kennt ihn nicht, aber er kennt Euch, und dieser heilige Boden ist sein…«

»Ist es eine Waffe?«, murmelte Merlin. »Werden Eure Könige sie gegen das Schwert einsetzen?«

»Es ist eine Waffe, aber sie ist nicht für den Krieg bestimmt.«

Ihm war nicht bewusst, ob er den Runenschaft wirklich berührt hatte oder nicht. In dem Sturm der Visionen vermeinte er Laute zu hören, Worte, die kamen und gingen. Er war sich ihrer Bedeutung nicht sicher, wusste nur, dass er sich gegen das verwehrte, was sie ihm sagten.

Und dann verstummte die Macht. Seine magische Sicht endete, und er sah, dass die Wicce den Speer wieder in die Hüllen wickelte.

»Ich habe dieses Land durch alle Jahreszeiten bereist, und Woden hat mich begleitet«, erklärte Haedwig. »Er mag dieses Land und will hier bleiben. Er sagt, dass auch Ihr ihm dienen werdet und dass es einfacher wäre, wenn es mit Eurem Willen geschieht.«

Merlin schüttelte den Kopf. »Ich diene der Herrin dieses Landes und nicht Eurem Gott.«

»Selbstverständlich«, erwiderte die Wicce, »aber zu gegebener Zeit könnte sich herausstellen, dass ihre Ziele ein und dieselben sind.«