3. September
Viertelmond
Draußen auf der Landspitze von Waytansea Island parkt Misty das Auto. Tabbi sitzt neben ihr, in jedem Arm eine Urne. Ihre Großeltern. Deine Eltern. Grace und Harrow.
Misty, die neben ihrer Tochter auf dem Fahrersitz des alten Buick sitzt, legt Tabbi eine Hand aufs Knie und sagt: »Schatz?«
Und Tabbi dreht sich zu ihrer Mutter um.
Misty sagt: »Ich habe beschlossen, offiziell unsere Namen ändern zu lassen.« Misty sagt: »Tabbi, ich muss den Leuten sagen, was da wirklich geschehen ist.« Sie drückt Tabbis dünnes Knie, die weißen Strümpfe rutschen ihr über die Kniescheibe, und sagt: »Wir können zu deiner Oma in Tecumseh Lake ziehen.«
Tatsächlich könnten sie jetzt überall hingehen. Sie sind wieder reich. Grace und Harrow und die anderen alten Inselleute, sie alle haben Millionen hinterlassen. Von Lebensversicherungen. Abermillionen, steuerfrei und sicher auf der Bank. Von den Zinsen können sie noch achtzig Jahre lang in aller Ruhe leben.
Detective Stiltons Suchhund hat zwei Tage nach dem Brand den Berg verkohlten Holzes durchwühlt. Von den ersten drei Stockwerken des Hotels sind nur noch die nackten Steinmauern übrig. Der Beton von der Hitze in grünblaues Glas verwandelt. Was der Hund erschnüffelte, Gewürznelken oder Kaffee, führte die Retter zu Stilton, der tot im Keller unter dem Foyer lag. Der Hund, ein zitterndes, pinkelndes Wrack, heißt Rusty.
Die Bilder werden weltweit verbreitet. Die auf der Straße vorm Hotel ausgebreiteten Leichen. Die verkohlten Körper, schwarz und verkrustet, aufgeplatzt, sodass das gebratene Fleisch darin zu sehen ist, feucht und rot. Und in jeder Einstellung ein Firmenlogo.
Jede Sekunde des Videomaterials zeigt die schwarzen Skelette auf dem Parkplatz. Bis jetzt insgesamt 132, und darüber, über ihnen, irgendwo sieht man immer einen Firmennamen. Einen Werbeslogan oder ein lächelndes Maskottchen. Einen grinsenden Tiger. Einen schwammigen, optimistischen Spruch.
»Bonner & Mills - Wenn Sie nie mehr von vorn anfangen wollen.«
»Mewtworx - Wo Fortschritt nicht Stillstand bedeutet.«
Und was man nicht versteht, kann man deuten, wie man will.
Ein mit Werbung beschriftetes Inselauto parkt in jedem Bild der Fernsehnachrichten. Papierfetzen, Tassen oder Servietten: Überall steht ein Firmenname drauf. Man sieht eine Reklametafel. Inselbewohner, Werbeträger mit Ansteckern oder TShirts, geben Fernsehinterviews vor den verkrümmten, qualmenden Leichen. Die Finanzdienstleister und Privatfernsehsender und Pharmakonzerne zahlen jetzt hohe Beträge, um all diese Werbung zurückzukaufen. Um ihren Namen von der Insel auszuradieren.
Rechnet man dieses Geld zu dem von den Versicherungen hinzu, ist die Insel reicher als je zuvor.
Im Buick sieht Tabbi ihre Mutter an. Sie sieht die beiden Urnen an, die sie in den Armbeugen hält. Ihr Zygomaticus major zieht ihr die Mundwinkel bis zu den Ohren. Tabbis Wangen schwellen auf und heben ihre unteren Augenlider ein klein wenig an. Mit der Asche von Grace und Harrow in den Armen ist sie ihre eigene kleine Mona Lisa. Lächelnd und sehr alt, sagt sie: »Wenn du was sagst, sag ich auch was.«
Mistys Kunstwerk. Ihr Kind.
Misty sagt: »Was willst du sagen?«
Immer noch lächelnd, sagt Tabbi: »Ich habe ihre Kleider in Brand gesteckt. Omi und Opi Wilmot haben mir gesagt, was ich tun soll, und ich habe sie in Brand gesteckt.« Sie sagt: »Sie haben mir die Augen zugeklebt, damit ich nichts sehe und da rauskommen kann.«
In den Resten von Videomaterial, das erhalten bleibt, sieht man nur noch Rauch aus dem Hoteleingang quellen. Das war unmittelbar nach der Enthüllung des Wandgemäldes. Feuerwehrleute stürzen hinein und kommen nicht mehr heraus. Polizisten und Gäste, niemand kommt heraus. Mit jeder vom Timecode im Video angezeigten Sekunde wird das Feuer größer. Die Flammen schlagen als orangerote Lappen aus den Fenstern. Ein Polizist kriecht über die Terrasse, um durch ein Fenster zu spähen. Geduckt steht er da und sieht hinein. Dann richtet er sich auf. Der Rauch fährt ihm ins Gesicht, die Flammen versengen ihm Kleidung und Haare, er steigt über das Fensterbrett. Ohne zu blinzeln. Ohne mit der Wimper zu zucken. Sein Gesicht und seine Hände brennen. Der Polizist belächelt, was er da drinnen sieht, und geht darauf zu, ohne sich auch nur einmal umzusehen.
Nach offizieller Darstellung war der Kamin im Speiseraum Auslöser des Brandes. Die Tradition, dass der Kamin immer zu brennen habe, egal, wie warm es draußen ist, die sei schuld an dem Brand. Manche starben direkt vor offenen Fenstern. Andere Leichen wurden kurz vor den Ausgängen gefunden. Die meisten jetzt Toten waren auf die Wand im Speiseraum zugekrochen, an der das Riesengemälde brannte. Auf den Brandherd zu. Auf das, was der Polizist durch das Fenster gesehen hatte. Nicht einer versuchte auch nur ansatzweise zu fliehen.
Tabbi sagt: »Als mein Vater wollte, dass ich mit ihm weglaufe, habe ich das Omi erzählt.« Sie sagt: »Ich habe uns gerettet. Ich habe die Zukunft der ganzen Insel gerettet.«
Tabbi sieht aus dem Autofenster aufs Meer hinaus. Ohne ihre Mutter anzusehen, sagt sie: »Also, wenn du irgendwem was sagst«, sagt sie, »komme ich ins Gefängnis.« Sie sagt: »Ich bin sehr stolz auf das, was ich getan habe, Mutter.« Sie schaut auf den Ozean, ihr Blick folgt der Kurve der Küstenlinie, zurück zum Dorf, zur schwarzen Ruine des Hotels. In dem Menschen, paralysiert vom Stendhal-Syndrom, bei lebendigem Leib verbrannt sind. Paralysiert von Mistys Riesengemälde.
Misty schüttelt Tabbis Knie und sagt: »Tabbi, bitte.«
Und ohne aufzublicken, streckt Tabbi die Hand aus, öffnet die Wagentür und steigt aus. »Ich heiße Tabitha, Mutter«, sagt sie. »Von jetzt an nenn mich bitte bei meinem richtigen Namen.«
Wenn man im Feuer stirbt, verkürzen sich die Muskeln. Die Arme krümmen sich ein, die Hände krümmen sich zu Fäusten, die Fäuste krümmen sich zum Kinn. Die Knie knicken ein. Das kommt von der Hitze. Man nennt das die »Faustkämpferstellung«, weil man wie ein toter Boxer aussieht.
Wer im Feuer stirbt, wer lange Zeit im Koma liegt: Sie alle enden etwa in dieser Haltung. In der Haltung eines Babys vor der Geburt.
Misty und Tabitha gehen an der Bronzestatue von Apollo vorbei. An der Wiese vorbei. Vorbei an dem verfallenden Mausoleum, einem schimmligen, in den Hang gebauten Bankgebäude mit schief hängendem Eisentor, hinter dem es dunkel ist. Sie gehen bis ans Ende der Landspitze, und Tabitha - nicht ihre Tochter, kein Teil mehr von Misty, jemand, den Misty gar nicht kennt -, eine Fremde, Tabitha steht am Rand der Klippe und schüttet die Urnen über dem Wasser aus. Die lang gezogene graue Wolke aus Staub und Asche wird vom Wind aufgefächert. Und versinkt im Ozean.
Nur um das festzuhalten: Das Ozeanbündnis für Freiheit hat nichts mehr verlautbart, und die Polizei hat niemanden verhaftet.
Dr. Touchet hat den einzigen öffentlichen Strand der Insel wegen Gesundheitsbedenken sperren lassen. Die Fähre hat ihren Dienst auf zwei Fahrten pro Woche eingeschränkt und befördert nur noch Inselbewohner. Waytansea Island ist für die Außenwelt praktisch geschlossen.
Auf dem Rückweg zum Auto kommen sie an dem Mausoleum vorbei.
Tabbi... Tabitha bleibt stehen und sagt: »Möchtest du jetzt mal hineinsehen?«
Das Eisentor, verrostet und schief in den Angeln. Die Dunkelheit dahinter.
Und Misty sagt: »Ja.«
Nur um das festzuhalten: Das Wetter heute ist ruhig. Ruhig, ergeben und geschlagen.
Eins, zwei, drei Schritte ins Dunkel hinein, und man sieht sie. Zwei Skelette. Eins liegt seitlich zusammengerollt auf dem Boden. Das andere sitzt an die Wand gelehnt. Ihre Knochen sind mit Schimmel und Moos überzogen. Die Wände glitzern von rinnendem Wasser. Die Skelette sind Mistys Skelette, die Frauen, die sie früher einmal war.
Was Misty gelernt hat, ist, dass Schmerz und Panik und Entsetzen nur ein paar Minuten dauern.
Was Misty gelernt hat ist, dass ihr das Sterben sterbenslangweilig geworden ist.
Nur um das festzuhalten: Deine Frau weiß, dass es Bluff war, als du geschrieben hast, du würdest dir alle diese Zahnbürsten in den Arsch stecken. Du hast bloß versucht, die Leute in die Wirklichkeit zurückzuscheuchen. Du hast nur gewollt, dass sie aus ihrem persönlichen Koma aufwachen.
Misty schreibt das hier nicht mehr für dich, Peter.
Es gibt keinen Ort auf der Insel, wo sie ihre Geschichte so verstecken kann, dass nur sie sie wiederfindet. Ihr zukünftiges Ich in hundert Jahren. Ihre eigene kleine Zeitkapsel. Die eigene persönliche Zeitbombe. Die Bewohner von Waytansea werden jeden Quadratzentimeter ihrer schönen Insel umgraben. Sie werden auf der Suche nach Mistys Geheimnis ihr Hotel abreißen. Sie haben ein Jahrhundert lang Zeit zum Graben und Niederreißen und Suchen, ehe sie wiederkommt. Bis man sie zurückholt. Und dann wird es zu spät sein.
Alles, was wir tun, verrät uns. Unsere Kunst. Unsere Kinder.
Aber wir sind hier. Wir sind immer noch hier. Der armen dummen Misty Marie Wilmot bleibt nur eines: Sie muss ihre Geschichte vor aller Augen verstecken. Irgendwo auf der Welt.
Was sie gelernt hat, ist das, was sie jedes Mal lernt. Platon hatte Recht. Wir alle sind unsterblich. Selbst wenn wir wollten, könnten wir nicht sterben.
Jeden Tag ihres Lebens, jede Minute ihres Lebens: wenn sie sich nur daran erinnern könnte.