6. Juli
Nur um das festzuhalten: Die muffige alte Bücherei mit ihren Tapeten, die sich an allen Kanten aufrollen, mit ihren Milchglaslampen an der Decke, in denen es von toten Fliegen wimmelt, mit allem anderen, woran du dich erinnern kannst, die gibt es noch. Falls du dich daran erinnern kannst. Derselbe schäbige, zu Suppenfarbe vergilbte Globus. Die Kontinente in Länder wie Preußen und Belgisch Kongo zerstückelt. Immer noch das gerahmte Schild mit der Aufschrift: »Die Verunstaltung von Büchern wird strafrechtlich verfolgt.«
Die alte Mrs. Terrymore, die Bibliothekarin, trägt immer noch dieselben Tweedkostüme, nur dass sie jetzt einen Anstecker am Revers hat; das Ding ist so groß wie ihr Gesicht und verkündet: »Auch für Sie gibt es Neue Zukunft mit dem Finanzunternehmen Owen Landing!«
Was man nicht versteht, kann man deuten, wie man will.
Überall auf der Insel tragen Leute diesen Anstecker oder TShirts mit diesem Aufdruck und laufen so als Werbeträger herum. Werden sie damit gesehen, bekommen sie einen kleinen Preis, manchmal auch in bar. Ihr Körper als Werbefläche. Tragen Baseballmützen mit Servicetelefonnummern.
Misty ist mit Tabbi hier, sie suchen Bücher über Pferde und Insekten, die Tabbis Lehrer ihr zu lesen aufgegeben hat, bevor sie im Herbst in die siebte Klasse kommt.
Keine Computer. Keine Verbindung zum Internet oder zu irgendwelchen Datenbanken, und das heißt, es kommen keine Sommerleute hierher. Kaffeetrinken verboten. Videos und DVDs: Fehlanzeige. Mehr als Flüstern ist nicht erlaubt. Tabbi ist in der Kinderabteilung, und deine Frau ist in ihrem eigenen Koma: bei den Kunstbüchern.
Auf der Kunstakademie bringen sie einem bei, dass berühmte alte Meister wie Rembrandt und Caravaggio und van Eyck, dass die einfach durchgepaust haben. Haben so gezeichnet, wie der Lehrer Tabbi es nicht gestatten würde. Hans Holbein, Diego Velazquez, die haben in einem samtenen Zelt in der trüben Dunkelheit gehockt und die Außenwelt abgezeichnet, die durch eine kleine Linse zu ihnen hineinschien. Oder sich in einem gewölbten Spiegel zeigte. Oder wie bei einer Camera obscura durch ein winziges Loch in ihren abgedunkelten Raum projiziert wurde. Projektion der Außenwelt auf ihre Leinwand. Canaletto, Gainsborough, Vermeer, stundenlang, tagelang hockten sie da im Dunkeln und zeichneten das Gebäude oder das Aktmodell ab, das draußen im hellen Sonnenschein stand. Manchmal trugen sie sogar die Farben direkt auf die projizierten Farben auf, zogen die Konturen projizierter Falten von Gewändern nach. Malten ein exaktes Porträt an einem einzigen Nachmittag.
Nur um das festzuhalten: Camera obscura ist Latein und heißt »dunkle Kammer«.
Wo sich Fließband und hohe Kunst vermischen. Eine Kamera, die Farbe statt Silberbromid verwendet. Leinwand statt Film.
Sie verbringen den ganzen Vormittag hier, und einmal kommt Tabbi und stellt sich neben ihre Mutter. Tabbi hält ein aufgeschlagenes Buch in den Händen und sagt: »Mama?« Die Nase dicht über dem Buch, sagt Misty: »Hast du gewusst, dass man ein Feuer von mindestens achthundertsiebzig Grad sieben Stunden lang brennen lassen muss, um eine durchschnittliche Leiche zu verbrennen?«
In dem Buch sind Schwarz-Weiß-Fotos von Brandopfern in der typischen »Faustkämpferstellung«, die verkohlten Arme schützend vors Gesicht gehoben. Die Hände zu Fäusten geballt, gebraten von der Hitze des Feuers. Verkohlte schwarze Boxer. Das Buch heißt Forensische Brandforschung.
Nur um das festzuhalten: Das Wetter heute ist nervöser Ekel mit zögernder Besorgnis.
Mrs. Terrymore blickt von ihrem Schreibtisch auf. Misty sagt zu Tabbi: »Stell das zurück.«
Heute in der Bibliothek, in der Kunstabteilung, streicht deine Frau mit der Hand über die Nachschlagewerke. Sie schlägt irgendeines der Bücher auf, und da steht, dass, wenn ein Künstler einen Spiegel benutzte, um ein Abbild auf seine Leinwand zu werfen, dieses Abbild spiegelverkehrt war. Das ist der Grund, warum auf so vielen Bildern alter Meister alle Leute Linkshänder sind. Wenn sie eine Linse benutzten, stand das Abbild auf dem Kopf. Egal, wie sie zu dem Abbild kamen, es war immer verzerrt. In diesem Buch zeigt ein alter Holzschnitt einen Künstler, der ein projiziertes Abbild nachzeichnet. Auf die Seite hat jemand geschrieben: »Das kannst du mit deinem Kopf machen.«
Vögel markieren ihr Revier mit Gesang. Hunde mit Pinkeln.
Es ist das Gleiche wie an der Unterseite des Tischs im Goldenen Salon, Maura Kincaids Botschaft aus dem Reich der Toten: »Nimm irgendein Buch aus der Bücherei«, hat sie geschrieben.
Ihre Nachwirkung in Bleistift. Ihre hausgemachte Unsterblichkeit.
Diese neue Botschaft ist mit Constance Burton unterschrieben.
»Das kannst du mit deinem Kopf machen.«
Aufs Geratewohl nimmt Misty ein anderes Buch und schlägt es irgendwo auf. Es ist ein Werk über den hervorragenden französischen Kupferstecher Charles Meryon, der an Schizophrenie erkrankte und in einer Anstalt starb. Eines seiner Bilder zeigt das französische Marineministerium, ein klassisches Bauwerk mit hohen Säulen; auf den ersten Blick wirkt es ganz normal, bis man am Himmel einen Schwarm von Ungeheuern bemerkt.
Und in den Wolken über den Ungeheuern steht mit Bleistift geschrieben: »Wir sind ihr Köder und ihre Falle.« Unterschrift: Maura Kincaid.
Die Augen geschlossen, streicht Misty mit den Fingern über die Buchrücken im Regal. Sie fühlt Leder, Papier und Leinen und zieht dann, ohne hinzusehen, ein Buch heraus und lässt es in ihrer Hand aufklappen.
Francisco Goya, vergiftet von dem Blei in seinen hellen Farben. Farben, die er mit Fingern und Daumen auftrug, bis er sich eine von Blei ausgelöste Enzephalopathie zuzog, die in seinem Fall zu Taubheit, Depressionen und Wahnsinn führte. Auf der Seite ist ein Gemälde abgebildet: Der Gott Saturn, der seine Kinder frisst - düsteres Schwarz um einen glupschäugigen Riesen, der einem kopflosen Körper die Arme abbeißt. An den weißen Rand daneben hat jemand geschrieben: »Wenn du das gefunden hast, kannst du dich noch retten.«
Unterschrift: Constance Burton.
Im nächsten Buch porträtiert sich der französische Maler Watteau als blassen, ausgemergelten Gitarrespieler, der wie er selbst im wirklichen Leben an Tuberkulose starb. Auf dem blauen Himmel über ihm steht geschrieben: »Male ihnen nicht ihre Bilder.« Unterschrift: Constance Burton.
Um sich zu testen, geht deine Frau quer durch die Bücherei an der alten Bibliothekarin vorbei, die sie durch ihre kleine, runde schwarze Drahtbrille beobachtet. Unterm Arm trägt Misty die Bücher über Watteau, Goya, die Camera obscura, alle aufgeschlagen und ineinander geschoben. Tabbi blickt von ihrem mit Kinderbüchern beladenen Tisch auf. In der Literaturabteilung streicht Misty wiederum mit geschlossenen Augen über die alten Buchrücken. Irgendwo bleibt sie stehen und zieht eines heraus.
Es ist ein Buch über Jonathan Swift, darüber, wie die Meniere-Krankheit sein Leben zerstörte, indem er taub wurde und zudem ständig an Schwindelgefühlen litt. In seiner Verbitterung schrieb er finstere Satiren wie Gullivers Reisen und Ein bescheidener Vorschlag, worin er den Briten empfahl, wenn sie überleben wollten, sollten sie die zunehmende Masse irischer Kinder verspeisen. Sein bestes Buch.
Das Buch öffnet sich auf einer Seite, an deren Rand jemand geschrieben hat: »Sie werden dich alle Kinder Gottes töten lassen, um die eigenen zu retten.« Unterschrift: Maura Kincaid.
Deine Frau klemmt dieses neue Buch in das vorige und macht wieder die Augen zu. Die Bücher unterm Arm, tastet sie nach dem nächsten Buch. Misty streicht mit den Fingern über die Buchrücken. Die Augen geschlossen, geht sie einen Schritt nach vorn - und stößt an eine weiche Wand, die nach Talkumpuder riecht. Sie öffnet die Augen und sieht dunkelroten Lippenstift in einem weiß gepuderten Gesicht. Über einer Stirn eine grüne Mütze, darunter graues Lockenhaar. Auf der Mütze steht: »Ein Anruf bei 1-800-555-1785, und Sie sind alle Sorgen los.« Darunter eine schwarze Drahtbrille. Ein Tweedkostüm.
»Entschuldigen Sie«, sagt jemand, und es ist Mrs. Terrymore, die Bibliothekarin. Sie steht mit verschränkten Armen vor ihr.
Und Misty macht einen Schritt zurück.
Der dunkelrote Lippenstift sagt: »Schieben Sie die Bücher nicht so ineinander. Davon gehen sie kaputt.«
Die arme Misty, sie sagt, dass es ihr Leid tue. Immer die Außenseiterin, geht sie los, um die Bücher auf einem Tisch abzulegen.
Und Mrs. Terrymore lässt ihre Krallenhände spielen und sagt: »Bitte, lassen Sie mich die wieder einordnen. Bitte.«
Misty sagt, noch nicht. Sie sagt, sie möchte erst noch etwas nachsehen, und als die zwei Frauen um den Bücherstapel rangeln, rutscht ein Buch heraus und fällt flach auf den Boden. Laut wie eine Backpfeife. Es schlägt von allein auf, und da kann man lesen: »Male ihnen nicht ihre Bilder.«
Und Mrs. Terrymore sagt: »Das sind leider alles Nachschlagewerke.«
Und Misty sagt: »Nein, sind sie nicht. Kein einziges. Da steht: >Wenn du das gefunden hast, kannst du dich noch retten<«
Die Bibliothekarin sieht das durch ihre schwarze Drahtbrille und sagt: »Immer mehr Beschädigungen. Jahr für Jahr.« Sie schaut nach der großen Uhr in dem dunklen Walnussgehäuse und sagt: »Verzeihen Sie, aber wir haben heute früher geschlossen.« Sie vergleicht ihre Armbanduhr mit der großen Uhr und sagt: »Wir haben seit zehn Minuten geschlossen.«
Tabbi hat ihre Bücher bereits abstempeln lassen. Sie wartet am Ausgang und ruft: »Beeil dich, Mama. Du musst zur Arbeit.«
Und mit einer Hand fährt die Bibliothekarin in die Tasche ihres Tweedkostüms und zieht einen großen rosa Radiergummi hervor.