13. Juli

Vollmond

Tabbi und Misty gehen durch den Wald. Die wilde Gegend draußen auf der Landspitze von Waytansea. Hier wachsen Erlen, Generationen von Bäumen, groß geworden, umgestürzt und wieder neu aus den eigenen Toten heraus entsprossen. Tiere, Rehe vermutlich, haben einen Pfad angelegt, der sich, dick mit Moos gepolstert, um die Haufen komplizierter Bäume und zwischen Felsen, groß wie Architektur, hindurchwindet. Über all dem schließt sich das Erlenlaub zu einem hellgrünen Himmel.

An einzelnen Stellen fallen Sonnenstrahlen vom Durchmesser großer Kristallkronleuchter ein. Es ist hier wie im Foyer des Hotels Waytansea, nur unordentlicher.

Tabbi trägt einen alten Ohrring, ein großes rotes Emailleherz, umgeben von goldener Filigranarbeit, in der geschliffene rote Glassteine funkeln. Sie hat ihn sich wie eine Brosche an ihr rosa Sweatshirt geheftet, es ist aber der Ohrring, den Peters blonder Freund sich aus dem Ohr gerissen hat. Will Tupper von der Fähre.

Dein Freund.

Sie bewahrt den Schrottschmuck in einem Schuhkarton unter dem Bett auf und trägt ihn nur an besonderen Tagen. Die Glasrubine glitzern im hellgrünen Schein, der von oben kommt. Der schmutzige Strass spiegelt das Rosa von Tabbis Sweatshirt.

Deine Frau und dein Kind, die beiden steigen über einen verrottenden Baumstamm, auf dem es von Ameisen wimmelt, und schlängeln sich an Farnbüscheln vorbei, die Misty an der Hüfte streifen und Tabbi ins Gesicht schlagen. Sie sind leise, halten horchend nach Vögeln Ausschau, aber da ist nichts. Keine Vögel. Keine kleinen Frösche. Kein Laut außer dem Ozean, dem Rauschen und Brechen von Wellen irgendwo.

Sie schieben sich durch ein Dickicht grüner Stängel, irgendwas mit weichen gelben Blättern, das am Boden schon in Verwesung übergegangen ist. Man muss bei jedem Schritt nach unten sehen, weil es schlüpfrig ist, und überall sind Pfützen. Wie lange Misty schon gegangen ist, gesenkten Blicks, Zweige festhaltend, damit sie Tabbi nicht ins Gesicht schlagen, Misty weiß nicht, wie lange, doch als sie einmal aufsieht, steht da ein Mann.

Nur um das festzuhalten: Ihre Levator-labii-Muskeln, ihre Zähnefletschmuskeln, die Kampf-oder-Flieh-Muskeln, die krampfen sich zusammen, alle diese glatten Muskeln erstarren zu einem Bild des Knurrens: Mistys Lippen bilden ein Rechteck, sodass alle ihre Zähne zu sehen sind.

Sie greift nach hinten, nach Tabbis Hemd. Tabbi sieht immer noch zu Boden, geht einfach weiter, und Misty reißt sie zurück.

Und Tabbi rutscht aus, zieht ihre Mutter mit runter und sagt: »Mama.«

Tabbi an die feuchte Erde gedrückt, Laub und Moos und Käfer, Misty über sie geduckt, die Farnwedel über den beiden.

Der Mann steht etwa zehn Schritte vor ihnen, sieht aber nicht in ihre Richtung. Er dreht sich nicht um. Durch den Vorhang aus Farn gesehen, ist er zwei Meter groß, dunkel und schwer, und er hat braune Blätter in den Haaren und Schlammspritzer an den Beinen.

Er dreht sich nicht um, aber er bewegt sich auch nicht. Er muss sie gehört haben, und jetzt horcht er.

Nur um das festzuhalten: Er ist nackt. Sein nackter Hintern ist zum Greifen nah.

Tabbi sagt: »Lass los, Mama. Da sind Spinnen.«

Und Misty sagt: »Pst.«

Der Mann wartet, ganz starr, eine Hand in Hüfthöhe ausgestreckt, so als würde er die Luft nach einer Bewegung abtasten. Kein einziger Vogel singt.

Misty kauert, die Hände flach in dem Matsch aufgestützt, bereit, Tabbi zu packen und wegzulaufen.

Dann schlüpft Tabbi an ihr vorbei, und Misty sagt: »Nein.« So schnell sie auch nach ihr greift, sie kriegt nur die Luft hinter ihrem Kind zu fassen.

Nach einer, vielleicht zwei Sekunden hat Tabbi den Mann erreicht und legt ihre Hand in seine.

In diesen zwei Sekunden begreift Misty, dass sie eine schlechte Mutter ist.

Peter, du hast einen Feigling geheiratet. Misty kauert immer noch am Boden. Sie lehnt sich sogar etwas zurück, um schnell in die andere Richtung davonlaufen zu können. Nahkampf bekommt man auf der Kunstakademie nicht beigebracht.

Und Tabbi dreht sich lächelnd um und sagt: »Mama, du bist doof.« Sie schlingt beide Hände um die ausgestreckte Hand des Mannes, zieht sich daran hoch und schaukelt mit den Beinen in der Luft. Sie sagt: »Das ist doch nur Apollo.«

Nicht weit von dem Mann, fast ganz bedeckt von gefallenem Laub, liegt eine Leiche. Eine blasse weiße Brust mit feinen blauen Adern. Ein abgetrennter weißer Arm.

Und Misty hockt immer noch da.

Tabbi lässt die Hand des Mannes los und geht dorthin, wo Misty hinstarrt. Sie wischt Blätter von einem toten weißen Gesicht und sagt: »Das ist Diana.«

Sie sieht zu Misty hinüber und verdreht die Augen. »Das sind Statuen, Mama.«

Statuen.

Tabbi kommt zurück und nimmt Misty bei der Hand. Sie hebt Mistys Arm und zieht sie auf die Füße und sagt: »Hörst du? Statuen. Du bist doch hier die Künstlerin.«

Tabbi zieht sie hinter sich her. Der stehende Mann ist eine Bronzefigur, nackt, die braune Haut fleckig von Flechten und angelaufenen Stellen; seine Füße sind auf einen Sockel geschraubt, der vom Gestrüpp neben dem Pfad überwuchert ist. Iris und Pupille sind nach römischer Art konkav in die Augäpfel eingearbeitet. Die nackten Arme und Beine stehen im perfekten Verhältnis zum Körper. Der goldene Schnitt. Das Ganze ist nach allen Regeln der Kunst gestaltet.

Die Antwort der Griechen auf die Frage, warum wir lieben, was wir lieben. Mehr von diesem Kunstakademie-Koma.

Die Frau am Boden: weißer Marmor, zerbrochen. Tabbis rosa Hand wischt Laub und Gras von den langen weißen Schenkeln, die verschämten Falten des bleichen marmornen Unterleibs begegnen sich an einem gemeißelten Feigenblatt. Die glatten Finger und Arme, die Ellbogen makellos. Die steinernen Locken des Marmorhaars.

Tabbi zeigt auf einen leeren Sockel gegenüber der Bronzefigur und sagt: »Diana ist schon umgestürzt, lange bevor ich sie entdeckt habe.«

Die Bronzewade des Mannes fühlt sich kalt an, aber jede Sehne, jeder Muskel ist klar herausgearbeitet. Misty streicht mit der Hand über das kalte Bein und sagt: »Du warst schon mal hier?«

»Apollo hat keinen Schwanz«, sagt Tabbi. »Ich hab schon nachgesehen.«

Und Misty zuckt die Hand von dem am Unterleib der Statue befestigten Blatt weg. Sie sagt: »Wer hat dich hierher geführt?«

»Omi«, sagt Tabbi. »Omi geht oft mit mir hierher.«

Tabbi bückt sich und reibt ihre Wange an der glatten Marmorwange Dianas.

Die Bronzestatue, Apollo, muss eine Kopie aus dem 19. Jahrhundert sein. Allenfalls spätes 18. Jahrhundert. Jedenfalls kein griechisches oder römisches Original. Dann stünde sie in einem Museum.

»Warum sind die hier?«, sagt Misty. »Hat deine Großmutter dir das erzählt?«

Und Tabbi zuckt die Achseln. Sie reicht Misty die Hand und sagt: »Es gibt noch mehr.« Sie sagt: »Komm, ich zeig's dir.«

Es gibt noch mehr.

Tabbi führt sie durch den Wald auf der Landspitze, und da finden sie auf dem Boden eine Sonnenuhr, dick mit Grünspan überkrustet. Sie finden einen Brunnen vom Durchmesser eines Swimmingpools, aber gefüllt mit abgefallenen Zweigen und Eicheln.

Sie kommen an einem Hang vorbei, in den eine Höhle gegraben ist, ein dunkles Loch mit bemoosten Säulen an den Seiten, dazwischen ein zugekettetes Eisengitter. Der Eingang ist mit einem Bogen aus behauenen Felsstücken ummauert, in den oben sauber ein Schlussstein gesetzt ist. Schick wie ein kleines Bankgebäude. Die Fassade eines verschimmelten, vergessenen Regierungssitzes. Gemeißelte Engel halten Steingirlanden aus Äpfeln, Birnen und Trauben. Steinerne Blumenkränze. Und alles schmutzig, rissig, von Baumwurzeln gesprengt.

Dazwischen Pflanzen, die da nicht hingehören. Eine Kletterrose, die eine Eiche erwürgt, fünfzehn Meter rankt sie sich hoch und reckt ihre Blüten über die Baumkrone. Welke gelbe Tulpenblätter, die in der Sommerhitze verschmachtet sind. Eine turmhohe Mauer aus Stängeln und Blättern erweist sich als gewaltiger Fliederbusch.

Tulpen und Flieder sind hier nicht einheimisch.

Nichts von all dem dürfte sich hier aufhalten.

Auf der Wiesenlichtung im Zentrum der Landspitze, auf einer Decke dort im Gras sitzt Grace Wilmot. Um sie herum blühen rosa und blaue Kornblumen und kleine weiße Gänseblümchen. Über dem offenen Picknickkorb summen Fliegen.

Grace hebt sich auf die Knie, sie hält ihnen ein Glas Rotwein entgegen und sagt: »Misty, da bist du ja. Komm, trink.«

Misty nimmt den Wein und trinkt. »Tabbi hat mir die Statuen gezeigt«, sagt sie. »Was war das hier früher?«

Grace steht auf und sagt: »Tabbi, pack deine Sachen. Wir müssen jetzt los.«

Tabbi nimmt ihren Pullover von der Decke.

Und Misty sagt: »Aber wir sind doch grade erst gekommen.«

Grace reicht ihr ein Sandwich auf einem Teller und sagt: »Du bleibst hier und isst etwas. Du hast den ganzen Tag Zeit zum Malen.«

Auf dem Sandwich ist Hühnersalat. Es hat in der Sonne gelegen und ist ganz warm. Fliegen haben darauf gesessen, aber es riecht noch nicht schlecht. Misty beißt hinein.

Grace nickt Tabbi zu und sagt: »Das war ihre Idee.«

Misty kaut und schluckt. Sie sagt: »Die Idee ist reizend, aber ich habe doch gar nichts zum Malen dabei.«

Und Tabbi geht zum Picknickkorb und sagt: »Omi hat was eingepackt. Als Überraschung.«

Misty nimmt einen Schluck Wein.

Immer, wenn ein wohlmeinender Mensch dich zwingt, zu beweisen, dass du kein Talent hast, und dir unter die Nase reibt, dass dein großer Traum bloß eine Seifenblase ist, Misty Wilmots Trinkspiel.

»Tabbi und ich haben was vor«, sagt Grace.

Und Tabbi sagt: »Wir gehen zum Flohmarkt.«

Der Hühnersalat schmeckt komisch. Misty kaut und schluckt und sagt: »Das Sandwich schmeckt irgendwie seltsam.«

»Das ist frischer Koriander«, sagt Grace. Sie sagt: »Tabbi und ich suchen einen Servierteller, Durchmesser vierzig Zentimeter, Silber-Weizenmuster von Lenox.« Sie schließt die Augen, schüttelt den Kopf und sagt: »Warum braucht man Ersatzgeschirr immer erst dann, wenn die Serie nicht mehr produziert wird?«

Tabbi sagt: »Und Omi kauft mir ein Geburtstagsgeschenk. Alles, was ich will.«

Und Misty soll mit zwei Flaschen Rotwein und einer Ladung Hühnersalat allein auf der Landspitze bleiben. Ihre Öl-und Aquarellfarben und Pinsel und auch ihr Papier - nichts davon hat sie mehr angerührt, seit ihre Tochter ein Baby war. Acryl und Öl müssen längst hart geworden sein. Die Wasserfarben vertrocknet. Die Pinsel steif. Alles nicht mehr zu gebrauchen.

Einschließlich Misty.

Grace Wilmot streckt die Hand aus und sagt: »Komm, Tabbi. Gehen wir, deine Mutter soll den Nachmittag genießen.«

Tabbi nimmt die Hand ihrer Großmutter, und die beiden gehen über die Wiese zurück zu dem Waldweg, wo sie den Wagen geparkt haben.

Die Sonne scheint warm. Die Wiese ist so hoch gelegen, dass man die Wellen unten heranrauschen und sich an den Strandfelsen brechen sehen kann. Im Hintergrund sieht man die Stadt. Das Hotel Waytansea ist ein weißer Fleck. Fast erkennt man sogar noch die kleinen Gaubenfenster im Dachgeschoss. Von hier aus wirkt die Insel freundlich und vollkommen, nicht hektisch und von Touristen überlaufen. Von Reklametafeln verschandelt. So muss die Insel ausgesehen haben, bevor hier die reichen Sommerleute eingefallen sind. Bevor Misty gekommen ist. Man versteht, warum Menschen, die hier zur Welt kommen, niemals fortziehen. Man versteht, warum Peter das alles bewahren wollte.

»Mama«, ruft Tabbi.

Sie lässt ihre Großmutter los und kommt noch einmal zurückgelaufen. Mit beiden Händen nestelt sie an ihrem rosa Sweatshirt. Keuchend erreicht sie Misty, die auf der Decke sitzt. Den filigranen goldenen Ohrring in der Hand, sagt sie lächelnd: »Halt still.«

Misty hält still. Wie eine Statue.

Und Tabbi bückt sich, hakt den Ohrring ins Ohrläppchen ihrer Mutter ein und sagt: »Das hätte ich fast vergessen, aber Omi hat mich daran erinnert. Sie sagt, das wirst du brauchen.« Ihre Jeans haben Erd-und Grasflecken an den Knien. Die stammen von vorhin, als Misty sie in Panik zu Boden geworfen hatte, als Misty sie hatte retten wollen.

Misty sagt: »Möchtest du ein Sandwich mitnehmen, Schatz?«

Und Tabbi schüttelt den Kopf und sagt: »Omi hat mir gesagt, ich soll die nicht essen.« Und schon läuft sie, mit erhobener Hand winkend, wieder davon, bis sie nicht mehr zu sehen ist.