12. Juli

Falls es dich interessiert, dein Freund von der Kunstakademie, der Junge mit den langen blonden Haaren, der sich das Ohrläppchen eingerissen hat, weil er Misty seinen Ohrring schenken wollte, na ja, der hat jetzt eine Glatze. Er heißt Will Tupper, und ihm gehört die Fähre. Er ist so alt wie du. Sein Ohrläppchen ist immer noch gespalten. Vernarbt.

Misty steht an Deck der Fähre, die jetzt am Abend wieder die Insel anläuft. Der kalte Wind lässt ihr Gesicht um Jahre altern, leiert und trocknet die Haut aus. Die dünne abgestorbene Hautschicht ihres Stratum corneum. Sie hält eine braune Papiertüte, darin eine Bierdose, aus der sie gerade einen Schluck nimmt, als ein großer Hund neben ihr auftaucht. Schnüffelnd und winselnd. Er hat den Schwanz eingeklemmt, und anscheinend versucht er etwas hinunterzuschlingen, jedenfalls geht der Kehlkopf in seinem bepelzten Hals rauf und runter.

Als sie ihn streicheln will, weicht der Hund zurück und pinkelt auf die Deckplanken. Ein Mann mit einer Leine in der Hand kommt und fragt sie: »Alles in Ordnung mit Ihnen?«

Bloß die arme dicke Misty in ihrem Bierkoma.

Als ob. Als ob sie hier auf diesem Boot, ein Bier in der Hand und Tränen hochschniefend, in einer Pfütze aus Hundepisse stehen bleiben und irgendeinem Fremden ihre Lebensgeschichte erzählen würde. Als ob Misty einfach sagen könnte - na ja, wo Sie schon mal fragen, sie hat mal wieder einen Tag im zugemauerten Wäschezimmer irgendwelcher Leute verbracht und dummes Gefasel von den Wänden abgelesen, während Angel Delaporte mit Blitzlicht Fotos davon machte und sagte, ihr Arschloch von Mann sei in Wirklichkeit liebevoll und fürsorglich, weil er das kleine u mit einem aufwärts gerichteten Schwänzchen am Ende schreibe, auch wenn er sie als einen »bösen Rachefluch des Todes« bezeichne.

Angel und Misty haben den ganzen Nachmittag Hintern an Hintern gestanden, als sie die an die Wände gesprühten Botschaften mit den Fingern nachzog. Da stand: »... wir akzeptieren die schmutzige Flut eures Geldes...«

Und Angel fragte sie: »Spürst du was?«

Die Hausbesitzer steckten ihre Zahnbürsten in Tüten, um sie in einem Labor auf Fäulniserreger testen zu lassen. Für einen Prozess.

Auf der Fähre sagt der Mann mit dem Hund: »Tragen Sie ein Kleidungsstück eines Toten?«

Misty trägt ihren Mantel, ihren Mantel und ihre Schuhe, und am Revers hat sie eine von diesen scheußlichen großen Broschen, die Peter ihr geschenkt hat.

Die ihr Mann ihr gegeben hat.

Die du ihr gegeben hast.

Den ganzen Nachmittag in dem zugemauerten Wäschezimmer. An der Wand war zu lesen: »... werdet unsere Welt nicht stehlen, um die Welt zu ersetzen, die ihr kaputtgemacht habt...«

Und Angel sagte: »Hier ist die Handschrift anders. Sie verändert sich.« Er machte das nächste Foto und spannte die Kamera. Er sagte: »Weißt du, in welcher Reihenfolge dein Mann an diesen Häusern gearbeitet hat?«

Misty erklärte ihm, ein neuer Besitzer soll sein Haus nur nach Vollmond beziehen. Nach der Tradition der Zimmerleute soll ein neues Haus als Erstes vom Lieblingshaustier der Familie betreten werden. Als Nächstes sollen ins Haus gehen: das Maismehl, das Salz, der Besen, die Bibel und das Kruzifix.

Erst dann kann die Familie mitsamt den Möbeln einziehen. So will es der Aberglaube.

Und Angel, der weiterhin fotografierte, sagte: »Was? Das Maismehl soll da auf eigenen Füßen reinspazieren?«

Beverly Hills, die Upper East Side, Palm Beach: Heutzutage, sagt Angel Delaporte, ist auch der beste Teil irgendeiner Stadt bloß eine Superluxussuite in der Hölle. Draußen vor der Haustür hast du immer noch dieselben verstopften Straßen mit allen anderen gemeinsam. Du und die obdachlosen Drogensüchtigen, ihr atmet immer noch dieselbe stinkige Luft und hört dieselben Polizeihubschrauber die ganze Nacht Verbrecher jagen. Mond und Sterne überstrahlt von den Lichtern einer Million Gebrauchtwagenhändler. Alles drängt sich auf denselben verdreckten Bürgersteigen und sieht denselben schmierig roten Sonnenaufgang im Smog.

Angel sagt, reiche Leute sind nicht sonderlich tolerant. Geld gestattet dir, dich einfach von allem zurückzuziehen, was nicht schön und vollkommen ist. Du kannst dich bloß noch mit angenehmen Dingen abfinden. Du verbringst dein Leben mit Weglaufen, Ausweichen, Fliehen.

Dieses Streben nach Schönheit. Ein Schwindel. Ein Klischee. Blümchen und Weihnachtslichter: Wir sind programmiert, so was zu mögen. Etwas Junges und Hübsches. Die Frauen im spanischen Fernsehen mit dicken Titten und schmaler Taille: als ob sie dreifach verbogen wären. Die Vorzeigefrauen, die im Hotel Waytansea zu Mittag essen.

An der Wand steht geschrieben: »... ihr mit euren Exfrauen und Stiefkindern, euren Mischfamilien und gescheiterten Ehen, ihr habt eure Welt kaputtgemacht, und jetzt wollt ihr meine kaputtmachen...«

Das Dumme ist, sagt Angel, dass uns die Orte ausgehen, an die wir uns zurückziehen können. Deshalb hat Will Rogers den Leuten immer gesagt, dass sie Land kaufen sollen: Niemand kann das mehr.

Deshalb haben die Reichen in diesem Sommer Waytansea Island entdeckt.

Früher war es Sun Valley, Idaho. Dann Aspen, Colorado. Key West, Florida. Lahaina, Maui. Alles von Touristen überrannt, und die Einheimischen dürfen ihnen die Drinks bringen. Jetzt ist es Waytansea Island, der perfekte Rückzugsort. Für alle, nur nicht für die, die schon da leben.

An der Wand steht: »... ihr mit euren schnellen Autos, die im Stau festgefahren sind, mit eurem teuren Essen, das euch fett macht, euren Häusern, die so groß sind, dass ihr euch immer einsam fühlt...«

Und Angel sagt: »Sieh mal, wie gedrängt die Schrift hier ist. Die Buchstaben sind richtig gequetscht.« Er macht ein Foto, spannt die Kamera und sagt: »Peter hat große Angst.«

Mr. Angel Delaporte flirtet, er legt seine Hand auf ihre. Er gibt ihr die Flasche, bis sie leer ist. Das alles ist schön und gut, solange er sie nicht wie alle deine anderen Kunden auf dem Festland verklagt. Alle die Sommerleute, die ihre Schlafzimmer und Wäscheschränke verloren haben. Alle, deren Zahnbürsten du dir in den Arsch gesteckt hast. Nicht zuletzt deshalb hat Misty das Haus so schnell der katholischen Kirche gespendet: damit man es ihr nicht wegpfänden konnte.

Angel Delaporte sagt, es ist ganz natürlich, dass wir uns zurückziehen wollen. Als Spezies beanspruchen wir einen Platz für uns und verteidigen ihn. Mag sein, dass wir wandern, dass wir der Sonne oder irgendwelchen Tieren nachziehen, aber wir wissen, dass wir Land zum Leben brauchen, und sichern uns instinktiv einen Platz.

Deshalb singen Vögel: Damit markieren sie ihr Territorium.

Sedona, Key West, Sun Valley, das Paradoxon zahlloser Leute, die alle an denselben Ort ziehen, um allein zu sein.

Misty zieht mit dem Zeigefinger die schwarze Schrift nach. Sie sagt: »Als du vom Stendhal-Syndrom gesprochen hast, was hast du damit gemeint?«

Und während er weiter fotografiert, sagt Angel: »Das ist nach dem französischen Schriftsteller Stendhal benannt.«

Die Worte, die sie nachzieht, die lauten: »... Misty Wilmot wird euch alle in die Hölle schicken...«

Deine Worte. Du Mistkerl.

Stanislawski hatte Recht, man kann immer wieder neuen Schmerz empfinden, wenn man etwas entdeckt, was man eigentlich längst schon weiß.

Stendhal-Syndrom, sagt Angel, das ist ein medizinischer Fachausdruck. Gemeint ist damit, wenn ein Gemälde oder irgendein Kunstwerk so schön ist, dass es den Betrachter überwältigt. Die Wirkung gleicht einem Schock. Als Stendhal 1817 in Florenz die Kirche Santa Croce besichtigte, sei er vor Wonne fast ohnmächtig geworden, schreibt er. Die Leute bekommen heftiges Herzklopfen. Ihnen wird schwindlig. Im Anblick großer Kunst vergisst man seinen Namen, man vergisst praktisch alles. Das kann bis zu Depressionen und körperlicher Erschöpfung führen. Amnesie. Panik. Herzinfarkt. Kollaps.

Nur um das festzuhalten: Misty findet, dass Angel Delaporte ziemlichen Scheiß redet.

»Wenn man zeitgenössischen Berichten glauben kann«, sagt er, »hat Maura Kincaids Kunst eine Art Massenhysterie hervorgerufen.«

»Und heute?«, sagt Misty.

Angel zuckt die Achseln. »Keine Ahnung.« Er sagt: »Was ich davon gesehen habe, ist ja ganz nett, aber bloß Landschaften, hübsch anzusehen.«

Er sieht nach ihrem Finger und sagt: »Spürst du was?« Er macht ein Foto und sagt: »Komisch, wie sich die Dinge ändern.«

»... wir sind arm«, hat Peter geschrieben, »aber wir besitzen, wonach sich jeder Reiche sehnt... Frieden, Schönheit, Ruhe...«

Deine Worte.

Dein Leben nach dem Tod.

Heute Abend auf der Heimfahrt ist es Will Tupper, der Misty das Bier in der Papiertüte reicht. Er lässt sie an Deck trinken, obwohl es verboten ist. Er fragt, ob sie in letzter Zeit etwas gemalt hat. Irgendwelche Landschaften vielleicht?

Der Mann mit dem Hund, der Mann auf der Fähre sagt, der Hund sei ausgebildet, Tote aufzuspüren. Wenn Leute sterben, verströmen sie einen sehr starken Geruch, und was da so stinkt, heißt Adrenalin, sagt der Mann. Der Geruch der Angst.

Misty trinkt das Bier aus der braunen Tüte und lässt ihn einfach reden.

Das Haar des Mannes ist an den Schläfen weit zurückgewichen, die nackte Kopfhaut vom kalten Wind gerötet, und das Ganze sieht aus, als hätte er Teufelshörner. Er hat Teufelshörner, und sein ganzes Gesicht ist rot und runzlig verkniffen. Dynamische Runzeln. Laterale Kanthorhytiden.

Der Hund dreht den Kopf nach hinten über die Schulter, er versucht von ihr wegzukommen. Das Aftershave des Mannes riecht nach Gewürznelken. An seinem Gürtel, unter der Jacke, hängt ein Paar Handschellen.

Nur um das festzuhalten: Das Wetter heute ist zunehmend chaotisch mit der Möglichkeit eines physischen und psychischen Zusammenbruchs.

Der Mann hält die Hundeleine und sagt: »Sind Sie sich sicher, dass es Ihnen gut geht?«

Und Misty antwortet: »Glauben Sie mir, ich bin nicht tot.«

»Kann sein, dass meine Haut tot ist«, sagt sie.

Stendhal-Syndrom. Adrenalin. Graphologie. Das Koma der Details. Der Bildung.

Der Mann zeigt mit dem Kinn auf das Bier in der braunen Papiertüte und sagt: »Sie wissen, dass Sie in der Öffentlichkeit nicht trinken dürfen, oder?«

Und Misty sagt: Was? Ist er etwa Polizist?

Und er sagt: »Wissen Sie's? Aber es stimmt. Ja, bin ich.« Der Mann klappt seine Brieftasche auf und hält ihr die Dienstmarke hin. Auf dem silbernen Stück Blech steht eingraviert: Clark Stilton. Detective. Sondereinheit Hasskriminalität Seaview County.