2. Juli
Okay, okay. Scheiße.
Nur um das festzuhalten: Misty ist auch nicht unschuldig an diesem Durcheinander. Die arme kleine Misty Marie Kleinman. Nach der Scheidung der Eltern ein Schlüsselkind, fast immer allein zu Haus.
Alle im College, alle ihre Freundinnen im Kunstleistungskurs haben ihr gesagt: Tu's nicht.
Nein, haben sie gesagt. Nicht Peter Wilmot. Nicht »Peter den Rammler«.
Die Kunstschule des Ostens, die Meadows-Kunstakademie, die Wilson-Kunsthochschule - Gerüchten zufolge war Peter Wilmot überall rausgeflogen.
Du bist da überall rausgeflogen.
Peter war auf jeder Kunstschule in elf Bundesstaaten angemeldet und erschien zu keiner einzigen Unterrichtsstunde. Er hat keine Sekunde in seinem Atelier verbracht. Die Wilmots mussten ziemlich reich sein, jedenfalls war nach fünf Jahren Studium seine Mappe immer noch leer. Seine Vollzeitbeschäftigung war der Flirt mit jungen Frauen. Peter Wilmot hatte langes schwarzes Haar und trug immer diese ausgeleierten bräunlich-blauen Zopfmusterpullover. An einer Schulter war ständig eine Naht offen, und der Saum hing ihm fast bis auf die Oberschenkel.
Dicke, dünne, junge oder alte Frauen. Immer trug Peter seinen verlotterten blauen Pullover, den ganzen Tag hing er auf dem Campus rum und flirtete mit allem, was einen Rock anhatte. Zum Gruseln, dieser Peter Wilmot. Mistys Freundinnen zeigten eines Tages mit den Fingern auf ihn, auf seinen Pullover, der an den Ellbogen und unten am Saum in Auflösung begriffen war.
Dein Pullover.
Am Rücken waren Maschen aufgegangen, durch die Löcher war Peters schwarzes T-Shirt zu sehen.
Dein schwarzes T-Shirt.
Sein Schmuck war das einzige, was Peter von einem obdachlosen, ambulant behandelten Geisteskranken mit eingeschränktem Zugang zu Seife unterschied. Oder auch nicht. Sein Schmuck, das waren bloß so bescheuerte alte Broschen und Strassketten. Unförmige Knäuel aus buntem Glas, kratzig von künstlichen Perlen und Strass, die von Peters Pullover baumelten. Riesige Omabroschen. Jeden Tag eine andere. An manchen Tagen ein Windrad aus falschen Smaragden. Oder eine Schneeflocke aus abgesplitterten Glasdiamanten und -rubinen, deren Drahtgestell von seinem Schweiß grün angelaufen war.
Von deinem Schweiß.
Schrottschmuck.
Um das festzuhalten: Zum ersten Mal war Peter von Misty auf einer Ausstellung der Erstsemester gesehen worden, als sie mit einigen Freundinnen vor einem Gemälde stand, das ein wuchtiges altes Steinhaus zeigte. Auf einer Seite öffnete sich das Haus zu einem großen verglasten Raum, einem Wintergarten voller Palmen. Durch die Fenster war ein Klavier zu sehen. Und ein Mann, der in einem Buch las. Ein kleines privates Paradies. Ihre Freundinnen sagten, das sehe aber hübsch aus, die Farben und alles, und dann sagte jemand: »Nicht umdrehen, Peter der Rammler ist im Anmarsch.«
Misty sagte: »Peter wie?«
Und jemand sagte: »Peter Wilmot.«
Jemand anders sagte: »Bloß keinen Blickkontakt aufnehmen.«
Alle ihre Freundinnen meinten zu Misty, dass sie ihn nur nicht ermutigen solle. Wenn Peter irgendwo reinkam, hatten plötzlich alle anwesenden Frauen einen Grund hinauszugehen. Nicht dass er direkt stank, aber trotzdem versuchten sie irgendwie, sich hinter ihren Händen zu verstecken. Nicht dass er ihnen auf die Brüste starrte, aber die meisten Frauen verschränkten trotzdem ihre Arme davor. Wenn man eine Frau mit Peter Wilmot reden sah, legte ihr Frontalis-Muskel ihre Stirn in Querfalten: ein Beweis dafür, dass sie Angst hatte. Peters Augenlider waren immer halb geschlossen, aber nicht wie bei einem, der sich gerade verliebte; eher sah es aus, als ob er wütend wäre.
An jenem Abend in der Kunstgalerie gingen Mistys Freundinnen dann jedenfalls auseinander.
Und schon war sie mit Peter allein. Er stand mit seinen fettigen Haaren und dem Pullover und dem alten Schrottschmuck da, die Hände in die Hüften gestemmt, schaukelte auf den Absätzen, sah sich das Bild an und sagte: »Und?«
Ohne sie anzusehen, sagte er: »Bist du auch so ein feiges Huhn und läufst davon wie deine Freundinnen?«
Er sagte das mit vorgewölbter Brust. Seine Lider waren halb geschlossen, und das Kinn ging hin und her. Er knirschte mit den Zähnen. Dann drehte er sich um und ließ sich mit dem Rücken so heftig gegen die Wand fallen, dass das Bild neben ihm aus der Senkrechten geriet. Die Schultern an der Wand, die Hände in den Taschen seiner Jeans, lehnte er da an der Wand. Er machte die Augen zu und holte tief Luft. Langsam ausatmend, öffnete er die Augen wieder, starrte sie an und sagte: »Und? Was hältst du davon?«
»Von dem Bild?«, sagte Misty. Das wuchtige Steinhaus. Sie rückte es wieder gerade.
Und Peter sah zur Seite, ohne den Kopf zu wenden. Nur die Augen verdrehte er und besah sich das Bild über die Schulter. Er sagte: »Ich bin neben diesem Haus aufgewachsen. Der mit dem Buch, das ist Brett Petersen.« Und dann lauter, viel zu laut: »Ich möchte wissen, ob du mich heiraten willst.«
Das war Peters Heiratsantrag.
Dein Heiratsantrag. Bei der ersten Begegnung.
Er war von der Insel, das sagten sie alle. Das ganze Wachsfigurenkabinett von Waytansea Island, alle diese vornehmen alten Inselfamilien, die bis zur Mayflower-Verfassung zurückgingen. Diese vornehmen alten Stammbäume, wo jeder mit jedem verwandt war. Wo seit zweihundert Jahren niemand mehr hatte Silberbesteck kaufen müssen. Zu jeder Mahlzeit aßen sie Fleisch, und die Söhne schienen allesamt denselben schäbigen alten Schmuck zu tragen. Hatten ihre eigene regionale Mode. Alte, mit Schindeln verkleidete Steinhäuser, aufgetürmt an Elm Street, Juniper Street, Hornbeam Street, einfach so von der salzhaltigen Luft verwittert. Sogar ihre Golden Retriever waren allesamt aus Inzucht hervorgegangen.
Die Leute sagten, auf Waytansea Island gebe es praktisch nur Museumsstücke. Die miefige alte Fähre, auf die nur sechs Autos passen. Die drei Querstraßen weit reichende Zeile aus roten Backsteinhäusern an der Merchant Street, der Lebensmittelladen, der alte Uhrturm der Bücherei, die Geschäfte. Die weißen Schindeln und die voll verglasten Terrassen des geschlossenen alten Hotels Waytansea. Die Kirche, ein Bau aus Granit und buntem Glas.
Damals, in der Galerie der Kunstakademie, trug Peter eine Brosche: außen ein Kreis schmutzig blauer Strasssteine, innen ein Kreis künstlicher Perlen. Einige der blauen Steine fehlten, und die leeren Fassungen hatten scharfe, schartige kleine Zähne. Silber, aber verbogen und schwarz angelaufen. An einer Seite ragte die Spitze der langen Nadel hervor und sah von Rostflecken ganz picklig aus.
Peter nahm einen Schluck Bier aus einem großen, mit dem Namen einer Sportmannschaft bedruckten Plastikbecher. Er sagte: »Falls du nicht vorhast, mich zu heiraten, hat es keinen Sinn, dich zum Essen einzuladen, stimmt's?« Sein Blick wanderte an die Decke, dann zu ihr, und er sagte: »Ich finde, diese Vorgehensweise spart allen Beteiligten eine ganze Menge Zeit.«
»Nur um das festzuhalten«, erwiderte Misty, »dieses Haus existiert gar nicht. Das habe ich erfunden.«
Misty hat es dir gesagt.
Und du hast gesagt: »Du erinnerst dich an dieses Haus, weil es noch in deinem Herzen ist.«
Und Misty hat gesagt: »Woher zum Geier willst du wissen, was in meinem Scheißherzen ist?«
Die großen Steinhäuser. Moos an den Bäumen. Ozeanwellen, die heranrauschen und sich an den braunen Felsklippen brechen. All das war in ihrem kleinen armen Herzen.
Vielleicht, weil Misty immer noch stehen blieb, vielleicht, weil du gedacht hast, sie ist dick und einsam und nicht vor dir weggelaufen, hast du lächelnd zu der Brosche an deiner Brust hinuntergesehen. Dann hast du Misty gefragt: »Gefällt dir die?«
Und Misty hat gesagt: »Wie alt ist die?«
Und du hast gesagt: »Alt.«
»Was sind das für Steine?«, sagte sie.
»Blaue«, war deine Antwort.
Nur um das festzuhalten: Es war nicht einfach, sich in Peter Wilmot zu verlieben. In dich.
Misty sagte: »Wo stammt die her?«
Und Peter schüttelte leicht den Kopf und grinste den Fußboden an. Kaute an der Unterlippe. Sah mit verkniffenen Augen nach den wenigen Leuten, die noch in der Galerie waren, sah dann Misty an und sagte: »Versprichst du mir, dass du nicht gleich ausflippst, wenn ich dir was zeige?«
Sie sah über die Schulter nach ihren Freundinnen; sie standen hinten im Raum vor einem Bild, schauten aber zu ihr herüber.
Und Peter, den Hintern immer noch an der Wand, beugte sich vor und flüsterte: »Um echte Kunst zu machen, muss man leiden.«
Nur um das festzuhalten: Peter hat Misty einmal gefragt, ob sie wisse, warum sie gerade jene Kunst möge, die sie möge. Wieso könne man eine schreckliche Schlachtszene wie Picassos Guernica als schön empfinden und ein Bild von zwei Einhörnern, die sich in einem Blumengarten küssen, als den letzten Scheiß?
Weiß überhaupt irgendwer, warum er was mag?
Warum die Leute tun, was sie tun?
Eines von den Bildern in der Galerie musste von Peter sein, also sagte Misty, von ihren Freundinnen belauert: »Ja. Zeig mir mal, was echte Kunst ist.«
Und Peter nahm einen Schluck Bier und reichte ihr den Plastikbecher. »Denk dran, du hast mir was versprochen.« Und packte mit beiden Händen den Saum seines Pullovers und zog ihn hoch. Wie einen Theatervorhang. Eine Enthüllung. Unter dem Pullover zeigte sich sein flacher Bauch, in der Mitte mit etwas Haar bewachsen. Dann sein Nabel. Das Haar breitete sich seitlich aus, bis um die rosa Brustwarzen herum, die jetzt langsam zum Vorschein kamen.
Der Pullover, Peters Gesicht dahinter verborgen, blieb hängen, und eine Brustwarze hob sich, rot und verschorft, als längliche Spitze von seiner Brust: Irgendwie klebte sie an der Innenseite des Pullovers fest.
»Sieh hin«, sagte Peter durch den Pullover, »ich hab die Brosche durch die Brustwarze gesteckt.«
Jemand stieß einen spitzen Schrei aus, und Misty fuhr herum und starrte ihre Freundinnen an. Der Plastikbecher fiel ihr aus der Hand und klatschte auf den Boden. Bier spritzte umher.
Peter ließ den Pullover wieder sinken und sagte: »Du hast mir was versprochen.«
Sie war das gewesen. Die rostige Nadel ging an einer Seite der Brustwarze rein und an der anderen wieder raus. Die Haut in der Umgebung war mit Blut verschmiert. Die Haare klebten in angetrocknetem Blut. Es war Misty gewesen. Sie hatte da geschrien.
»Ich mache jeden Tag ein neues Loch«, sagte Peter und bückte sich, um den Becher aufzuheben. Er sagte: »Damit ich jeden Tag neue Schmerzen empfinde.«
Als sie jetzt hinsah, war der Pullover um die Brosche herum von dunklem Blut verkrustet. Immerhin, sie war hier auf der Kunstakademie. Sie hatte schon Schlimmeres gesehen. Oder aber auch nicht.
»Du«, sagte Misty, »du bist ja verrückt.« Sie lachte grundlos auf, vielleicht im Schock, und sagte: »Im Ernst. Du bist widerlich.« Ihre Füße waren in den Sandalen vom Bier ganz klebrig.
Wer weiß schon, warum wir mögen, was wir mögen?
Und Peter sagte: »Schon mal von der Malerin Maura Kincaid gehört?« Er drehte an der Brosche in seiner Brust so, dass sie im hellen Licht der Galerie aufblitzte. So, dass die Wunde weiter blutete. »Oder von der Malerschule auf Waytansea?«, sagte er.
Warum tun wir, was wir tun?
Misty sah zu ihren Freundinnen hinüber, und die sahen zurück: die Augenbrauen hochgezogen, bereit, ihr zu Hilfe zu eilen.
Und sie sah Peter an und sagte: »Ich heiße Misty«, und hielt ihm die Hand hin.
Und langsam, ohne den Blick von ihr zu wenden, griff er nach der Brosche und öffnete den Verschluss. Seine Gesichtsmuskeln zuckten, verkrampften sich für eine Sekunde. Falten nähten ihm die Augen zu, als er die lange Nadel aus dem Pullover zog. Aus seiner Brust.
Aus deiner Brust. Mit deinem Blut verschmiert.
Er ließ die Brosche zuschnappen und legte sie ihr in die Hand.
Er sagte: »Also, willst du mich heiraten?«
Er sprach das wie eine Herausforderung, als wäre er auf eine Schlägerei aus, als würde er ihr den Fehdehandschuh ins Gesicht werfen. Wie eine Aufforderung zum Duell. Seine Augen berührten sie von oben bis unten, ihre Haare, ihre Brüste, ihre Beine, ihre Arme, ihre Hände, als wäre Misty Kleinman der Rest seines Lebens.
Lieber geliebter Peter, kriegst du das mit?
Und die kleine Schwachsinnige aus der Wohnwagenkolonie, sie nahm die Brosche an.