10
Zwei Tage später betrat Richard Brinsley Sheridan die Buchhandlung in der Holborn Passage. Man hatte Samuel Ireland eine Stunde zuvor durch eine hastig hingekritzelte Nachricht gewarnt. Nun stand er zu Sheridans Begrüßung bereit. «Mein lieber Sir. Welche Ehre.» Sheridan verbeugte sich. «Wir sind alle unglaublich stolz.»
«Wo steckt der junge Mann der Stunde?» Wegen seiner stattlichen Figur hatte Sheridan Mühe, sich umzudrehen, als William die Treppe herunterkam. «Sind Sie das?»
«Ich bin William Ireland, Sir.»
«Sir, darf ich Ihnen die Hand drücken? Sie haben einer großen Sache einen Dienst erwiesen.» Sheridan betonte jedes Wort, als wäre es für ein unsichtbares Publikum bestimmt. «Meines Erachtens war es Mr Dryden, der Vortigern als großartiges Thema für ein Drama empfahl.»
«Das wusste ich bislang nicht, Sir.»
«Warum sollten Sie auch? Seine Vorworte sind im Allgemeinen nicht bekannt.»
«Leider.»
«Offensichtlich ist ihm unser Barde zuvorgekommen.» Schwungvoll zog Sheridan das Manuskript aus seiner Rocktasche. «Ihr Vater hat es mir letzten Dienstag per Droschke geschickt. Verbindlichsten Dank.» Sheridans Augen funkelten vor Begeisterung. «Hierin verbergen sich kühne Ideen, Sir, auch wenn einige unbeholfen und noch nicht ganz ausgegoren wirken.»
«Sir?» William wirkte ziemlich verblüfft.
«Shakespeare muss noch ein sehr junger Mann gewesen sein, als er es schrieb. Da gibt es eine Zeile – » Sheridan mimte das personifizierte Gedächtnis und legte die Hand auf die Stirn. «‹Unter dem ewig wandelnden Himmelszelt, fleh ich Verzeihung vom Vater fern.› Wandelnd und fern haben eine zu ähnliche Bedeutung, aber das wandelnde Himmelszelt ist wahrlich außergewöhnlich.» William sah ihn sprachlos an. «Nun ja, Mr Ireland, ich bin kein Kritiker, sondern Theatermacher. Dieses Stück wird das Drury Lane füllen. Ein neues Drama von William Shakespeare. Entdeckt unter mysteriösen Umständen. Das gibt eine Sensation.»
«Werden Sie es aufführen?»
«Das Drury Lane hat es gelesen. Das Drury Lane schätzt das Stück. Das Drury Lane nimmt es an.»
«Vater, das sind ja wundervolle Neuigkeiten!»
«Ich sehe bereits Mr Kemble als Vortigern vor mir», fuhr Sheridan fort. «Eine ungemein stattliche Gestalt auf unserer Bühne. So imposant. So wuchtig. Und Mrs Siddons als Edmunda? Ganz leicht und graziös. Ein wirklich zauberhaftes Geschöpf!»
«Dürfte ich mir einen Vorschlag erlauben? Mrs Jordan als Suetonia.» William hatte Sheridans Stimmung aufgegriffen. «Ich habe sie letzte Woche in Die verleumdete Braut gesehen. Mr Sheridan, ich war überwältigt.»
«Sie haben eine Künstlerseele, Mr Ireland. Sie verstehen uns. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich Mrs Jordan als Suetonia förmlich vor mir.» Sheridan schloss tatsächlich die Augen. «Und was ist mit Harcourt als Wortimerus? Wenn Sie ihn im Zerrissenen Schleier gesehen hätten, hätten Sie sich zu Tode gefürchtet. Er war hinreißend. Aber, was meinen Sie?» Zögernd sah er sich nach Samuel Ireland um. «Sollten wir das Stück mit dem Hinweis ‹Vermutlich von Shakespeare› ankündigen? Falls irgendwelche Zweifel aufkommen sollten? Wie stehen Sie dazu?»
Samuel Ireland trat einen Schritt zurück. Plötzlich wirkte er noch aufrechter. «Mr Sheridan, was gibt es hier zu bezweifeln?»
«Nur ein paar klitzekleine Sachen. Einige Unregelmäßigkeiten in der Sprachmelodie. Ein paar kleine Reimfehler. Ein winziger Hauch von Zweifel.»
«Hier gibt es nichts zu bezweifeln. Wenn wir zweifeln», sagte William, «löschen wir das Licht aus.»
«Eine gute Metapher, Sir. Sie klingen ein wenig wie der Barde, wenn ich das so sagen darf.»
«Ich hege nicht den Ehrgeiz, Theaterstücke zu schreiben, Mr Sheridan.»
«Und doch war Shakespeare wahrscheinlich in Ihrem Alter, als er dieses Stück schrieb.»
«Dazu kann ich nichts sagen.» William lächelte. «Das weiß ich nicht.»
«Natürlich, das weiß niemand.» Sheridan wandte sich wieder an Samuel Ireland. «Mein Sekretär, Mr Dignum, hat die Rollen abgeschrieben. Es wäre eine große Ehre, wenn Sie und Ihr Sohn morgen Abend unseren Pizarro besuchen würden. Sie müssen eine Vorstellung von der Breite unseres Repertoires bekommen.»
Und so betraten die Irelands am nächsten Abend das Drury Lane. Unter gleißenden Argand-Lampen stiegen sie über eine Marmortreppe ins große Foyer hinauf, auf dessen Deckengemälde Sir John Hammond vor zehn Jahren Euterpe, die Muse der Musik, Melpomene, die Muse der Tragödie, und Terpsichore, die Muse des Tanzes, im Reigen mit mehreren Putten und Schäfern dargestellt hatte.
«Gäste von Mr Sheridan!» Mit diesen Worten verkündete Samuel Ireland dem Platzanweiser in der typischen grünen Drury-Lane-Uniform seine Ankunft. Doch dieser machte keinerlei Anstalten, ihn wahrzunehmen. «Persönliche Gäste des Direktors, von Mr Sheridan!»
Der Platzanweiser kratzte sich unter seiner gepuderten Silberperücke, nahm den gereichten Zettel entgegen und verglich ihn mit einer handgeschriebenen Liste, die an einer der vergoldeten Foyersäulen klebte. Dann sagte er mit einer Verbeugung: «‘amlet-Loge. Folgen Sie mir.»
Er brachte Vater und Sohn über eine goldverzierte und mit Teppich ausgelegte Ebenholztreppe in den Gang vor dem ersten Rang hinauf, wo auf purpurroten Samttapeten Stiche von Garrick, Betty, Abingdon und anderen Theatergrößen prangten.
Die Hamlet-Loge roch nach feuchtem Stroh, Lakritzbonbons und Kirschen. So rochen alle Londoner Theater. William sog diesen Geruch ebenso genüsslich ein wie die Parfüm- und Pomadewolken, die aus dem Parterre aufstiegen, wo sich das Publikum angeregt unterhielt. Heute Abend gab man die zweite Vorstellung des musikalischen Dramas Pizarro, das in Peru spielte, zur Zeit des spanischen Feldzugs gegen die Inka. Bereits die ersten Takte der Ouvertüre schlugen das Publikum in Bann. William hatte das Gefühl, als würde er sich in dem Schleier aus Licht und Tönen auflösen, der über den Zuschauern hing. Als sich der Theatervorhang hob, sah man einen Fluss, einen Wald und eine schneebedeckte Gebirgskette. Der Flusslauf wirkte ganz natürlich, und die Bäume raschelten in einer Brise, die über die Bühne wehte. Für William war diese Dekoration schöner, intensiver und bunter als die echte Welt draußen vor der Tür. Und dann marschierte die spanische Armee mit Piken und Musketen auf der Bühne ein. Vor Begeisterung klatschte William in die Hände und beugte sich seitlich über den Logenrand, um einen Blick auf Charles Kemble in der Rolle des spanischen Generals Pizarro zu erhaschen. Während der Schauspieler zur Bühnenmitte schritt, war das Publikum bereits aus dem Häuschen und rief «Bravo!» und «Hurra!» Plötzliches Musketenfeuer steigerte die Stimmung noch.
Mit einer Handbewegung bat Kemble um Ruhe. «Wir sind gekommen, um eine stolze und fremde Rasse zu unterwerfen – »
«Das ist großartig», flüsterte Samuel Ireland seinem Sohn zu. «Das übertrifft alles.»
William beobachtete Kemble fasziniert. Der Mann hatte sich in einen spanischen Konquistador verwandelt. Er sah nicht nur so aus und bewegte sich wie einer, er war es, durch und durch. Hatte Kemble sich in Pizarro verwandelt oder umgekehrt? Beide waren zu einem Wesen verschmolzen. William erlebte einen erhabenen Moment. Hier war der Beweis, dass man aus dem Gefängnis des eigenen Ichs fliehen konnte. De Quincey hatte sich geirrt.
Jetzt trat unter lang anhaltendem Applaus Mrs Siddons als Inkaprinzessin Elvira auf. Sie wandte sich direkt ans Publikum, als stünde es mit ihr auf der Bühne: «Der Glaube, dem wir folgen, lehrt uns, ein liebend Band zu allen Menschen zu knüpfen und in der Hoffnung auf eine Seligkeit jenseits des Grabes einst zu sterben.» Sie rezitierte ihre Zeilen in einem hohen Singsang und kreuzte dabei die Hände vor der Brust, um zu zeigen, dass sie es durch und durch ehrlich meinte. «Sagt dies euren Anführern, und sagt ihnen auch, wir gieren nicht nach Veränderung. Am wenigsten nach einer, wie ihr sie uns bringen wollt.»
Jetzt hatte William begriffen: Das war der wahre Sinn des Theaters. Es erlaubte den Schauspielern, eine Verbindung mit den Zuschauern einzugehen und dadurch das eigene Ich abzustreifen. Warum hatte er daran nicht schon früher gedacht? Die stufenweise Erhöhung der Schauspieler im Laufe dieser rituellen Verwandlung über das bloße Dasein als Männer und Frauen hinaus entsprach einer erweiterten Bewusstseinsebene im Publikum.
Auf der Bühne wurde gerade ein Inkaritual zelebriert. Mrs Jordan war mit Federschmuck und Leopardenfell aufgetreten und tanzte nun mit Mr Clive Harcourt alias Coro. Im Orchester spielte eine Sologeige eine pathetische Melodie, die dem ganzen Drury Lane wie ein Wunder erschien. William lehnte sich zurück und staunte über dieses Schauspiel. Dabei stach ihm an der seitlichen Logenwand ein Stich von Garrick ins Auge, der den Schauspieler als Hamlet darstellte, in Betrachtung des Totenschädels versunken.
Hochgestimmt verließen Vater und Sohn das Theater. In ihnen waren erste Gestaltungsmöglichkeiten für Vortigern gekeimt.
«Ich sehe Ruinen vor mir», erklärte Samuel William, «und Wälder, die sich bis zum Horizont erstrecken.»
«Mr Kemble spielt ungemein ausdrucksvoll.»
«Er verfügt über eine bemerkenswerte Stimme.»
«Und strahlt immenses Gefühl aus. Er wird den Voltigern großartig darstellen.»
«Außerdem hat er ein hinreißendes Auftreten. Ich bin restlos überwältigt.» Sie gingen nach Norden, vorbei an der Macklin Street und an Smart’s Garden. «William, du musst mich deiner Gönnerin vorstellen. Ich muss mich bei ihr bedanken, weil sie dir erlaubt – weil sie dir gestattet hat – »
«Die Manuskripte waren ihr Geschenk an mich. Das habe ich dir bereits erklärt, Vater. Sie will unter keinen Umständen an die Öffentlichkeit treten.»
«Aber doch wenigstens ein Vater – »
«Nein, Sir, nicht einmal du.»
«William, ich habe sehr sorgfältig darüber nachgedacht. Was wäre, wenn irgendein Kritiker – irgendeine undankbare Kreatur – behauptete, dieses Stück sei gar nicht von Shakespeare?»
«Ich würde es abstreiten.»
«Aber im Falle eines Disputs wäre sie deine einzige Zeugin.»
«Im Falle eines Diputs? Vater, hier gibt es keinen Disput. Zu so etwas wird es gar nicht kommen. Jeder, der das Drury Lane betritt und dieses Stück sieht, wird erkennen, dass es von Shakespeare stammt. Daran wird niemand zweifeln.»
Samuel Ireland war nicht restlos überzeugt. Schon oft hatte er mit Rosa das unvorhersehbare Verhalten seines Sohnes diskutiert. Manchmal schloss sich William ohne jede Begründung stundenlang in seinem Zimmer ein. Das hatte Rosa herausgefunden. Oft hatte man den Eindruck, er würde die ganze Nacht mit irgendeiner Beschäftigung verbringen. Rosa vermutete dahinter eine Frau, auch wenn sie keinerlei Beweise für die Anwesenheit einer weiblichen Person entdecken konnte. Da William keinen von beiden in sein Zimmer ließ, blieb es bei Vermutungen. Als Rosa diese Beobachtung gegenüber Samuel erwähnte, lachte der nur.
«Rosa, wie könnte er sie an uns vorbeischmuggeln? Denk doch mal nach. Weder kann er sich mit einer Frau treffen noch sie hierher bringen. Denk doch nur an den Lärm. An die knarzenden Bretter.»
In der Tat konnte man im Esszimmer jedes Geräusch aus Williams Zimmer darüber vernehmen. Allerdings hörten sie ihn immer nur herumlaufen.
«Und was ist mit Miss Lamb, Sammy? Ist da etwa nichts?»
«Miss Lamb ist eine gute Freundin. Und eine Kundin.»
«Warum hat er mitten im Sommer Feuer gemacht?» Sie hatten weißen Rauch aus dem mittleren Schornstein aufsteigen sehen.
Ihre Frage schien keinem konkreten Gedankengang zu folgen, und so hatte er keine Antwort parat. «Wirklich, Rosa, ich kann nicht für meinen Sohn sprechen.»
«Irgendwas führt er im Schilde.»
«Und was genau sollte das sein?»
«Woher soll ich das wissen?» Rosa tat ganz gleichgültig. «Mich geht es ja nichts an, womit sich dein Sohn beschäftigt.»
In dem Moment kam William von der Buchhandlung herauf. Und damit war ihr Gespräch beendet.
Drei Tage nach der Pzzarro-Aufführung erlebten die Irelands im leeren Zuschauerraum des Drury Lane eine Probe von Vortigern. Sie saßen auf Hockern seitlich in den Kulissen, während Charles Kemble und Clive Harcourt auf der Bühne herumstolzierten. Man hatte die Rolle des Wortimerus mit Harcourt besetzt, einem schlanken Mann mit feinen Gesichtszügen.
«Verstrickt in tiefen Netzen des Verrats, tret ich,
Mein Vater, vor dich hin und fleh Erbarmen.»
Bisher hatte der Schauspieler so unbedeutend und unwichtig gewirkt, doch nun erwachte er plötzlich, wie von einer unsichtbaren Macht erfüllt, zum Leben. William konnte nur noch staunen. Der Mann schien sogar zu wachsen. Der stämmige, pompöse Kemble hatte sich in Vortigern verwandelt.
«Weh mir! Dereinst hätts dieser Bitte nicht bedurft,
Doch nun durchbohrt ein schwärend’ Dorn mein Herz,
Ein düsteres Geheimnis zehrt an mir. Mein Sohn, mein Sohn,
Wenn einer in dir kühnen Ehrgeiz weckte,
Auf dass nun Bosheit die Verschwörung lenkt,
Dann ich. Ich war’s, der zum Verrat dich trieb.»
Er brach ab. Er war mit seiner Darstellung nicht zufrieden. «Sheridan, müsste ich nicht unterschwellig andeuten, dass der Sohn mehr Schuld hat als der Vater?» Er klang immer noch wie Voltigern. «Der Sohn hat seinem Vater zuliebe den Onkel ermordet. Das steht fest. Aber warum sollte sich deshalb der Vater Vorwürfe machen?» Sein Blick suchte Unterstützung bei William.
«Der Vater hat ihn dazu angestachelt», sagte William. «Ohne die Anwesenheit seines Vaters hätte er die Verschwörung nicht ausgeheckt.»
«Seine Anwesenheit? Das ist hochinteressant.» Kemble trat an die Bühnenrampe und blickte in den abgedunkelten Zuschauerraum hinaus. Durch die Kuppellaterne fielen ein paar Lichtstrahlen herein, in denen hin und wieder Staubkörnchen flirrend aufblitzten. «Ich muss mich anwesend zeigen, auch wenn ich gar nicht auf der Bühne bin?» Er drehte sich wieder zu Sheridan um. «Ist das möglich?»
«Für dich ist nichts unmöglich.»
«Man könnte mich lachen hören, vielleicht auch singen. Die Kulissen würden das Echo meiner Stimme wiedergeben.»
«Vortigern singt nicht, Sir», warf William ganz leise und vorsichtig ein.
«Mr Ireland, Sie könnten doch sicher ein Lied schreiben, eine zum Stil passende, alte englische Ballade.»
«Ich bin kein Dichter, Mr Kemble.»
«Ach, nein? Ich habe doch etwas aus Ihrer Feder in den Westminster Words gelesen.»
Offensichtlich fühlte sich William geschmeichelt, weil eine so bedeutende Persönlichkeit seine Essays bemerkt hatte. «Vielleicht könnte ich mir eine Strophe ausdenken, wenn Sie so – »
«Lassen Sie es nach Shakespeare klingen. Etwas Aufwühlendes mit Schwertergeklirr und Rabenflug. Sie wissen schon, was ich meine.»
Allmählich wurde Mrs Siddons in der Rolle der Edmunda ungeduldig. «Falls Mr Kemble bereit wäre, könnten wir ein Stück im Originaltext weitermachen.» Sie war eine relativ kleine Frau, aber sobald sie den Mund aufmachte, wirkte sie auf William wie eine Hünin. Ihre Stimme ging ihr gewissermaßen voraus und warnte die Menschen vor ihrem Erscheinen. «Ich halte es immer für einen Fehler, wenn man vom Original abweicht. Finden Sie nicht auch?»
Obwohl sie niemanden direkt angesprochen hatte, trat Kemble zu ihr und sagte: «Wir sind für dich bereit, Sarah.»
Sie nahm ihren Text zur Hand und begann zu lesen:
«Genug. Mit Recht trifft beide euch das Urteil,
Die Ehre ihr, Geschlecht und Vaterland besudelt habt.
Und wie ein Fallbeil möge rasche Straf
Zerschlagen den kühnen finst’ren Plan.
So schändlich nie ein Labyrinth ersonnen ward.»
«Sarah, meine Liebe, du hast etwas in den Haaren.»
Sie legte ihre Hände an den Kopf. Eine Motte flatterte auf. Harcourt fing schallend zu lachen an, ging in die Knie und wälzte sich auf der Bühne.
Sie betrachtete ihn angewidert und meinte: «Für einen kleinen Mann machst du ziemlich viel Lärm.»
Die Proben dauerten bis weit in den Nachmittag hinein. Dann erklärte Mrs Siddons, ohne einen Kamillentee würde sie tot umfallen. William war immer noch in bester Laune. Wörter, die er bisher nur auf dem Papier gesehen hatte, waren zum Leben erwacht und hatten sich, je nach schauspielerischer Gestaltung, in übersteigerte oder vorsichtige Gefühle verwandelt.
An diesem Abend verließ er zusammen mit seinem Vater das Theater. Beide gingen rasch dahin, als wollten sie mit ihren eigenen Gedanken Schritt halten. Plötzlich wäre William beinahe mit einem großen jungen Mann zusammengestoßen, der gerade die Catherine Street überqueren wollte. William erkannte ihn sofort wieder. Er hatte ihn an dem Abend, als er sich mit Charles gestritten hatte, im Salutation and Cat getroffen. «Lieber Himmel, ich kenne Sie», sagte er. «Charles hat uns miteinander bekannt gemacht.»
«Drinkwater, Sir. Siegfried Drinkwater.»
Ireland stellte ihn seinem Vater vor, der sich vor dem jungen Mann verbeugte und damit zum Ausdruck brachte, welch große Ehre es ihm sei, seine Bekanntschaft zu machen.
«Und wie geht es Pyramus und Thisbe?»
«Wissen Sie das denn nicht? Das Spiel wurde abgesagt.»
«Warum?»
«Miss Lamb geht es sehr schlecht. Sie kann ihr Zimmer nicht verlassen.»
«Was?» William hatte von den Lambs nichts gehört. Er bedauerte seinen Streit mit Charles. Der Auslöser dafür war ihm entfallen, aber umso besser erinnerte er sich an die leidenschaftlichen Argumente, die er in seinem betrunkenen Zustand vorgebracht hatte. «Was hat sie denn?»
«Irgendein Fieber. Charles weiß es nicht genau.»
«Ich kenne den Grund dafür. Sie hat sich von ihrem Sturz nie erholt.» Der nächste Satz galt seinem Vater: «Sie ist ausgerutscht und versehentlich in die Themse gefallen. Ich habe dir davon erzählt.»
«Nun ja», meinte Siegfried, «damit heißt es wohl: Ade, Schnauz und Flaut.»
Am anderen Morgen begab sich William zu einer Zeit in die Laystall Street, zu der er Charles im Büro vermutete.
Tizzy öffnete. Bei seinem Anblick kicherte sie merkwürdig. «Ach, sind Sie das, Mr Ireland? Sie haben sich aber rar gemacht.»
«Ich hatte keine Ahnung von Miss Lambs Krankheit. Ich bin sofort gekommen, nachdem ich – »
«Sie ist immer noch etwas mitgenommen, aber sie ist schon wieder auf den Beinen. Bitte, warten Sie unten.»
Beim Betreten des Salons sah er Mr Lamb im Schneidersitz auf dem türkischen Teppich sitzen. «Hüte dich vor dem Wachmann», beschwor ihn der alte Mann. «Der Wachmann kommt, wenn es keiner weiß.»
«Verzeihung, Sir?»
«Es kommt nachts. Das ist das Alter.» Er versank in Schweigen.
Wenige Augenblicke später tauchte Tizzy auf. «Sie kommt sofort herunter, Mr Ireland.»
«Bitte, keine Umstände meinetwegen. Wenn sie immer noch unpässlich ist – »
«Sie braucht Abwechslung.»
Als Mary ins Zimmer trat, begriff William, dass sie sich verändert hatte. Sie wirkte viel ruhiger, als würde sie sich innerlich auf ein Ziel konzentrieren. Sie begrüßte William mit einem flüchtigen Kuss auf die Wange. Diese Geste verblüffte ihn. Tizzy hatte sich schon wieder umgedreht und nichts gesehen. Mr Lamb verschränkte die Arme und schaukelte auf dem Teppich vor und zurück.
«Ihr letzter Besuch ist lange her, William.»
«Ich hatte keine Ahnung, dass Sie indisponiert waren.»
«Indisponiert? Keineswegs, ich habe mich nur ausgeruht.»
«Natürlich.»
«Trotzdem ist es nett, dass Sie vorbeischauen. Vater und ich sprechen oft von Ihnen. Nicht wahr, Papa?» Mr Lamb sah seine Tochter furchtsam an und sagte nichts. «Sie müssen eine Tasse Tee trinken. Tizzy!» Das Dienstmädchen blieb stehen, drehte sich um und kam zurück ins Zimmer. «Bitte, Tee für unseren Gast.» Ihre Stimme klang streng und unversöhnlich. «Setzen Sie sich, William. Erzählen Sie mir etwas.»
Sie machte ihn nervös und verlegen. «Im Drury Lane laufen bereits die Proben zum Stück. Kemble spielt den Vortigern.»
«Ach ja? Das wird Charles aber freuen.» Sie wirkte zerstreut und schien kaum zu hören, was er sagte. «Ich frage mich wirklich, wo der Tee bleibt. Typisch Tizzy. Sie bringt immer alles durcheinander. Papa, ich wundere mich, wie du sie erträgst.» Mr Lamb schaukelte weiter vor und zurück. «Haben Sie gehört, dass Charles unsere Aufführung von Pyramus und Thisbe durchkreuzt hat? Das war wirklich ganz böse von ihm.»
«Ich habe Mr Drinkwater auf der Straße getroffen.»
«Tatsächlich? Sie haben Flaut getroffen? Armer Flaut, er ist völlig unmusikalisch.»
Darauf wusste William keine Antwort. «Ich werde Ihrer Familie Karten schicken.»
«Karten?»
«Für den Vortigern, Miss Lamb.»
«Ach, warum sagen Sie nicht ‹Mary› zu mir?»
Sie brach in Tränen aus.
William schaute entsetzt zu, während Tizzy wieder ins Zimmer stürzte. «Nun, Miss, es war doch nicht gut, dass Sie nicht im Bett geblieben sind, stimmt’s? Sie haben sich eine Erkältung geholt, und jetzt bezahlen Sie dafür.»
Sie bedeutete William, er solle gehen. Mit einem hilflosen Blick auf Mr Lamb, der immer noch auf dem Teppich saß, schritt er zur Tür hinaus.