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«Pferdegeruch ist mir zuwider.» Mary Lamb trat ans Fenster und nestelte sanft am ausgeblichenen Spitzensaum ihres Kleides herum. Obwohl es längst aus der Mode gekommen war, trug sie es ungerührt, als würde sie der Wahl ihrer Kleidung keine Bedeutung beimessen. «Die ganze Stadt ist eine einzige Kloake.» Außer ihr war niemand im Salon. Sie reckte ihr Gesicht nach oben, der Sonne entgegen. Seit einer Erkrankung vor sechs Jahren war ihre Haut von Blatternnarben entstellt. Deshalb hielt sie ihr Gesicht ans Licht und malte sich aus, es sei der mit Kratern übersäte Mond.
«Ich habe es gefunden, Schwesterherz. Es hatte sich in Ende gut, alles gut versteckt.» Charles Lamb platzte mit einem schmalen grünen Bändchen in der Hand ins Zimmer.
Lächelnd drehte sie sich um. Sie ließ sich von der Begeisterung ihres Bruders mitreißen und wieder auf die Erde zurückholen. «Ist es wirklich so?»
«Was denn, Schwesterherz?»
«Dass am Ende alles gut wird?»
«Das möchte ich doch sehr hoffen.» Die obersten Knöpfe seines Leinenhemdes standen offen, sein Halstuch war nur locker gebunden. «Darf ich dir vorlesen?» Er ließ sich in einen Sessel fallen und schlug sofort die Beine übereinander. An diese raschen, knappen Bewegungen hatte sich seine Schwester längst gewöhnt. Er hielt das Bändchen mit ausgestreckten Armen von sich und rezitierte eine Stelle: «‹Wunder gehören angeblich der Vergangenheit an; heutzutage haben wir unsere Herren Philosophen, die uns übernatürliche und unerklärliche Dinge modern und vertraut erscheinen lassen. Folglich verniedlichen wir das Entsetzen, indem wir uns hinter scheinbarem Wissen verschanzen, obgleich wir uns der unbekannten Furcht überantworten sollten.› So schreibt Lafew an Parolles. Das entspricht exakt dem Hobbes’schen Gedankengebäude.»
Meistens las Mary dieselben Bücher wie ihr Bruder, wenn auch langsamer. Sie ging mehr in ihnen auf. Beim Lesen saß sie an jenem Fenster, wo das Licht sie noch vor wenigen Augenblicken berührt hatte, und hing den durch die Lektüre wachgerufenen Empfindungen nach. Wie hatte sie zu ihrem Bruder gesagt? In diesem Moment fühlte sie sich als Teil des Weltengeistes. Sie las, um bei den Gesprächen mit Charles mithalten zu können. Sie waren der große Trost ihres Lebens geworden. Immer wenn er nach seiner Arbeit in der Zentrale der Ostindien-Kompanie abends nüchtern heimkehrte, unterhielten sie sich ausführlich. Sie vertrauten sich einander an und sahen im Gesicht des anderen die gleiche Seele aufleuchten.
«Wie hieß das nochmals – ‹scheinbares Wissen›? Charles, du hast eine so klare Aussprache. Ich wäre froh, wenn ich deine Begabung besäße.» Sie bewunderte ihren Bruder im gleichen Ausmaß, wie sie sich selbst gering schätzte.
«Worte, Worte, Worte.»
«Würde so etwas auch auf uns bekannte Menschen zutreffen?», wollte sie von ihm wissen.
«Was denn, Schwesterherz?»
«Scheinbares Wissen und unbekannte Furcht?»
«Das musst du mir näher erklären.»
«Soll ich mich, was Papa betrifft, einer unbekannten Furcht überantworten, obwohl ich ihn scheinbar kenne?»
An diesem Sonntagmorgen waren ihre Eltern gerade auf dem Heimweg von der Dissenter-Kapelle an der Ecke Lincoln’s Inn Lane und Spanish Street. Mary beobachtete, wie ihre Mutter und ihr Vater langsam die Gässchen überquerten. Sie waren höchstens noch hundert Meter vom Haus entfernt. Mr Lamb litt unter beginnender Senilität, aber Mrs Lamb stützte ihn mit ihrem kräftigen rechten Arm.
«Und dann wäre da noch Selwyn Onions», fuhr Mary fort. Dieser arbeitete wie Charles als Kontorist in der Leadenhall Street. «Anscheinend kenne ich seine Streiche und Scherze. Soll ich mich, in Anbetracht seiner boshaften Geisteshaltung, dennoch einer unbekannten Furcht überantworten?»
«Onions? Der ist kreuzbrav.»
«Das wage ich zu bezweifeln.»
«Schwesterherz, du schaust zu sehr in die Tiefe.»
Es war ein später Herbsttag, die untergehende Sonne malte rote Flecken auf die Ziegelmauern der gegenüberliegenden Häuser. Auf der Straße lagen Orangenschalen, Zeitungsfetzen und dürres Laub herum. An der Straßenecke umklammerte eine alte Frau mit einem weiten Schultertuch den Pumpenschwengel.
«Was heißt hier ‹zu sehr in die Tiefe›?» Das leichtfertige Gerede ihres Bruders überraschte sie. So etwas war gefühllos. Sie vertraute doch auf sein einfühlsames Wesen. Es gab ihrem Leben einen Sinn.
«Mary, es gibt nun mal Personen ohne Tiefgang. Onions gehört dazu.» Er ärgerte sich über sein unloyales Verhalten gegenüber seinem Freund und wechselte rasch das Thema. «Warum sind Sonntage so schrecklich? Ich habe frei, und trotzdem ist alles langweilig und trostlos. Das bringt mich um meine Lebenslust. Nirgendwo kann man in Ruhe nachdenken.» Er sprang vom Sessel auf und stellte sich neben seine Schwester in den Erker. «Erst in der Dämmerung erwacht dieser Tag zum Leben. Doch dann ist es zu spät. Ich werde mich jetzt in mein Zimmer begeben und mit Lawrence Sterne beschäftigen.»
An dieses Verhalten war sie gewöhnt. Wie sagte sie insgeheim? «Von Charles verlassen zu werden» sei ein «zusammengesetztes Verb», das ein komplexes Gefühl aus Verlust, Enttäuschung und Erwartung widerspiegle. Trotzdem fühlte sie sich nicht einsam.
Sie war selten allein zu Hause. Und da waren ihre Eltern auch schon. Als sie hörte, wie ihre Mutter den Schlüssel ins Schloss steckte, richtete sie sich instinktiv gerader auf, als wollte sie sich gegen eine Gefahr wappnen. Während Mr Lamb seine Stiefel auf der Strohmatte neben der Türe abstreifte, bat Mrs Lamb ihr Dienstmädchen Tizzy, die Blätter wegzufegen. Jetzt würde sich Charles noch tiefer in seinen Sessel vergraben, um sich durch die Lektüre von Sterne gegen die Geräusche des Hauses abzuschirmen. Das wusste Mary ganz genau. Sie drehte sich zum Fenster, als ihre Eltern den Raum betraten, und stellte sich darauf ein, wieder ganz Tochter zu sein.
«Mary, setz dich zu deinem armen Vater, während ich einen Eierpunsch zubereite. Vielleicht hat er sich erkältet.» Mr Lamb schüttelte lachend den Kopf. «Was sagten Sie soeben, Mrs Lamb?» Sein Blick wanderte zu den Füßen seiner Frau hinunter. «Sie haben ganz recht. Ich habe noch meine Holzschuhe an. Ich bin sicher, Ihnen entgeht auch gar nichts.»
«Zieh sie aus», sagte er. Dann lachte er wieder.
Mary Lamb hatte den langsamen Verfall ihres Vaters interessiert verfolgt. Früher hatte er als Geschäftsmann alle erdenklichen Angelegenheiten schnell und effizient erledigt und geordnet, als ginge es in den Kampf gegen einen unsichtbaren Feind. Jeden Abend war er mit der Aura eines Siegers ins Haus an der Laystall Street heimgekehrt. Doch eines Tages waren seine Augen vor Schreck geweitet gewesen. «Ich weiß nicht, wo ich gewesen bin», war alles, was er gesagt hatte. Kaum merklich begann er zu entgleiten. Er, der Marys Vater gewesen war, wurde erst ihr Freund und zu guter Letzt ihr Kind.
Charles Lamb schien den Zustand seines Vaters nicht zu beachten; er mied den alten Mann nach Möglichkeit und äußerte sich mit keinem Wort zu dessen stetigem Verfall. Wenn Mary das Gespräch auf «Papa» brachte, hörte er ihr geduldig, aber wortlos zu. Er konnte nicht darüber sprechen.
Mr Lamb rieb sich in freudiger Erwartung des Eierpunsches begeistert die Hände.
Kaum hatte ihre Mutter den Raum verlassen, setzte sich Mary neben ihn auf die ausgeblichene grüne Ottomane. «Papa, hast du beim Gottesdienst mitgesungen?»
«Der Pastor hat sich geirrt.»
«Wieso?»
«In Worcestershire gibt es keine Kaninchen.»
«Wirklich nicht?»
«Nein, und auch keine Milchbrötchen.»
Mrs Lamb glaubte unerschütterlich daran, dass dem Gefasel ihres Mannes ein Hauch Weisheit innewohnte, aber Mary wusste es besser. Und doch interessierte sie sich jetzt mehr für ihn als früher. Dieser unentwegte Strom an merkwürdigen, aus dem Zusammenhang gerissenen Satzteilen faszinierte sie. Es war, als führte die Sprache ein Selbstgespräch.
«Papa, ist dir kalt?»
«Nur ein Irrtum in den Geschäftsbüchern.»
«Meinst du?»
«Ein Tag, den man sich im Kalender rot anstreichen muss.»
Mrs Lamb kam mit einer Schale Eierpunsch zurück. «Mary, meine Liebe, du hältst ja deinen Vater davon ab, sich an den Kamin zu setzen.» Sie war immer misstrauisch, als könnte ihr irgendetwas auf der Welt entgleiten. «Wo ist dein Bruder?»
«Er liest.»
«Was für eine Überraschung! Trinkt vorsichtig, Mr Lamb! Mary, hilf deinem Vater.»
Mary mochte ihre Mutter nicht sonderlich. Sie sah in ihr eine neugierige Frau, die ihre Nase in Angelegenheiten steckte, die sie nichts angingen. Die Wachsamkeit ihrer Mutter wirkte auf sie irgendwie feindselig. Mary wäre nie auf die Idee gekommen, dass sich dahinter Furcht verbergen könnte.
«Nicht schlürfen, Mr Lamb, sonst bekleckern Sie sich.»
Vorsichtig nahm Mary ihrem Vater die Schale ab und begann, ihn mit dem Porzellanlöffel zu füttern. Ihr ganzes Leben bestand aus solchen Aufgaben. Tizzy war zu gebrechlich, um alle Putz- und Kocharbeit im Haushalt zu erledigen, deshalb übernahm Mary die beschwerlichsten Aufgaben. Für ganze zehn Shilling pro Woche hätten sie sich eine junge Dienstmagd leisten können, aber Mrs Lamb war aus Prinzip dagegen, noch eine Person aufzunehmen, die den sorgsam ausgewogenen Haushalt und die Ruhe der Familie Lamb stören könnte.
Mary fügte sich einigermaßen willig in ihre Rolle. Charles ging ins Kontor, und sie kümmerte sich um den Haushalt. So würde es immer sein. Jedenfalls hatte sie sich nach ihrer Krankheit noch mehr zurückgezogen. Sie bildete sich ein, die Narben im Gesicht hätten sie zu einem bemitleidenswerten oder abscheulichen Objekt gestempelt. Sie wollte sich keinesfalls zur Schau stellen.
Charles ging im darüber liegenden Zimmer auf und ab. Sie hatte sich an seine Schritte gewöhnt. Damit bereitete er sich aufs Schreiben vor. Ehe er zur Feder griff, ordnete er im Gehen seine Gedanken. Er lief auf einem schmalen Teppich am Fußende seines Bettes herum. Noch drei oder vier Runden, dann würde er sich an seinen Sekretär setzen und beginnen. Man hatte ihn Matthew Law vorgestellt, dem Herausgeber der Westminster Words. Dieser hatte die Abhandlung des jungen Mannes über die Schauspielkunst am Old Drury Lane begeistert gelesen und ihn mit einem Essay zu diesem Thema beauftragt. Bereits drei Tage später hatte Charles abgeliefert. Der Artikel hatte mit einem schwungvollen Absatz über den Schauspieler Munden geendet: «Die Betrachtung eines Butterfasses gerinnt ihm zur platonischen Idee. Er begreift einen Hammelbraten in seinem innersten Wesen. Verwundert steht er zwischen den Dingen des täglichen Lebens wie der Mensch der Frühzeit unter Sonne, Mond und Sternen.» Laut Matthew Law war dies eine «flammende Suada». Seither lieferte Charles regelmäßig Beiträge für das Wochenblatt. Momentan schrieb er an einem Artikel zum Lob der Schornsteinfeger. Durch die Lektüre von Sterne wollte er herausfinden, ob sich sein Lieblingsautor jemals mit diesem Thema befasst hatte.
Charles verdiente weiterhin seinen Lebensunterhalt als Kontorist bei der Ostindien-Kompanie. Darauf hatte seine Mutter bestanden. Trotzdem betrachtete er sich selbst eher als Schriftsteller. Seit seiner Studentenzeit am Christ’s Hospital hatte seine ganze Hoffnung und sein ganzer Ehrgeiz der Literatur gegolten. Regelmäßig las er seine Gedichte Mary vor, die sehr aufmerksam, ja fast feierlich lauschte. Es war, als hätte sie selbst sie geschrieben. Er hatte ein Drama verfasst, in dem er den Darnley übernahm, während sie die schottische Königin Maria Stuart mimte. Ihre Rolle hatte sie zutiefst aufgewühlt. Noch immer konnte sie einige Zeilen ihres damaligen Textes aufsagen.
«Mary, ruf deinen Bruder zum Nachtmahl.»
«Er arbeitet an seinem Essay, Mama.»
«Schweinekoteletts werden seinem Essay nicht schaden, wage ich zu behaupten.»
Keine der beiden Frauen nahm von Mr Lambs Bemerkung über rote Haare Notiz.
Mary war zur Tür gegangen, aber Charles stand schon mitten auf der Treppe.
«Es duftet nach Schweinefleisch, Schwesterherz. Der Starke mag sich an ihm gütlich tun und der Schwächling seine milden Säfte nicht zurückweisen.»
«Francis Bacon?»
«Nein. Charles Lamb. Ein subtilerer Geist. Buon giorno, Mama.»
Mrs Lamb führte ihren Mann in das kleine Speisezimmer auf der Rückseite des Hauses, von wo man einen Ausblick auf einen schmalen Gartenstreifen hatte. Am hinteren Ende stand eine gusseiserne Pagode, daneben lagen die Überreste eines Laubfeuers. Am Vormittag zuvor hatten Mrs Lamb und Mary ganze Arme voll Laub vom Rasen und von den grauen Schieferplatten gesammelt und danach angezündet. Während der süßliche Rauch in den bewölkten Londoner Himmel stieg, hatte Mary den Duft tief eingeatmet. Ihr war, als würde sie ein Opfer darbringen. Aber welchem unbekannten Gott? Vielleicht dem Gott der Kindheit?
Tizzy stellte eine Sauciere auf den Tisch. Sie litt an einer leichten Schüttellähmung und verschüttete etwas Sauce auf der polierten Tischplatte. Charles benetzte seinen Finger und tupfte sie auf. «Ein paar Brotkrumen, gemischt mit Leber und dazu eine Spur Salbei. Das nenne ich Glückseligkeit.»
«Unsinn, Charles.» Als Mitglied der Fundamentalistischen Gemeinde Holborn hatte Mrs Lamb sehr genaue Vorstellungen über die Glückseligkeit. Trotzdem wirkte sich ihre etwas düster angehauchte Frömmigkeit nicht spürbar auf ihren Appetit aus. Sie sprach das Tischgebet, in das ihre Kinder einfielen, und legte dann die Koteletts vor.
«Warum muss man vor dem Essen beten?», hatte Charles einmal seine Schwester gefragt. «Kann man nicht in aller Stille dafür dankbar sein? Warum spricht man kein Gebet, bevor man zu einem Spaziergang bei Mondschein aufbricht? Warum kein Gebet vor der Lektüre von Spenser? Vor einem Treffen mit Freunden?» Seit Kindertagen hegte Mary eine Abneigung gegen formelle Familienmahlzeiten. Das Herumreichen der Teller, das Austeilen des Essens, das Klirren des Bestecks rief in ihr eine Art Mattheit hervor. Bei solchen Anlässen konnte nur Charles sie wieder aufheitern, der jetzt sagte: «Ich frage mich, wer der größte Narr auf der Welt gewesen ist. Will Somers? Landrichter Schal?»
«Also wirklich, Charles, du vergisst dich.» Mrs Lambs Blick war auf ihren Mann gerichtet, auch wenn er offensichtlich nicht direkt gemeint gewesen war.
Mary lachte. Plötzlich blieb ihr ein Stück Kartoffel im Hals stecken. Rasch sprang sie auf und schnappte nach Luft. Auch ihre Mutter erhob sich vom Tisch, aber Mary wehrte heftig ab. Sie wollte auf keinen Fall von ihr berührt werden. Sie hustete die Kartoffel in die Hand und seufzte.
«Wer wird meine süßen Orangen kaufen?», fragte ihr Vater.
Mrs Lamb nahm wieder Platz und aß weiter. «Charles, du bist sehr spät heimgekommen.»
«Ich habe mit Freunden diniert, Mama.»
«Nennt man das jetzt so?»
Charles war völlig betrunken in die Laystall Street zurückgekehrt. Wie immer hatte Mary auf ihn gewartet. Kaum hatte sie gehört, wie er vergeblich versuchte, den Schlüssel ins Schloss zu stecken, hatte sie die Tür geöffnet und ihn aufgefangen, als er ihr entgegentaumelte. Jede Woche trank er an zwei oder drei Abenden zu viel. Anderntags entschuldigte er sich mit den Worten, er habe «dem Müßiggang gefrönt». Mary rügte ihn nie. Sie meinte zu verstehen, weshalb er trank, und hegte sogar Sympathie dafür. Wenn sie den Mut oder die Gelegenheit gehabt hätte, hätte sie sich jeden Tag betrunken. Lebendig begraben zu sein – war das nicht genug Anlass dazu? Jedenfalls war Charles ein Schriftsteller, und Schriftsteller waren für ihren Hang zum Zechen bekannt. Wie war das bei Sterne oder Smollett gewesen? Nein, laut oder streitsüchtig war ihr Bruder nie; er blieb, was er war, ein netter und umgänglicher Mensch. Allerdings konnte er in diesem Zustand weder stehen noch einigermaßen deutlich sprechen. «Die Sache will’s, die Sache will’s», hatte er gestern Nacht zu Mary gesagt. «Nach dir.»
Er hatte mit zwei Kollegen von der Ostindien-Kompanie im Salutation and Cat am Hand Court, in der Nähe von Lincoln’s Inn Fields, Süßwein und Burton-Bier getrunken. Tom Coates und Benjamin Milton waren etwas klein geraten, sahen adrett aus und hatten dunkle Haare. Beide Männer sprachen schnell und konnten sich über die Bemerkungen des anderen buchstäblich ausschütten. Da Charles ein wenigjünger als Coates war und ein bisschen älter als Milton, empfand er sich als «neutrales Medium, durch das man galvanische Kräfte leiten kann». So hatte er es ihnen gegenüber formuliert. Coates sprach über Spinoza und Schiller, über biblische Eingebung und romantische Phantasie; Milton ließ sich über Geologie und die Erdzeitalter aus, über Fossile und tote Meere. Im Zustand fortgeschrittener Trunkenheit wähnte sich Lamb im Frühstadium der Erde. Was könnte man in einer Gesellschaft, die derart große Geister barg, nicht alles erreichen?
«Habe ich dich gestern Nacht geweckt, Mama?»
«Ich war bereits wach. Mr Lamb war unruhig.» Ihr Ehemann versuchte regelmäßig, sein Wasser zum Schlafzimmerfenster hinaus abzuschlagen, unter dem die Straße vorbeiführte. Diese Gewohnheit stieß bei Mrs Lamb auf heftigen Widerstand.
«Charles, du bist ganz leise gewesen.» Mary hatte sich nach ihrem Hustenanfall inzwischen wieder beruhigt. «Du bist schnurstracks zu Bett gegangen.»
«Ich stehe auf ewig in deiner Schuld, Mary. Über einer solchen Schwester erstrahlt der Himmel.»
«Ich habe deutlich ein Geräusch aus deinem Zimmer vernommen.» Mrs Lamb ließ sich von dieser zur Schau gestellten geschwisterlichen Zuneigung nicht beeindrucken. «Heftiges Getöse.»
In Wahrheit hatte Mary ihrem Bruder beim Treppensteigen geholfen und ihn in sein Schlafzimmer bugsiert. Zärtlich hatte sie seinen Arm gehalten und genüsslich seinen weingetränkten Atem eingeatmet, in den sich leichter Schweißgeruch mischte. Schweißperlen hatten Charles auf der Stirn und im Nacken gestanden. Mary genoss dieses Gefühl körperlicher Nähe, die ihr in den letzten Jahren verloren gegangen war. Charles hatte während des Studiums am Christ’s Hospital auch dort gewohnt. Seine Abreise zu Semesterbeginn rief in ihr regelmäßig eine höchst befremdliche Mischung aus Ärger und Einsamkeit hervor. Er brach in eine Welt auf, wo ihn Kameradschaft und die Vermittlung von Wissen erwarteten, während sie in der Gesellschaft ihrer Mutter und der von Tizzy zurückblieb. In dieser Zeit begann sie, selbständig zu studieren, nachdem sie ihre Arbeiten im Haushalt verrichtet hatte. Man hatte ihr in einem kleinen Hinterzimmer im Dachgeschoss ein Schlafgemach eingerichtet, wo sie ihre von Charles geliehenen Schulbücher aufbewahrte. Darunter eine lateinische Grammatik, ein Griechischlexikon, Voltaires Philosophisches Wörterbuch und eine Ausgabe des Don Quijote. Sie versuchte, mit ihrem Bruder Schritt zu halten, aber oft entdeckte sie nach seiner Rückkehr, dass sie ihn überholt hatte. Er hatte noch nicht einmal die Reden Ciceros bewältigt, da las und übersetzte sie bereits das vierte Buch der Äneis, das von der Liebe zwischen Dido und Äneas handelte. «At regina gravi iamdudum saucia cura», hatte sie zu ihm gesagt. Daraufhin hatte er nur schallend gelacht. «Was meinst du denn damit, Schwesterherz?»
«Das ist Vergil, Charles. Ein Zitat aus Didos Klage.» Wieder lachte er und zauste ihre Haare. Sie versuchte zu lächeln, doch dann senkte sie den Kopf. Sie fühlte sich eitel und töricht.
Aber es gab auch andere Gelegenheiten, bei denen sie abends gemeinsam studierten. Dann brüteten Bruder und Schwester mit leuchtenden Augen über einem Buch und spürten denselben Sätzen nach. Sie unterhielten sich über Roderick Random und Peregrine Pickle, als handelte es sich um lebendige Personen, und dachten sich für Lemuel Gulliver oder Robinson Crusoe neue Szenen und Abenteuer aus. In ihrer Phantasie waren sie selbst auf Crusoes Insel und versteckten sich vor den räuberischen Kannibalen im dichten Gebüsch. Und anschließend widmeten sie sich erneut den Feinheiten der griechischen Syntax. Sie sei eine Griechin geworden, meinte er zu ihr.
«Heftiges Getöse?» In seiner Frage schwang verletzte Unschuld mit. Er wusste wirklich nicht, was sie damit meinte.
Er war mit voller Wucht auf sein Bett gefallen und sofort tief und fest eingeschlafen, als wäre ihm endlich die Flucht gelungen.
Mary hatte seine Stiefel aufgeschnürt und wollte ihm den rechten ausziehen, als sie ausrutschte, rücklings gegen seinen Sekretär fiel und dabei einen Kerzenleuchter und ein Messingschälchen umstieß, in dem ihr Bruder abgebrannte Schwefelhölzchen aufbewahrte. Genau dieses Getöse hatte Mrs Lamb gehört, die auf der anderen Seite des Flurs hellwach in ihrem Bett lag. Charles war davon nicht aufgewacht. Als wieder Stille eingekehrt war, hatte Mary den Kerzenständer und die Schale vorsichtig zurückgestellt, ihrem Bruder behutsam die Stiefel ausgezogen und sich dann neben ihn gelegt. Sie hatte ihre Arme um ihn geschlungen und ihren Kopf so sachte auf seine Brust gelegt, dass er sich im Takt seines Atems hob und senkte. Wenige Minuten später war sie in ihr eigenes Kämmerchen hinaufgeschlichen.
Nach dem Ende des Sonntagsmahls war es üblich, dass Charles seinen Eltern und seiner Schwester etwas aus der Bibel vorlas. Das machte ihm nichts aus, im Gegenteil, er bewunderte die meisterhafte Sprache der King-James-Bibel, deren ausgewogene Satzperioden, deren Sprachmelodie und Wohlklang ihn schon als Kind wie im Sturm mitgerissen hatten. «Ich sah einen Traum und erschrak, und die Gedanken, die ich auf meinem Bette hatte, und das Gesicht, so ich gesehen hatte, betrübten mich.» Man hatte sich im Salon versammelt, wo Mary den Sonnenschein genossen hatte. Charles saß mit dem Prachtband in der Hand hinter einem kleinen Klapptisch. «Papa, das ist die Geschichte von Nebukadnezar.»
«Tatsächlich? Woher wusste er denn, wann er weinen musste?»
«Als Gott ihn tadelte, Mr Lamb.» Mrs Lamb war sehr bestimmt. «Denn alles Fleisch, es ist wie Gras.»
Instinktiv fuhr Marys Hand zum Gesicht, während Charles weiter aus dem Buch Daniel zitierte: «Und ich befahl, daß alle Weisen zu Babel vor mich hereingebracht würden, daß sie mir sagten, was der Traum bedeutete.»