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Punkt zwölf Uhr mittags bog William Ireland in die Paternoster Row ein. Er wusste, dass um diese Zeit die hier ansässigen Buchhandlungen und Buchverkäufer die wöchentliche Ausgabe der Westminster Words geliefert bekamen. Der Herausgeber persönlich holte die in braunes Papier gewickelten und verschnürten Pakete aus dem Inneren einer Mietdroschke und stellte sie zu. Diese Prozedur hatte William bereits in den beiden letzten Wochen miterlebt, als er ungeduldig darauf gewartet hatte, ob man seinen Artikel über das verschollene Shakespeare-Gedicht auch tatsächlich veröffentlicht hatte. Er kannte die Buchhandlungen in diesem Viertel sehr gut. Kaum war die Droschke vorbei, bat er Mr Love von der Buchhandlung Love Volumes um ein Exemplar der Wochenzeitschrift.

«Die Geschäfte gehen schleppend, finden Sie nicht auch, Mr Ireland?»

«Das war doch schon immer so, Mr Love.»

«Naja, sei’s drum.» Love war ein hagerer Mann mit weißem, strähnigem Haar, der seine Gesprächspartner immer nur schief von der Seite ansah. «Mir ist es zu warm, Mr Ireland, und die da mögen dieses Wetter auch nicht.» Er deutete auf seine Bücher. «Die mögen mildes Wetter. Sei’s drum. Wie geht es Ihrem Vater?»

William kaufte die Westminster Words und eilte die Straße hinunter. Er suchte ein abgeschiedenes Fleckchen, wo er in Ruhe in seiner Ausgabe blättern konnte. Er duckte sich hinter einem Stapel Fässer, die der Kärrner sorgfältig zu einer Pyramide aufgeschichtet hatte, und schlug die Wochenzeitschrift auf.

Es war der erste Essay. Die Überschrift war in 12-Punkt hoher Times gesetzt: «Ein unbekanntes Gedicht von William Shakespeare.» Und darunter stand: «Von W. H. Ireland.» Er hatte seinen eigenen Namen noch nie gedruckt gesehen. Er wirkte merkwürdig distanziert auf ihn, als hätte William insgeheim eine andere Identität gehegt, die erst jetzt zum Vorschein gekommen war. Es war, als läse er die einleitenden Worte zum allerersten Mal. In dieser Schriftart wirkten sie viel reifer und gewichtiger. Wie oft hatte er sich diesen Moment schon ausgemalt, und so war die Freude darüber noch größer.

 

«Bislang hieß es, man würde nie wieder neue Werke aus der Feder von William Shakespeare entdecken, und der Schatz seiner dramatischen Dichtung, wie ihn die Welt kennt, sei in sich geschlossen. Doch wie in so vielen anderen Aspekten der Shakespeare-Forschung hat sich die landläufige Meinung auch in diesem Punkt geirrt…»

 

Edmond Malone las diesen Artikel in einer Nische von Parkers Kaffeehaus direkt hinter der Chancery Lane. Mit verblüffter Miene lehnte er sich gegen die Eichenvertäfelung, nahm seine Brille ab und wollte auf der Stelle zahlen. Dann setzte er seinen Hut auf und eilte, mit den sauber gefalteten Westminster Words unter dem Arm, schnurstracks auf die Straße hinaus. Wenige Minuten später stand er vor Irelands Buchhandlung. Die Türglocke zitierte Samuel Ireland höchstpersönlich herbei, der unter dem Ladentisch gekniet und Mäusekot inspiziert hatte.

«Einen wunderschönen Tag wünsche ich, Mr Malone. Ist denn schon Nachmittag?»

«Ja, ja. Was soll das bedeuten?» Malone legte die Wochenzeitschrift auf den Ladentisch.

Samuel Ireland schlug das Exemplar auf, hielt es sich vor die Nase und las es aufmerksam. Dabei wurde er immer kurzatmiger und schnaufte heftig. «Ich hatte nicht die geringste Ahnung – » Er zog sein Taschentuch heraus und schnäuzte sich lautstark. «Man hat mir nichts davon gesagt – » Er schnäuzte sich noch einmal. «Diese Überraschung verheißt ganz und gar nichts Gutes.»

«Nun, Sir, wo ist es?»

«Es?»

«Das Gedicht, das Ihr Sohn so prächtig beschrieben hat. Das Manuskript. Ich muss es sehen, Mr Ireland.»

«Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wo es sein könnte, Mr Malone. William hielt es nicht für angebracht – » Mit jedem Wort wurde Samuel wütender. «Mein Sohn hatte nicht die Güte, mir auch nur ein Wort davon mitzuteilen. Er hat mir diese Sache bewusst vorenthalten. Er hat mich betrogen.»

«Dieses Gedicht gehört nicht Ihrem Sohn, sondern der ganzen Welt.»

«Das weiß ich, Mr Malone.»

In diesem Augenblick betrat William Ireland die Buchhandlung. Da er noch immer vom Anblick seines Namens in den Westminster Words berauscht war, reagierte er gelassen auf die feindselige Miene der beiden Männer. Dann entdeckte er die Wochenzeitschrift auf dem Ladentisch.

«Vater, hast du es gelesen?»

«Was hat das zu bedeuten?»

«Wenn du es gelesen hast, musst du es wohl wissen. Guten Tag, Mr Malone.»

«Ich frage dich noch einmal: Was hat das zu bedeuten?»

«Das werde ich dir erklären. Ich habe lediglich getan, wozu ich deiner Meinung nach nie imstande sein würde. Ich habe einen Essay geschrieben. Und man hat ihn veröffentlicht.»

«Wie konntest du mir so etwas verheimlichen?»

«Vater, du hättest es doch nur an dich gerissen und mir unterstellt, ich könne keinen guten Aufsatz schreiben. Jetzt habe ich dich widerlegt. Das ist alles.»

Wütend starrte Samuel Ireland seinen Sohn an, sagte aber kein Wort.

Edmond Malone war inzwischen ungeduldig geworden. «Das Ganze ist keine Angelegenheit zwischen Vater und Sohn. Wo ist das Gedicht?» Er wandte sich an William. «Sir, Sie haben sehr übereilt und hastig gehandelt und sich in eine Veröffentlichung gestürzt, ehe Sie sicheren Boden unter den Füßen hatten. Woher wissen Sie, dass das Gedicht echt ist?»

«Ich bin mir seiner Herkunft sicher.»

«Ach ja? Und den Beweis für die Echtheit liefert vermutlich der Instinkt. Gelehrte haben bei dieser Verhandlung nichts zu suchen.»

«Der Bettelmann schwingt sich aufs hohe Ross», sagte sein Vater.

Lächelnd blickte William beide an. «Mr Malone, hätten Sie die Güte, einen Augenblick zu warten?» Er lief eilends hinauf. Kurz danach kam er mit einem großen Umschlag zurück. «Mr Malone, dieses Stück vertraue ich Ihrer Obhut an! Untersuchen sie es gründlich nach allen Regeln der Kunst. Sollten Sie auch nur ein Jota an Shakespeares Autorschaft zweifeln, dann dürfen Sie diesen Zweifel getrost an die große Glocke hängen.»

Malone ergriff eilfertig den Umschlag und zog das Manuskript heraus. «Sir, in Ihrem Essay behaupten Sie, es handle sich um ein Liebesgedicht.»

«Lesen Sie selbst.»

«Dieses Vergnügen hatte ich bereits. In den Westminster Words.» Trotzdem las er es noch einmal. «Gott sei Dank finde ich hier nichts, was das Zartgefühl verletzen könnte. Ich hatte schon befürchtet – »

«Das Zartgefühl verletzen?»

«Bei Shakespeare wimmelt es von Derbheiten. Wir leben ständig in der Angst, man könnte irgendetwas herausfinden. So viele Ferkeleien besudeln seine Dichtkunst.»

«Ich versichere Ihnen, dieses Gedicht ist ganz keusch. Mr Malone, Sie müssen mir versprechen, dass Sie es binnen eines Monats wieder zurückbringen werden.»

«Sie werden es schon früher wieder in den Händen halten, Mr Ireland. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, dass dem Blatt nicht das Geringste widerfahren wird.»

«Wir müssen eine Quittung ausstellen.»

«Wie Sie sehen, neigt mein Vater in solchen Angelegenheiten zu Nervosität.»

«William, es handelt sich um etwas Kostbares. Das ist schließlich keine Kleinigkeit.»

Prompt stellte man das kurze Schriftstück aus. Dann verließ Edmond Malone die Holborn Passage und drückte dabei den Umschlag fest an seine Brust.

 

 

Samuel Ireland kam von der Ladentür zurück, wo er Malone winkend verabschiedet hatte. «Du hättest ihm dieses Dokument nicht geben sollen, William.»

«Und warum nicht?»

«Überlege doch mal, wie wertvoll es ist. Genauso gut hättest du ihm einen Sack Guineen überreichen können.»

«Mr Malone ist ein Ehrenmann, etwa nicht?»

«Ehre kann man kaufen und verkaufen.»

Doch dann schien Samuel Ireland seine Worte zu bedauern. Er nahm die Westminster Words zur Hand und vertiefte sich wortlos in den Essay seines Sohnes. Als er fertig war, reichte er William die Zeitschrift.

«Warum hast du mich über dieses Gedicht nicht informiert? Warum musste ich die Sache erst aus einem Journal erfahren?»

«Ich habe dir den Grund dafür schon erklärt. Ich wollte es so.»

«Du wolltest es so? Kennst du denn kein Pflichtgefühl gegenüber deinem eigenen Vater?»

«Natürlich, so weit es die Natur erlaubt. Du hast mir auf den Kopf zugesagt, ich könnte nicht schreiben. Du hast mir immer wieder wortreich klargemacht, ich würde nur zum Ladengehilfen taugen.»

«Das hatte ich damit überhaupt nicht gemeint – »

«Sag mal, Vater, bist du denn nicht auch deinem Sohn etwas schuldig? Du hättest mir Mut machen können.»

«Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt – »

«Den hat es doch noch nie gegeben. Du hättest mir Lust aufs Lernen machen können. Stattdessen musste ich mir alles selbst beibringen.»

«Genau wie ich. Selbsterziehung – »

« – ist die beste Erziehung. Das hast du mir oft genug gepredigt. Na schön. Du hast den Artikel gelesen. Und nun denk darüber nach, ob ich mich selbst nicht richtig erzogen habe.»

Sogar nach dem Abendessen ging der Streit im oberen Stockwerk weiter. Rosa Ponting hatte mit der Bemerkung, sie würde sich für «diese verdammten Papiere» nicht interessieren, das Zimmer verlassen, aber in Wahrheit lauschte sie hinter der geschlossenen Tür. Sie konnte hören, wie Samuel Ireland mit dem Glas gegen seinen Teller stieß. Er war offensichtlich verärgert.

«Mr Malone hat in dieser Angelegenheit keine Rechte. Diese Blätter sind wahre Juwelen. Die kannst du nicht einfach jedem beliebigen Menschen aushändigen.»

«Also darum erhebst du selbst Anspruch darauf? Gehst du deshalb damit wie ein Pfandleiher hausieren? Ich habe sie gefunden. Sie gehören mir. Mit Samuel Ireland hat das alles nichts zu tun, aber auch gar nichts.»

«William, das ist unfair. Das ist nicht gerecht. Deine Gönnerin hätte dich keines Blickes gewürdigt, wenn sie nicht gewusst hätte, dass du in meinem Geschäft arbeitest.»

«Das stimmt nicht.»

«Lass mich ausreden. Du bist in der Öffentlichkeit als mein Sohn bekannt. Mein Ruf steht genauso auf dem Spiel wie deiner.»

«Na, gut, dann ziehe dich von jeder Verantwortung zurück. Unterschreibe ein Dokument, worin du jedes Interesse an dieser Angelegenheit abstreitest. Ich bin überzeugt, Rosa wird dein Dementi gern bezeugen.»

«Warum sagst du so etwas zu mir? Die Bande zwischen Vater und Sohn sind heilig.»

«Was mein ist, ist auch dein?»

«Das hat damit nichts zu tun. Das ist gemein.» Schwer atmend erhob sich Samuel Ireland vom Tisch. «Vielleicht brauchst du meine Hilfe, meinen Rat. Wer weiß, was du vielleicht sonst noch alles entdeckst.»

«Zum Beispiel einen Liebesbrief an Anne Hathaway?»

«Bitte?» Er setzte sich rasch wieder hin.

«Nicht direkt einen Brief, aber ein Billett, ein Liebesbriefchen. Ich konnte doch nicht zulassen, dass Mr Malone alles mitnimmt.»

Samuel Ireland lachte laut auf. «Kompliment, William. Ich gebe mich geschlagen. Hol es her. Lass es mich sehen.»

William zog aus seiner Brieftasche ein Stück Papier, an das mit einem dünnen Faden eine Haarlocke gebunden war, und legte es auf den Esstisch. Er hatte das Objekt mit einer zarten Seidenhülle geschützt. Vorsichtig wickelte sein Vater es aus.

Samuel Ireland konnte die Worte auf dem Papier entziffern: «Sei getrost, dies Band hat keine raue Hand geknüpft. Dein Will allein hat es getan. Darauf versteht er sich. Kein güldner Flitterkram – und so weiter und so weiter. Entschuldige, ich bin überwältigt.»

Die rötlichen Haare auf dem Papier waren leicht gelockt. Er scheute sich, sie zu berühren, und fragte: «Ist es echt? Sind das seine Haare?»

«Warum nicht? Edward der Vierte hatte bei seiner Exhumierung immer noch kräftiges und sehr dunkles Haar. Er starb 1483.»

«Fand sich dieses Briefchen zwischen den anderen Papieren? Im Haus deiner Gönnerin?»

«Selbstverständlich. Wo sonst? Dieses Haus wird eines Tages ein Wallfahrtsort für alle wahren Shakespeare-Liebhaber.»

« Wenn es wirklich jemand finden kann.» Beim Stichwort «Liebesbriefchen» war Rosa Ponting wieder ins Zimmer gekommen. «Lieber Himmel, William, du machst aus allem so ein großes Geheimnis. Wirklich, das macht einen doch ganz rasend. Möchtest du deinem Vater immer noch nicht erzählen, wo diese Person wohnt?»

«Rosa, soll ich dir erzählen, wie sie sich mir gegenüber dazu geäußert hat?»

«Na los, ich liebe Geschichten.»

«Sie hält es für unangebracht, sich den impertinenten Fragen irgendwelcher Individuen auszusetzen. Ihr Ehemann ist erst kürzlich verstorben und hat keine Erklärung zu seinen gesammelten Papieren hinterlassen. Mehr hat sie dazu nicht zu sagen. Außerdem möchte sie als Dame nicht an die Öffentlichkeit treten.»

Naserümpfend machte sich Rosa daran, die Teller abzuräumen.

Samuel Ireland schenkte sich noch ein Glas ein. «Das ist hochanständig von ihr, davon bin ich überzeugt», sagte er. «Trotzdem wird es Fragen geben.»

«Die ich beantworten werde.»

«Ihr Ehemann muss ein höchst bemerkenswerter Sammler gewesen sein.»

«Gewiss. Keiner, der unüberlegt irgendwelche Trivialitäten aufkaufte. Vater, ich stehe kurz vor einer Schlussfolgerung. In Shakespeares Testament steht kein Wort über Bücher oder Papiere.»

«Ich weiß.»

«Vermutlich hat Shakespeares Tochter Susannah mit dem Haus und dem Grundbesitz auch seine persönlichen Gegenstände geerbt.»

«Sie hat Doktor Hall geheiratet.»

«Exakt. Und diese beiden haben alles Elizabeth vermacht, ihrem einzigen Kind, das noch in Stratford gelebt hat.»

Rosa Ponting kam wieder ins Zimmer. «Wahrscheinlich wirst du uns wenigstens erzählen, wo ihr Haus steht.»

«Dieses Haus wurde während des Bürgerkriegs von Cromwells Truppen beschlagnahmt. Das wissen wir. Von den Papieren ist nie wieder die Rede.»

«Du glaubst also, die Soldaten hätten sie an sich genommen? Oder sie zum Anzünden ihrer Harkebusen verwendet?»

«Nein, nicht direkt. Aber unter den Parlamentariern gab es Antiquitätensammler. Als einer von ihnen erfuhr, dass die Soldaten Shakespeares altes Haus besetzt hatten, ging alles ganz leicht. Ein Wort zum Befehlshaber der örtlichen Truppen und schon – »

«Darf er hinein. Wer sollte sich darum scheren, was mit den Kritzeleien eines Theaterdichters geschah, mit einem Parteigänger des Teufels?»

«Ganz genau, Vater. Und doch blieben sie erhalten. Diese Papiere sind ein privater Schatz und keine Leihgabe an die ganze Welt. Man vererbt sie weiter. Und dann entdeckt sie der Ehemann meiner Gönnerin.»

«Kann man sich etwas Schöneres kaufen? Ich frage mich nur, wie viel sie wohl gekostet haben?» Samuel Ireland trat an das kleine Fenster mit Blick auf die Holborn Passage und starrte aufs Pflaster hinunter.

Rosa Ponting hatte es sich in einem Sessel bequem gemacht und betrachtete ihre Stickerei. «Nun, Sammy, du hast mir ja erklärt, sie könnten nur noch wertvoller werden. Nett. Wenigstens hat einer was davon.»

 

 

Binnen einer Woche hatte Edmond Malone das Shakespeare-Fragment zurückgegeben und verkündet, es sei echt. Daran könne niemand ernsthaft zweifeln. Er überreichte es nicht Samuel Ireland, sondern ganz betont William. «Sir, ich muss Ihnen zu Ihrem Eifer gratulieren. Wir stehen alle in Ihrer Schuld.»

«Und die Verse selbst?»

«Verkörpern den erhabenen Genius des Dichters. Es heißt, bei ihm würde sich zu viel Farce in tragische Situationen einschleichen; er stelle Narren an Gräber und mische Hanswurste unter Könige.»

«Besteht da ein Unterschied?»

Auf diese Frage ging Malone nicht ein. «Aber dieses Gedicht ist die personifizierte Keuschheit.»

Man merkte William seine Begeisterung an. Er schüttelte Malone die Hand und lief dann mit den Worten nach oben: «Ich habe noch etwas anderes für Ihre Gelehrtenaugen.» Mit dem Liebesbriefchen und der Haarlocke kam er wieder. «Berühren Sie diese Haare, Mr Malone.»

Der Gelehrte weigerte sich und hob abwehrend die Hände. Er hatte den Text rasch überflogen und seine Bedeutung erkannt. «Damit käme ich ihm zu nahe. In meiner Vorstellung ist diese Locke noch warm. Darin kann man ihn spüren.»

«Heißt das, man würde ihn damit praktisch berühren?»

«Jawohl.»

Diese Vorstellung schien William zu amüsieren. «Mr Malone, ich habe diese Locke einem betagten Perückenmacher gezeigt. Er hat mir versichert, sie sei echt. Solche Haare hatte man damals. Sie waren etwas kräftiger als unsere eigenen.»

«Das bezweifle ich nicht. Inzwischen überrascht mich gar nichts mehr. Das Ganze ist eine einzige, unendlich große Freude.»

«Und da wäre noch etwas.» Samuel Ireland duckte sich unter den Ladentisch und kam mit einem Bündel Blätter wieder hervor. «Ein vollständiges Manuskript.» Man hatte die Blätter vierfach gefaltet und mit einem seidenen Band zusammengebunden. Die Handschrift war klar zu erkennen. «Das ist Lear.» Er betonte die Wörter, als würde er sie auf der Bühne deklamieren. «Das ist keine Abschrift, sondern die Originalhandschrift.»

«Ich habe sie mit dem Text verglichen», sagte William. «Erstaunlicherweise entspricht sie in allen Einzelheiten der Folioausgabe. Mit einer Ausnahme: Sämtliche gotteslästerlichen Flüche wurden gestrichen.»

Sein Vater griff den Faden auf. «Sir, der Barde hat im Stillen sämtliche derben Stellen gestrichen, die Sie uns geschildert haben.»

Und William fügte hinzu: «Vermutlich handelt es sich um Shakespeares Abschrift für den Master of the Revels. Er wollte die Zensur umgehen.»

«Höchstwahrscheinlich. So hat man das oft gemacht. Bei den Aufführungen wurden dann die anstößigen Zeilen wieder eingefügt.» Malone untersuchte die Handschrift sehr sorgfältig. «Das ist also der Barde ohne derbe Zoten. Damit steht zweifelsfrei fest, dass er als Dichter noch vollendeter war, als man bisher geahnt hat.»

«Davon bin ich voll und ganz überzeugt», erwiderte William. «Daran glaube ich felsenfest.»

«Ich halte jene Blätter in den Händen, auf denen Shakespeare gearbeitet hat. Kaum zu glauben.»

«Und doch ist es so, Mr Malone.»

«Zeit meines Lebens hätte ich mir nie träumen lassen – » Er brach ab und fing plötzlich heftig zu weinen an. William half ihm auf einen Stuhl, wo er sich mit einem Taschentuch die Augen wischte. «Pardon. Verzeihung.»

«Sir, es gibt überhaupt keinen Grund, sich zu entschuldigen.» Samuel Ireland strahlte ihn an. «Das haben wir doch alle getan. Es ist eine natürliche Reaktion, die sich nicht unterdrücken lässt. Ich habe oft geweint.» Lächelnd sah er William an. «Ich bin nicht imstande gewesen, meine Gefühle zu bändigen. Mein Sohn ist vermutlich aus härterem Holz geschnitzt.»

«Nein, Vater, du irrst dich. In den letzten Monaten hätte ich jedes Mal vor Freude weinen können. Es ist überwältigend.»

«Dieses Wort trifft es genau.» Malone stand auf. «Überwältigend. Es gestattet mir erneut meine Frage an Sie: Woher stammen diese Schätze?»

«Eine Antwort steht mir nicht zu.»

«Ich muss mich wiederholen. Können Sie uns sagen, aus welcher Quelle diese Papiere stammen? Woher kommen sie?»

«Und ich kann nur das wiederholen, was ich bereits meinem Vater gesagt habe: Mein Gönner wünscht nicht, namentlich an die Öffentlichkeit zu treten. Das würde zu übermäßigem Interesse und Spekulationen über einen Menschen führen, der sich aus der Welt zurückgezogen hat und es bei diesem Zustand unbedingt belassen möchte.»

«Besagte Person», fügte Samuel Ireland hinzu, «genießt unsere tiefste Loyalität und unser vollstes Vertrauen.» Verblüfft musterte William seinen Vater. «Er hat uns um äußerste Diskretion gebeten, die wir gelobt haben. Sir, das ist uns eine heilige Ehre. Und zum Dank dafür erhalten wir diese Geschenke.»

«Das bedauere ich zutiefst. Dennoch wird die vornehme Gesellschaft ihren Ansichten sicher Beifall zollen.» Malone wollte gehen, zögerte aber dann doch. «Wo wir gerade von der Gesellschaft sprechen, Mr Ireland. Ich hätte da einen Vorschlag. Es genügt nicht, über diese Shakespeare-Memorabilien zu lesen. Man sollte sie auch sehen können. Man sollte sie ausstellen.»

«Sir, ich bin Ihnen einen kleinen Schritt voraus. Mein Sohn und ich haben entschieden, die Stücke hier zu präsentieren.» Wieder sah William seinen Vater erstaunt an. «Diese schlichten Räumlichkeiten werden zum Wallfahrtsort für Shakespeare-Freunde werden. Waren das nicht deine eigenen Worte, William?»

«Im Augenblick bin ich sprachlos, Vater.»

«Ein Schrein für den Barden.»

«Das freut mich. Ich bin entzückt.» Malone wischte sich die letzten Tränen aus dem Gesicht. «Sie müssen eine Anzeige im Morning Chronicle aufgeben. Den lesen wir alle. Mr Ireland, dürfte ich noch vor Erscheinen der Anzeige ein oder zwei Verehrer zu Ihrem Schrein schicken?»

«Selbstverständlich, Sir. Das wäre uns eine große Ehre.»

Kaum war Edmond Malone fort, wandte sich William an seinen Vater. «Was sollte die Sache mit meinem Gönner? Ein Gentleman? Vater, du verrennst dich in etwas.»

«Mr Malone fühlt sich geschmeichelt, wenn er glaubt, er genieße unser Vertrauen.»

«Es ist mir restlos egal, wodurch Mr Malone sich geschmeichelt fühlt.» William hieb mit der Faust auf eines der unteren Regalbretter. «Und was meinst du mit einem Schrein?»

«Ich wollte dir nicht die Überraschung verderben. Deshalb habe ich dir nichts davon erzählt.» William merkte gar nicht, dass man ihm seine eigenen Worte ins Gesicht schleuderte. «Merkst du denn nichts? Das übergroße Interesse wird unzählige Besucher zu uns locken.»

«Aber nicht, solange keiner den genauen Ort kennt.»

«William, nimm doch Vernunft an. Wir müssen uns auf die Situation einstellen. Wir müssen die Beweisstücke an einem Ort auslegen, wo die verschiedensten Interessenten sie in aller Ruhe studieren können.»

«Hier? Im Laden?»

«In diesen Räumlichkeiten. Gibt es einen besseren Platz dafür? Wir haben den verglasten Ladentisch und die Regale. Im Schaufenster können wir eine Tafel mit der Aufschrift ‹Das Shakespeare-Museum› aufstellen. Gegen ein kleines Entgelt kann jeder – »

«Nein! Das verbiete ich!»

«Wir müssen einen kleinen Eintrittspreis verlangen. Rosa kann sich an die Ladentür stellen.»

«Kommt nicht in Frage! Geld darf hier nicht ins Spiel kommen. Niemals!»

Samuel Ireland war von der heftigen Reaktion seines Sohnes überrascht. «Wenn du das möchtest.»

«Ja.»

«Dann gibt es hierzu nichts mehr zu sagen.»

«Gut.»

«Nur noch eines, William. Ich bin kein wohlhabender Mann. Du kennst unsere Einnahmen. Von Büchern allein wird man nicht reich.»

«Vater, ich werde dir nicht zuhören.»

«Jetzt bietet sich die einzige Gelegenheit, unsere Situation zu verbessern. Shakespeare war selbst ein Geschäftsmann. Er lebte von seinen Profiten. Glaubst du, er würde uns verdammen?»

«Vater, in dieser Angelegenheit wird nichts für Geld getan.»

«Und wozu dann das Ganze?»

«Für dich.»

«Offen gestanden, das verstehe ich nicht.»

Verlegen lachte William über sein Geständnis. «Du gleichst dem blinden Tiresias. Ein Knabe muss dich führen.»

«Du nimmst mir die Worte aus dem Mund.»

«Daran habe ich mich gewöhnt, Vater.» Plötzlich senkte William den Kopf. «Gut, ich habe nichts dagegen, die Blätter hier auszustellen. Wenn du mir zusicherst, dass dabei kein Geld den Besitzer wechselt, werde ich sie gerne hier unter deiner Aufsicht zeigen.»

Einen Moment ließ sein Vater den Blick durch den Raum schweifen. Mehr Besucher, das könnte auch mehr Kundschaft bedeuten. Viele Gelehrte und Literaturliebhaber würden zum ersten Mal aus Neugierde oder Passion die Holborn Passage betreten und neben den Blättern aus Shakespeares Hand auch den Ladenbestand begutachten. Letztlich entpuppte sich das Ganze doch noch als gewinnträchtiger Plan.

«Einverstanden, William», sagte er, «ich füge mich deinem überlegenen Urteil.»

Noch am selben Nachmittag traf auf Edmond Malones Empfehlung hin einer seiner engsten Freunde ein. Sichtlich verlegen betrat der Künstler und Karikaturist Thomas Rowlandson, ein kurzatmiger Herr mittleren Alters, unter vielen Entschuldigungen die Buchhandlung. Er trug einen himmelblauen Rock mit kastanienbrauner Weste und eine grün karierte Hose.

«Ist das die Stätte? Ist das der Boden, aus dem Shakespeare erneut keimt? Verzeihung, aber Mr Malone hat mich hierher verwiesen. Und Sie sind Mr Ireland?»

William streckte ihm die Hand hin, doch dann trat Samuel Ireland vor. «Wir tragen beide diesen ehrenwerten Namen, Sir.»

«Das freut mich zu hören. Hat Mr Malone mich überhaupt erwähnt? Rowlandson, Sir.»

«Mein Herr, Sie sind allen Shakespeare-Liebhabern bekannt.» Damit spielte der ältere Ireland auf eine Kupferstichmappe von Rowlandson nach Szenen aus Shakespeare-Dramen an. Man hatte sie in der Shakespeare Gallery abgedruckt.

«Eine höhere Macht hat mich geleitet. Sie wissen schon, wen ich meine.»

«Mr Rowlandson, es ist uns eine Ehre.» Jetzt schüttelte ihm Samuel Ireland die Hand.

«Einfach nur Tom.»

«Sie sind der erste Besucher unseres Museums. Leider sind wir noch nicht ganz darauf vorbereitet.»

Rowlandson schwitzte ungemein. «Hätten Sie vielleicht eine Limonade? Oder ein Ingwerbier? Wie Sie sehen, bin ich ziemlich durstig.»

«Oder etwas Stärkeres?» William hatte aus Rowlandsons Gesichtszügen auf dessen Schwachpunkt geschlossen. «Einen Whisky, Sir?»

«Nur einen winzigen Schluck. Ein Tröpfchen mit viel Sodawasser, wenn Sie so freundlich wären. Aber wirklich nur ganz wenig.»

William stieg nach oben ins Esszimmer, holte aus einem mit Schnitzereien verzierten Schränkchen eine Kristallkaraffe, schenkte eine ordentliche Portion ein und goss den Trunk mit einem kleinen Schluck Wasser aus einem Krug auf, der nebenan in der Küche stand. Rowlandson hatte das Glas mit wachsender Ungeduld erwartet und redete erst weiter, nachdem er es auf einen Zug geleert hatte.

«Malone hat mir erzählt, Sie besäßen einen Brief an Mistress Hathaway.»

«Mit einer Haarlocke des Barden.» William nahm Rowlandson das leere Glas ab.

«Darf ich?»

«Sir?»

«Ich möchte nur die Haare berühren.»

«Sie dürfen.» William holte das Liebesbriefchen aus einer Schublade unter dem Ladentisch hervor und präsentierte es dem Besucher.

«Ist das der Brief? Stammt diese Locke tatsächlich von Shakespeare? Sie haben ganz ähnliche Haare, Sir. Kastanienbraun mit hellroten Strähnen.»

Er betrachtete den jungen Mann mit seltsamen, fast scheuen Blicken, aber William war bereits wieder auf dem Weg nach oben, wo er erneut Whisky und ein wenig Wasser ins Glas goss. Als er wieder in den Laden kam, hatte Samuel Ireland eine seiner üblichen Posen eingenommen: Er stand breitbeinig und sehr aufrecht da und hatte die Daumen in seine Westentaschen gehakt.

Rowlandson las soeben das Briefchen an Anne Hathaway. «Das ist gut», sagte er. «Das trifft es genau. Junge Liebe.» Er las laut den Satz vor, der offensichtlich eine Anspielung auf die Locke als Liebesgabe war. «Kein güld’ner Flitterkram, wie er auf Majestätenhäuptern prangt, noch höchste Ehren könnten mich halb so erfreuen wie dies kleine Geschenk von eigener Hand an dich.» Er gab William das Blatt zurück und griff gierig nach dem angebotenen Getränk. «Das ist köstlich, Sir. Ich meine den Brief. Das ist bewegend. Das ist der wahre Geist. Gemeint ist wiederum – » Er brach in lautes Lachen aus. «Dieses Billet doux trifft den echten Ton. Nur noch einen Schluck, wenn’s beliebt. Einen kleinen, einen ganz winzigen.»

Samuel Ireland hatte sich nicht bewegt und meinte nun: «Wir besitzen noch einen Schatz. Ein komplettes Manuskript des Lear.»

«Von ihm selbst geschrieben?»

«Unserer Ansicht nach schon.» William schenkte nach. «Die derben Stellen hat er verändert.»

Rowlandson erinnerte sich wieder an eine Zeile aus diesem Stück: «Oh, ihr Götter! Zweiter Akt, zweite Szene.» Er sackte auf einen Stuhl.

«Allerdings spricht Regan diese Worte, Sir.»

Rowlandson sah bewundernd zu William auf. «Mr Ireland, Sie sind scharfsinnig. Außerdem haben Sie ein gewinnendes Lächeln.»

«Es handelt sich um einen jener Ausdrücke, die der Barde geändert hat. Daraus wurde: ‹Güt’ger Himmel!› Um das Metrum beizubehalten, musste er ‹gütiger› zu einem Zweisilber zusammenziehen.»

Samuel Ireland holte den Lear hervor und überreichte ihn Rowlandson mit einer angedeuteten Verbeugung. Daraufhin stellte der Künstler sein Glas weg, erhob sich und hielt mit zitternden Händen die Manuskriptblätter. «Sehen Sie, ich habe eine ganz heiße, fiebrige Stirn. Sein Feuer erhitzt mich.» Erstaunt beobachtete William, wie Rowlandson auf die Knie sank. «Jetzt kann ich zufrieden sterben. Ich küsse die Aufzeichnungen des Barden und danke Gott, dass ich das noch erleben durfte.»

«Bitte, bleiben Sie doch sitzen», beschwor ihn Samuel Ireland. «Sie werden sich noch wehtun. Der Boden ist sehr rau.»

William hatte Rowlandson in Verdacht, dass er schon bei seiner Ankunft leicht betrunken gewesen war, und half dem Schwankenden in die Höhe.

Rowlandson umklammerte seinen Arm und murmelte: «Gütiger Gott, so viel Energie, so viel Eleganz. Mr Ireland, Sie haben mir eine große Ehre erwiesen, dass ich Ihre Juwelen sehen durfte.»

«Die Ehre ist ganz unsererseits, Sir.» Samuel Ireland wollte auf keinen Fall unbeachtet bleiben.

«Sir, Sie sind ein Künstler», sagte William. «Sie verstehen.»

«Ich weiß.» Rowlandson hielt immer noch Williams Arm. «Könnten Sie mir dann etwas erklären? Der Barde behauptet, die wahrste Poesie würde am meisten erdichten – »

«Ich glaube, das steht in Verlorene Liebesmüh.»

«Meint er damit, dass wir eine Lüge bewundern?»

«Das ist nur eine von Shakespeares geistreichen Metaphern.» Rowlandson ergriff spielerisch Williams Hand. «Erdichtetes kann nie echter sein als das Wahre. Dann würde ja erneut das Chaos regieren.» Er sackte wieder auf den Stuhl und trank sein Glas aus. «Außerdem bewegt mich das nicht sonderlich.»

«Ich wollte ja nur fragen.»

«Mr Ireland, Sie sollten nicht fragen. Sie müssen uns Antworten geben. Finden Sie neue Dokumente!»

 

 

Im Lauf der nächsten Wochen kamen weitere Besucher, deren Zahl noch anstieg, als Samuel Ireland im Morning Chronicle eine Anzeige für das Shakespeare-Museum schaltete.

William hatte einige verwandte Schriftstücke entdeckt: einen Brief des Grafen von Southampton an Shakespeare; eine Vorladung, weil der Dramatiker sein Kirchgeld nicht bezahlt hatte; eine kurze Mitteilung von Richard Burbage über Bühnenrequisiten. Mittlerweile ähnelte die Buchhandlung tatsächlich einem Kuriositätenkabinett für Shakespeare-Liebhaber. William hatte persönlich kein Interesse, den Besucherstrom zu dirigieren beziehungsweise zu beaufsichtigen. Diese Rolle war für seinen Vater reserviert, der sich bei Jackson & Sohn in der Great Turnstile Street einen neuen, flaschengrünen Rock gekauft hatte. Rosa Ponting saß mit ihrer Stickerei neben der Ladentür, angeblich um Schirme und Mäntel zu bewachen, aber insgeheim hoffte Samuel Ireland doch, dass man sie mit einer Kassiererin verwechselte. Jedenfalls protestierte sie nicht, wenn man ihr ein Silberstück in die Hand drückte, das sie geschickt in ihrem großen Handarbeitsbeutel verschwinden ließ, der außerdem ihren Fächer, ihre Schnupftabakdose, ihre Geldbörse und ihr Taschentuch enthielt. Jeder Besucher wurde von ihr mit den gleichen Sätzen begrüßt: «Zur Linken befindet sich in einer Vitrine das Theaterstück, zusammen mit den Briefen. Daran schließt sich der Ladentisch mit den Quittungen und Rechnungen an. Bitte, nicht das Glas berühren und nicht auf den Boden spucken.»

Sie genoss ihre Rolle. Als Kind hatte sie ihrer Mutter in einem Obststand auf dem Whitefriars Market ausgeholfen und begeistert in das Stimmengewirr eingestimmt, das die Begleitmusik zu jedem Markttag bildete. Sie hatte «Äpfel, schöne Äpfel!» gebrüllt, bis sie heiser war. Eigentlich hütete sie die Buchhandlung samt den Ausstellungsstücken wie ihren Augapfel. Sie kannte jeden Tritt auf den Holzdielen und wusste genau, wann jemand versuchte, die Treppe hinaufzusteigen, oder hinter den Ladentisch schlich. Wenn ein Besucher auch nur wagte, das Glas anzuhauchen, riss sie den Kopf herum und funkelte den Übeltäter böse an. Shakespeare an sich war ihr egal, damit konnte sie nichts anfangen. Trotzdem freute sie sich, dass William auf diese Weise unerwartet zur Mehrung des Familienvermögens beitrug.

Und eine Familie waren sie, daran gab es für sie keinen Zweifel. In Wahrheit war sie heimlich mit Samuel Ireland verheiratet. Ein Marinepastor hatte sie in Greenwich ohne große Zeremonie getraut. Nur unter dieser Bedingung war sie in der Holborn Passage eingezogen. Williams Mutter war im Kindbett gestorben, und die Hebamme hatte den Säugling zu ihrer Schwester in Godalming gebracht. Bei dieser Familie war er bis zu seinem dritten Lebensjahr geblieben. William hatte daran keine Erinnerung mehr, und sein Vater tat nichts, um ihn darüber aufzuklären. Kurz nach seinem dritten Geburtstag hatte man ihn wieder in die Holborn Passage gebracht, wo ihn Rosa mit ausgebreiteten Armen empfangen hatte. Der kleine Junge hatte den Kopf weggedreht und geweint. Im Laden und allem, was dazugehörte, schien er sich jedoch wohlzufühlen. Wie hatte Rosa zu ihrem Mann gesagt? «Der kann mit Büchern mehr anfangen als mit Leuten.» Eigentlich fühlte sich Rosa durch Williams Verhalten verletzt und war verwirrt. Immer wenn sie versuchte, ihn liebevoll zu behandeln, stieß er sie brüsk zurück. Als er älter wurde, erkundigte sie sich, was er tagsüber alles gemacht hätte, aber er fertigte sie immer nur sehr knapp ab. Manchmal reichte es nur zu einem Nicken oder einem Kopfschütteln. Nie fing er von sich aus ein Gespräch mit ihr an, und bei den seltenen Gelegenheiten, an denen sie einmal allein waren, nahm er einfach ein Buch in die Hand oder trat ans Fenster. Und daran hatte sich im Lauf der Jahre nichts geändert.

«Man möchte meinen», hatte sie zu Samuel Ireland einen Monat nach der Eröffnung des Shakespeare-Museums beim Frühstück gesagt, « – reich mir das Pflaumenmus –, man möchte meinen, dass er eigentlich gar nicht hier lebt.»

«Er sehnt sich nach Unsterblichkeit, Rosa.»

«Was heißt das, wenn es um sein Zuhause geht?»

«Shakespeare ist ihm zu Kopf gestiegen. Jetzt wird er sich nie mehr mit etwas zufrieden geben.»

«Sammy, rede doch vernünftig.»

«Er glaubt nicht, dass er hierher gehört. Zu uns. Er befindet sich auf einer höheren Ebene.»

«Vermutlich bei Mary Lamb. Weißt du, dass sie diese Woche zweimal hergekommen ist? Um Shakespeare zu sehen. Sagt sie.»

«Rosa, sie ist eine Dame.»

«Ich etwa nicht?»

«Sie ist eine junge Dame.»

«Und eine sehr unansehnliche, wenn du mich fragst.»

«Das weiß ich, aber William gehört auch nicht zu den normalen jungen Männern. Er sieht in ihre Seele.»

«Ich wüsste gerne, welche Brille er dabei verwendet.»

«Für ihn ist sie etwas anderes. Er betrachtet sie als seine Erlösung.»

«Wovon?»

«Von uns. Horch, er ist zurück.»

Samuel hörte, wie sich unten in der Ladentür der Schlüssel im Schloss drehte.

 

 

Während der letzten Tage hatte Samuel das Kommen und Gehen seines Sohnes mit Argusaugen beobachtet. Am Vormittag zuvor hatte er sofort nach William die Buchhandlung verlassen und gesehen, wie dieser um die Ecke der Holborn Passage bog. Rasch war er ihm gefolgt. Vermutlich war William zum Haus seiner Gönnerin unterwegs, wo die Shakespeare-Manuskripte lagerten. Samuel setzte seinen ganzen Ehrgeiz daran, die Wohltäterin seines Sohnes aufzuspüren und zur Rede zu stellen.

William ging mit raschen Schritten schnurstracks in südliche Richtung eine der schmalen Gassen hinunter, die direkt auf die Strand führten. Er kannte den Weg zwischen Buden, Straßenhändlern und den vielen Fuhrwerken in der Nähe der Drury Lane in- und auswendig. Samuel schlängelte sich zwischen fliegenden Händlern hindurch, machte einen Bogen um Abfallberge und Misthaufen, wich Kindern aus, die auf der Straße spielten, und duckte sich unter Körben und Fässern, die in alle Richtungen transportiert wurden. Er hatte Mühe, William nicht aus den Augen zu verlieren. Schließlich sah er, wie dieser die Strand überquerte, und nutzte ein Gewirr von Kutschen aus, das die Straße blockierte, um den Abstand zwischen ihnen zu verringern. William betrat die Essex Street, die zur Themse hinabführte, bog dann aber nach links ab und war verschwunden.

Samuel folgte ihm so schnell wie möglich. Trotz seiner Korpulenz war er flink und beweglich. Das verdankte er teilweise den vielen Tanzstunden bei einem französischen Tanzlehrer am Russell Square, der ihm Kotillon und Polonaise beigebracht hatte. William hatte bereits den ganzen Devereux Court durchmessen, als sein Vater die Ecke der Essex Street erreichte und um die Ziegelmauer spähte. Im selben Moment stieß sein Sohn das große Holzportal auf, durch das man den Middle Temple betrat. Hinter diesem Portal lag ein großer offener Innenhof. Konnte er es riskieren, von seinem Sohn gesehen zu werden? Samuel gehörte nicht zu den unscheinbaren Menschen, aber ein Umkehren kam für ihn jetzt auch nicht mehr in Frage. Möglicherweise befand sich das Versteck mit den kostbaren Shakespeare-Blättern sogar in den ehrwürdigen Hallen des Middle Temple. Samuel drückte das Portal auf und sah sich um. Sein Sohn stand neben einem Brunnen und wandte ihm den Rücken zu. Hastig suchte sich Samuel im nächsten Eingang ein sicheres Versteck. Er hörte die Wasserfontäne ins Becken plätschern und das Gurren der am Beckenrand versammelten Tauben. Es dauerte nicht lange, dann wusste er, warum William hier verweilte. Gesenkten Blicks ging eine Frau mit Schultertuch und Haube an ihm vorbei. Es war Mary Lamb. Er erkannte sie genau. Hier trafen sie sich also zum Stelldichein.

Samuel lugte aus seinem Versteck heraus. Die beiden standen neben dem Brunnen. William deutete gerade auf die Middle Temple Hall. Hier hatte man Was ihr wollt uraufgeführt, kurz nachdem Shakespeare es verfasst hatte. Leise plaudernd spazierten William und Mary um den Brunnen herum. Samuel Ireland beschloss, sie sich selbst zu überlassen. Er hatte genug gesehen und wusste genau, dass sein Sohn nicht seine Gönnerin besuchen wollte, sondern privateren Neigungen frönte. Ein Anflug von Zartgefühl oder die Stimme des Gewissens veranlasste ihn, seine Jagd abzublasen. Er hatte nicht die Absicht, das Liebeswerben seines Sohnes mit eigenen Augen zu beobachten.

 

 

Mary und William bogen in den Pump Court ein und blieben dort stehen, um die uralte Sonnenuhr mit dem Symbol der «alles verschlingenden Zeit» zu bewundern.

«Meiner Überzeugung nach», sagte William, «wollte Shakespeare unter keinen Umständen seinem Vater nachschlagen. Er liebte ihn, aber trotzdem wollte er nicht so sein wie er.»

«Selbstverständlich wollte er nicht Metzger werden.»

«Nein, damit meine ich, dass er unter keinen Umständen scheitern wollte, auch wenn sein Vater fröhlich gescheitert war. Versagt hatte er dennoch, daran gab es nichts zu rütteln. Shakespeare hasste Schulden und das Mitleid anderer Leute.» Sie spazierten durch den Innenhof. Seitlich lag die Rundkirche der Templer. «Shakespeare besaß einen scharfen Verstand, war zielstrebig und barst vor Energie.»

«Und er war ehrgeizig?»

«Natürlich. Wie hätte er sonst so viel erreichen können? Beachten Sie den Wasserspeier über diesem Eingang.»

«Charles meint, diese Kirche wirke wie die Kulisse einer Pantomime.»

«Ihr Bruder liebt phantastische Vergleiche. Sollen wir hineingehen?»

Sie betraten den kühlen Innenraum des Rundbaus, den ein Kranz aus Ritterfiguren säumte. Mary war von diesen Skulpturen aus alter Zeit tief beeindruckt. Auf ihrem Rundgang blieb sie bei jedem Sarkophag stehen und betrachtete die in Stein gehauenen Gesichter. Sie konnte sich mühelos von flackernden Feuern erhellte Hallen aus grauer Vorzeit vorstellen, durch die Rauchschwaden zogen, wo Hunde bellten und Minnesänger auftraten. Als sie aufblickte, war William verschwunden. Er wartete auf sie im Pump Court.

«In einer solchen Atmosphäre wird man leicht andächtig», sagte er. «Trotzdem ist mir Tugend verhasst, die sich zurückzieht und vor der Welt verschließt. Diese Ritter gehören ins Freie, in die weite Welt hinaus.»

«Man kann ihnen doch keine Vorwürfe machen, weil sie sich hingelegt haben.» Sie merkte, wie wenig sie ihn kannte. «Schließlich müssen sie nach ihren vielen Abenteuern müde sein.»

Sie gingen in den King’s Bench Walk hinaus.

«Und was werden wir erreicht haben?», wollte er von ihr wissen. «Wie wird man uns in Erinnerung behalten?»

«Inzwischen wissen Sie doch wohl ganz genau, dass man Ihren Namen mit Shakespeare in Verbindung bringen wird.»

Über diese Bemerkung lachte er. «Genügt das? Glauben Sie wirklich, jemand könnte damit zufrieden sein?»

«Sehr viele Leute schon.»

«Mary, Sie verstehen mich noch nicht. Die Blätter sind nur ein Anfang. Zugegeben, sie waren ein Glückstreffer. Es war eine große Ehre zu finden, was ich gefunden habe. Aber sobald ich mir einen Namen gemacht habe, muss ich das ausnutzen und beweisen, wozu ich fähig bin.»

«Charles sagt Ihnen eine große Zukunft voraus. Seiner Ansicht nach haben Sie eine einzigartige Begabung.»

«Und wofür genau?»

«Fürs Schreiben. Er bewundert ihre Essays in den Westminster Words.»

«Es waren doch erst zwei. Mr Law hat mich um einen Artikel über Bankside gebeten. Wie es dort früher einmal war.»

Obwohl Mary ihr ganzes Leben in London verbracht hatte, hatte sie von den Stadtteilen außerhalb ihres eigenen Viertels keine klare Vorstellung. Darin unterschied sie sich nicht sonderlich von ihren Nachbarn. «Ich bin mir nicht sicher, was Sie damit meinen», sagte sie.

«Southwark. Das Südufer. Dort drüben, wo früher mal das Globe stand. Und die Bärengrube. Er möchte, dass ich die pittoreske Szenerie zur Tudorzeit im Vergleich zur modernen Zeit wiedergebe. Wussten Sie, dass bei Shakespeare das Wort ‹modern› gleichbedeutend mit ‹gewöhnlich› oder ‹trivial› ist?»

«Darf ich mitkommen?»

«Das sagt doch viel aus, Mary, oder nicht? Modern zu sein hieß in seinen Augen, banal zu sein. Uninteressant. Wir stellen uns die elisabethanische Zeit als üppig-bunten Teppich vor, aber er blickte lieber auf Lear und Cäsar zurück. Was sagten Sie gerade?»

«Darf ich Sie nach Southwark begleiten? Ich bin noch nie dort gewesen.»

«Um Himmels willen, Mary. Das ist kein gutes Viertel und außerdem schmutzig.»

«Das stört mich nicht. Hat nicht Shakespeare dort gelebt und gespielt?»

«Angeblich ja.»

«Dann muss ich es sehen.»

Sie gingen vom King’s Bench Walk zum Fluss hinunter.

«Mein Vater hat uns beobachtet», sagte er.

«Was?»

«Er ist mir nachgegangen.» William lachte. Es klang ein wenig unsicher.

«Aber es ist doch nichts – »

«Nichts zwischen uns? Ich weiß. Aber das war auch gar nicht der Grund, warum er mir nachspioniert hat. Er war auf Shakespeare aus.»

Mary erwiderte nichts. Vielleicht hatte sie sein offenes Eingeständnis, dass zwischen ihnen nichts als Freundschaft war, ein wenig bedrückt.

«Er will unbedingt den Fluss bis zur Quelle zurückverfolgen. Er traut mir nicht.»

«Er traut Ihnen nicht? Ihr eigener Vater?»

«Er hat einen seltsamen Charakter. Sobald es um Geld geht, wird er wild.» Einige Augenblicke liefen sie stumm weiter. «Er möchte unbedingt wissen, woher die Manuskripte stammen. Er betrachtet sie als Goldschatz, der in der Höhle eines Kaufmanns versteckt liegt, wie ein Relikt aus einem Märchen.»

«Und Sie sind der Prinz mit der Lampe.» Merkwürdigerweise fand sie diesen Vergleich passend. «Sie beherrschen den Geist der Lampe.»

«Holla, geschwind, und schon türmen sich die Goldmünzen um mich her. Deshalb schleicht er mir nach. Auf der Suche nach der Höhle.»

«Aber warum vertraut er Ihnen denn nicht einfach?»

«Vertrauen Sie mir denn?»

«Selbstverständlich. Wenn Sie wollen, bekunde ich auf der Stelle, dass Sie ein Ehrenmann sind. Auf Sie würde ich überall heilige Eide schwören!»

«Legen Sie dafür nicht die Hand ins Feuer.» Offensichtlich verblüffte ihn ihr heftiges Auftreten. «Sonst verbrennen Sie sich vielleicht noch die Finger.»

Am Rand des Bürgersteigs spielte eine junge Frau barfuß Geige. Ihre blassen Lippen schienen sich im Takt zur Melodie von «Gesegnete Insel mein» zu bewegen. Die Suche nach halben Pennys oder einem Heller hatte sie vom Flussufer heraufgetrieben. Ihre rechte Gesichtshälfte war durch eine Geschwulst entstellt. Verwundert betrachtete Mary die junge Frau. Dann zog sie spontan ihre Geldbörse aus dem Handarbeitsbeutel und legte sie ihr vor die nackten Füße.

Mit tränenüberströmten Wangen kam sie wieder und sagte: «Das kommt von fehlender Liebe.» Ein kleines Stück weiter passierten sie die Ruine des Templertores. «Aber was bedeutet das schon diesen Steinen?» Sie schaute hinunter, als würden die Fundamente tausend Klafter in die Tiefe reichen.

Auf ihrem Rückweg spielte die junge Frau immer noch auf der Geige. Im Vorbeigehen umklammerte Mary Williams Arm, als fürchtete sie sich vor Vergeltung. Sie spazierten in den Pump Court hinein.

Kaum waren sie außer Sichtweite, hörte die junge Frau zu spielen auf, packte die Börse, löste geschickt die Geschwulst von ihrem Gesicht und schob sie in die Tasche.